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Verslehre Grundlagen für eine Gedichtinterpretation (zunächst entworfen für Klasse 5)
Gedichte unterscheiden sich von anderen Texten vor allem dadurch, dass sie in Versen geschrieben sind. (Zeilen gehen nicht bis zum Seitenrand; das Zeilenende wird vom Verfasser festgelegt; man spricht von Brechen der Zeilen an vom Verfasser gesetzten Stellen; vgl. unten über ‚Der Vers‘)
Die Schreibart, bei denen das Seitenende das Ende der Zeile bestimmt, nennt man Prosa. Ein Text kann also in Versen oder in Prosa geschrieben sein. Es gibt zwar auch Dichtung (fiktionale Texte), die in Prosa geschrieben ist (z. B. Romane); aber ein großer Teil der Prosa ist Alltagssprache (z. B. Brief, Zeitung, Protokoll: nichtfiktionale Texte).
Die Alltagssprache neigt durch den Versuch, sich schnell allgemein verständlich auszudrücken, zur Vereinfachung, zu allgemeinen Wendungen, zu Klischees und Phrasen. Das hat den Nachteil, dass es nicht zu einem eigenständigen, individuellen, schöpferischen Sprechen und Schreiben kommt, dass nicht mit einer besonderen Sprache neue Aufmerksamkeit geweckt wird. Gedichte dagegen sind „Widerstandsnester gegen zu schnelles Verstehen“ (Wellershoff). Die dichterische (poetische) Sprache ist ein individuelles Sprechen ist, frei von Klischees und Phrasen. Damit sie individuell ist, muss sie originell und schöpferisch sein. Die Gefahr dabei: Der Wunsch nach Originalität kann dazu führen, dass diese Sprache uns fremd ist, dass sie absonderlich wirkt und unverständlich bleibt.
Beispiele für Originalität:
ungewöhnliche Personifizierung : „Der Sommer legt sich zum Sterben nieder.“ (aus A. Schweiggerts 'Zugvögel') „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (aus Paul Celan ‚Todesfuge‘) Unter 'Personifizierung 'versteht man, dass Begriffe, Sachen oder Tiere wie Personen dargestellt werden. Das Verb dazu heißt ‚personifizieren‘. ungewöhnlicher Vergleich: „wie schwarze Schneeflocken“ (aus A. Schweiggerts ‚Zugvögel‘)
ungewöhnliches Bild: “wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng “ (aus Paul Celan ‘Todesfuge’)
Der Vers Man kann statt 'Vers' auch 'Verszeile' sagen. 'Vers' kommt vom lateinischen ‚versus‘, was auch die ‚Furche‘ bedeutet, die ein Bauer mit dem Pflug zieht (Ackerfurche). Wenn er seine Furchen gerade zieht, sieht sein Feld aus wie die Seiten eines Buchs. Hält er sich an die Grenzen seines Ackers, zieht er also die Furchen von Rand zu Rand, so entspricht dem bei Texten die 'Prosa'; man spricht dann nicht von 'Vers' oder 'Verszeile', sondern nur von 'Zeile'. Hält der Bauer sich beim Furchenziehen nicht an die Grenzen seines Ackers, sondern zieht die Furchen nach seinen eigenen Vorstellungen und normalerweise kürzer (über die Grenzen seines Ackers kann er nicht hinaus), so entsprechen dem bei Texten die ‚Verse‘.
Zu den Versen gehört nicht nur, dass ihre Länge nicht durch den Seitenrand bestimmt ist, sondern auch, dass die Abfolge von betonten und unbetonten Silben in ganz besonderer Weise geregelt ist.
Betonte Silben: bei 'singen' ist die erste Silbe; bei 'Gesang' ist die zweite Silbe betont. Man nennt die betonten Silben auch 'Hebungen', weil die Stimme nicht nur lauter, sondern auch angehoben wird, wenn eine betonte Silbe gesprochen wird. Entsprechend heißen die unbetonten Silben auch 'Senkungen'. Der zeitliche Abstand zwischen zwei Hebungen (betonten Silben) entspricht ungefähr dem Abstand zwischen zwei normalen Herzschlägen.
Hat man nur eine Senkung (unbetonte Silbe) zwischen zwei Hebungen (betonten Silben), kann man recht langsam sprechen.
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muss man schneller sprechen; denn der zeitliche Abstand zwischen den betonten Silben bleibt ja gleich!
Den Vers 'Zum Kampf der Wagen und Gesänge' kann man recht langsam lesen, wenn man auch das ‚und‘ betont (dann hat der Vers vier Hebungen); man muss ihn schneller lesen, wenn man das ‚und‘ nicht betont, es als eine Senkung versteht (dann hat der Vers nur drei Hebungen).
Wenn zwei Hebungen ohne Senkungen dazwischen nebeneinanderstehen, wird besonders langsam und betont gesprochen (schwebende Betonung). Beispiel aus dem Satz ‚Stehen zwei Senkungen ...: ‚zwéi Sén ...‘; hier liegt ‚schwebende Betonung‘ vor, weil auch das ‚zwei‘ betont gesprochen werden soll, also zwei Hebungen hintereinander betont sind. (vgl. unten)
Silben werden durch ein 'x' symbolisiert, wie das Beispiel oben zeigt. Die Anzahl der 'x' muss also genau der Anzahl der Silben entsprechen (Bei dem Satz ‚Stehen zwei Senkungen zwischen zwei Hebungen’: 12 Silben).
Die Betonung der Silben kennzeichnet man durch Akzentzeichen über dem x.
Bei Versen ist, wie oben schon gesagt, der Wechsel zwischen betonten Silben und unbetonten Silben genauer geregelt als bei der Prosa.
Die einfachste Regelung ist der regelmäßige Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben (also zwischen Hebungen und Senkungen) bzw. umgekehrt: der regelmäßige Wechsel zwischen unbetonten und betonten Silben (Senkungen und Hebungen). Solche Verse, bei denen immer einer betonten eine unbetonte Silbe folgt bzw. umgekehrt, nennt man 'alternierende Verse' (lat. alternare: wechseln). Als steigend-alternierend bezeichnet man Verse, die mit einer unbetonten Silbe beginnen, als fallend-alternierend solche, die mit einer betonten Silbe beginnen.
Der erste Vers in Georg Heyms Gedicht 'Der Herbst' lautet:
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Es liegt ein alternierender Vers vor: betonte und unbetonte Silben wechseln regelmäßig ab (fallend-alternierend).
Auch der erste Vers von Mörikes 'Septembermorgen' ist alternierend; nur beginnt der Wechsel mit der unbetonten Silbe (steigend-alternierend):
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Der Takt Man teilt die Verse in Takte ein. Ein Takt beginnt immer mit einer betonten Silbe. In dem Vers von Heym haben wir also 5 Takte, die durch Taktstriche (/) abgetrennt werden. Jeder Takt hat bei alternierenden Versen zwei Silben:
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In dem oben zitierten Vers Mörikes haben wir zwei Besonderheiten: Wir haben vier Takte, aber der 4. Takt ist nicht mit zwei Silben gefüllt, sondern nur mit einer Silbe; anstelle der zweiten Silbe des 4. Takts haben wir eine Pause (p). Die zweite Besonderheit: der Vers beginnt nicht mit einem Takt, sondern mit einer Silbe vor dem ersten Takt; man spricht dabei von ‚Auftakt‘:
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Unter ‚Auftakt‘ versteht man also eine oder mehrere unbetonte Silben vor dem ersten Takt eines Verses. Da die beiden Verse ohne größere Pause hintereinander gesprochen werden, kann der Auftakt (‚noch‘) als Ersatz für die fehlende Silbe nach ‚Welt‘ im letzten Takt des vorhergehenden Verses angesehen werden.
Wenn zwei Senkungen (= zweisilbige Senkung) zwischen zwei Hebungen stehen, besteht der Takt aus drei Silben!
Es können in einer Verszeile dreisilbige Takte und zweisilbige Takte miteinander wechseln, so in Fontanes 'Herr von Ribbeck auf Ribbeck', dessen 2. und 3. Vers so zu skandieren ist (‚skandieren‘ heißt eigentlich ‚einschneiden‘; gemeint ist die Einteilung eines Verses in Takte.):
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Die meisten deutschen Verse begnügen sich mit ein- oder zweisilbigen Senkungen zwischen zwei Hebungen. Es gibt aber auch Verse, die drei oder noch mehr Silben in der Senkung haben:
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siehe unten ‚Freie Rhythmen’
Zu den traditionellen Begriffen der Verslehre Seit der griechischen Antike bezeichnet man die kleinste Einheit eines Versmaßes als Versfuß (entspricht ungefähr dem, was oben als Takt bezeichnet wurde); man bezeichnet einen Vers dann nach der Anzahl seiner Füße als zwei-, drei-, vierfüßigen Vers.
(Eine weitere Art, einen Vers zu bestimmen, ist das Zählen der Hebungen; wir sprechen dann von zweihebigen, dreihebigen usw. Versen.)
Die bekanntesten Versfüße sind der Jambus, der Trochäus, der Daktylus und der Anapäst. Mit ‚Jambus‘ bezeichnet man die Silbenfolge ‚unbetont - betont‘; mit ‚Trochäus‘ bezeichnet man die Silbenfolge ‚betont - unbetont; mit ‚Daktylus‘ bezeichnet man die Silbenfolge ‚betont - unbetont - unbetont‘; mit ‚Anapäst‘ bezeichnet man die Silbenfolge 'unbetont - unbetont - betont‘.
Der entscheidende Unterschied zur Aufteilung in Takte ist der, dass die Funktion des Auftakts wegfällt. Verse mit Auftakt, z. B.:
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werden dann anders eingeteilt:
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Jetzt ist die kleinste Einheit ein Jambus, der Vers besteht aus vier Jamben.
Die Verse in den deutschen Dramen seit Lessings 'Nathan der Weise' bestehen aus fünf Jamben:
Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. ...
Diese Verse haben keine Reime, sie heißen deshalb 'Blankverse'.)
Bei alternierenden Versen ohne Auftakt ist der Takt mit dem Versfuß ‚Trochäus‘ identisch.
Der Vers
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besteht also aus fünf Trochäen.
Der Vers
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muss, wenn der Auftakt wegfallen soll, anders eingeteilt werden:
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Der Vers besteht also aus einem Jambus, einem Anapäst und zwei weiteren Jamben.
Freie Rhythmen Nicht alle Gedichte sind in Versen geschrieben, die sich reimen und die nach bestimmten Versmaßen geregelt sind. Man spricht bei reimlosen Verszeilen von beliebiger Länge ohne planvoll geregelte Abfolge betonter und unbetonter Silben (Hebungen/Senkungen) von ‘Freien Rhythmen’. Die ‘Freien Rhythmen’ kennen auch keine feste Strophengliederung (siehe über die ‚Strophe’), wohl aber können Verszeilen in Gruppen gegliedert werden.
Die Silbenlänge als Gliederungsprinzip Das Metrum der Verse nach Hebungen und Senkungen zu bestimmen, ist nicht das einzige Gliederungsprinzip, das die Metrik kennt. Lateinische Verse z. B. werden statt nach Hebungen und Senkungen nach Länge und Kürze der Silben gegliedert, wobei die kurzen Silben genau den halben Wert der langen Silben haben. Ein lateinischer Vers kann dann wie ein Musikstück nach Takten eingeteilt werden. Ein Daktylus entspricht also in der Musik einem Viertel und zwei Achteln. Ähnlich ist es bei den mittelhochdeutschen Versen, das heißt: die einzelnen Silben gliedern sich nicht nur nach Hebung und Senkung, sondern auch - genauer als im Nhdt. - nach Länge und Kürze (siehe ‚Die Nibelungenstrophe’).
Die Strophe Die Strophe ist die Verbindung von zwei und mehr Versen zu einer (wiederkehrenden) Einheit. Es gibt einstrophige und mehrstrophige (wiederkehrende Einheit) Gedichte. Bei den mehrstrophigen Gedichten gibt es freie und feste Strophen. Bei den freien Strophen ist die Anzahl und Art der Verse je Strophe nicht gleich (z.B. bei den ‚Freien Rhythmen‘); bei den festen Strophen ist die Anzahl und Art der Verse gleich.
Früher ist mit ,Vers’ das bezeichnet worden, was heute ,Strophe’ heißt; diese Bezeichnung ist manchmal in der evangelischen Kirche heute noch so üblich.
Die Ausgänge
1. Die Kadenzen Versausgänge heißen Kadenzen. Man unterscheidet zwischen männlicher Kadenz (stumpfer Ausgang): die letzte Silbe ist betont,
weiblich Kadenz (klingender Ausgang).
Bei der weiblichen Kadenz unterscheidet man zwischen zweisilbiger weiblicher Kadenz: die vorletzte Silbe ist betont, und dreisilbiger weiblicher Kadenz: die drittletzte Silbe ist die letzte betonte Silbe. Die dreisilbige weibliche Kadenz kommt seltener vor, so dass man unter weiblicher (klingender) Kadenz normalerweise die zweisilbige Kadenz versteht.
Hölderlin ‚Hälfte des Lebens‘
1 Mit gelben Birnen hänget 2 Und voll mit wilden Rosen 3 Das Land in den See, 4 Ihr holden Schwäne, 5 Und trunken von Küssen 6 Tunkt ihr das Haupt 7 Ins heilignüchterne Wasser.
8 Weh mir, wo nehm ich, wenn 9 Es Winter ist, die Blumen, und wo 10 Den Sonnenschein, 11 Und Schatten der Erde? 12 Die Mauern stehn 13 Sprachlos und kalt, im Winde14 Klirren die Fahnen. Die Verse 1, 2, 4, 5, 7, 11, 13, 14 haben klingenden Ausgang (weibliche Kadenz), die Verse 3, 6, 8, 9, 10, 12 haben stumpfen Ausgang (männliche Kadenz).
2. Die Reime Es gibt reimlose Gedichte wie z. B. Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘; viele Gedichte sind aber auch durch den Reim charakterisiert.
Unter 'Reim' versteht man den Gleichklang mehrerer Wörter ab dem Vokal der letzten betonten Silbe. Nacht - Macht; Wal - Saal, grün - mühn; Weite - Breite; singende - klingende,
Es geht also, wie 'Wal - Saal' und 'grün - mühn' zeigen, nicht um gleich geschriebene Wörter, sondern um gleich klingende Wörter!
Da der Reim normalerweise am Ende des Verses steht, entsprechen die Reime den Kadenzen. Bei der männlichen Kadenz (stumpfer Ausgang) gibt es Gleichklang vom Vokal der letzten Silbe an; die letzte Silbe ist also die betonte Silbe (Gesang/Klang).
Bei der weiblicher Kadenz (klingender Ausgang) gibt es Gleichklang vom Vokal der vorletzten Silbe an; die vorletzte Silbe ist also die betonte Silbe (Lieder/wieder).
Bei der dreisilbigen weiblichen Kadenz (klingender Ausgang) gibt es Gleichklang vom Vokal der drittletzten Silbe an; die drittletzte Silbe ist also die letzte betonte Silbe (singende/klingende); diese Kadenz wird auch als ‚gleitende Kadenz‘ bezeichnet.
Die Reime einer Strophe werden mit Kleinbuchstaben bezeichnet; man beginnt mit a und gibt jedem neuen Reim einen neuen Buchstaben. Sich reimende Wörter bekommen den gleichen Buchstaben. Bei jeder Strophe beginnt man wieder mir ‚a’ außer beim Sonett.(Ein Sonett ist ein Gedicht von 14 Versen, dessen erste beiden Strophen, den Quartetten, aus je vier, dessen beide nächsten Strophen, den Terzetten, aus je drei Versen bestehen. Dir Reime sind strophenübergreifend; dies erkennt man dann, wenn man nicht bei jeder Strophe neu mit a beginnt, sondern über die Strophen hinweg durchgehend die Reime kennzeichnet.)
Schlussverse von Goethes ‚Faust II‘:
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Die Reime d sind männlich (stumpf), die Reime b zweisilbig weiblich (klingend), die Reime a und c dreisilbig weiblich (klingend).
Unreiner Reim ist ein Reim, bei dem Vokale oder Konsonanten in den Reimsilben nur unvollkommen übereinstimmen (z. B.: »flieht« - »blüht«, »Menschen« - »Wünschen«). 3. Die Reimfolgen Bestimmte Reimfolgen haben eigene Namen: aabbcc usw.: Paarreim abab: Kreuzreim abba: umarmender Reim aabccb usw: Schweifreim
Früher hat 'Reim' einmal das bedeutet, was heute mit Vers gemeint ist. Diese Bedeutung ist noch erhalten im Begriff 'Kehrreim' (von 'wiederkehren', 'sich wiederholen').
4. Der Kehrreim ist die Wiederholung eines oder mehrerer Verse am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer jeden Strophe (Anfangskehrreim, Binnenkehrreim, Endkehrreim).Oft meint man nur den Endkehrreim, wenn man von Kehrreim spricht
Schwebende Betonung (vergl. oben)
Mörike ,Septembermorgen’
Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen.
Das normale Maß (Metrum) der Verse dieses Gedichts sind vier bzw. drei Takte alternierender Verse mit Auftakt zu Beginn:
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Beim dritten Vers
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muss man auch das ,Bald’ betonen; aus dem Auftakt wird also eine betonte Silbe, so dass man zwei betonte Silben nebeneinander hat (was für die deutsche Sprache sehr ungewöhnlich ist). Man spricht dann von schwebender Betonung.
Wenn eine solche betonte Silbe sofort vor einer weiteren betonten Silbe steht, füllt sie einen ganzen Takt aus; wir schreiben also:
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es entsteht also ausnahmsweise ein Takt, der nur aus einer Silbe besteht.
Dasselbe gilt auch für Vers 5:
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Unterscheidung zwischen Metrum und Rhythmus Das Metrum (Versmaß) gibt eine bestimmte, vorher festgelegte Betonung vor. Die Worte in einem Satz aber haben ihre eigene Betonung, man spricht von der natürlichen Betonung.
Wenn natürliche Betonung und Metrum immer identisch sind, ergibt sich beim Sprechen ein ‘Leiern’, ‘Klappern’.
Wenn natürliche Betonung und Metrum unterschiedlich sind, entsteht zwischen beiden eine Spannung, die den Rhythmus der Verssprache ausmacht. Die schwebende Betonung ist dafür ein gutes Beispiel.
Ein anderes Beispiel: Schiller schreibt seine Ballade ‚Die Kraniche des Ibykus’ in steigend-alternierenden Versen mit vier Hebungen. Danach müsste der Vers 'Zum Kampf der Wagen und Gesänge' in folgender Weise eingeteilt werden:
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Bei der natürlichen Betonung ist das ‚und’ eher unbetont, so dass ein Gegensatz zwischen Metrum und natürlicher Betonung entsteht. (Auf die Möglichkeit, Betonungen ersten und zweiten Grades zu unterscheiden, soll hier nicht eingegangen werden.)
Von Goethes ‘Der Fischer’ heißt die 1. Strophe
Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll, Ein Fischer saß daran, Sah nach dem Angel ruhevoll, Kühl bis ans Herz hinan. Und wie er sitzt und wie er lauscht, Teilt sich die Flut empor; Aus dem bewegten Wasser rauscht Ein feuchtes Weib hervor.
Nach ‘rauscht’ im ersten Vers gibt es beim natürlichen Sprechen einen Einschnitt (eine Pause); man spricht bei der Verslehre von Zäsur. Auch sie steht in Spannung zum Metrum, weil das Metrum diese Zäsur nicht vorsieht. Der Rhythmus, der durch solche Mittel erreicht wird, kann fließend, wogend, hüpfend, tänzelnd, schreitend, drängend, gestaut, zerhackt sein; auf diese Weise ergibt sich eine pathetische (feierlich ergriffene), belehrende, gefühlvoll-innige, kühl-unbeteiligte usw. Sprechweise.
Verhältnis von Vers und Satz Wenn man sich das Verhältnis von Vers und Satz betrachtet, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
1. Der Satz bzw. die Sinneinheit ist mit dem Vers zuende: Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll,
2. Der Satz bzw. die Sinneinheit geht über das Versende hinaus: Aus dem bewegten Wasser rauscht Ein feuchtes Weib hervor.
Man bezeichnet dieses Hinausgehen über das Versende als Zeilensprung (Enjambement).
Kommt dieser Zeilensprung mehrmals hintereinander vor, spricht man von Hakenstil (vgl. 2. Strophe von ‘Hälfte des Lebens’).
Durch den Zeilensprung wird der natürliche Sprachfluss gebrochen, da man am Ende des Verses doch eine kleine Pause macht. Es ergibt sich wieder eine Spannung zwischen Metrum und natürlichem Sprechen, die normale Satzstruktur ist von der Versstruktur überlagert bzw. umgekehrt.
Besteht ein Gedicht im wesentlichen aus Versen, bei deren Ende auch die Sinneinheit beendet ist, so spricht man von Zeilenstil.
Klangcharakter von Vokalen und Konsonanten Man spricht von weichen und harten Konsonanten (weich sind z. B. b, d, g, weiches s, m l, die Kombination ng; hart sind z. B. p, t, k, scharfes s) und von hellen und dunklen Vokalen bzw. Doppellaute und Umlaute. Die hellen Vokale sind e und i und der Doppellaut ei; auch die Umlaute gelten als hell. Dunkle Vokale sind a und u, teilweise auch o.
Diese Eigenart der Konsonanten und Vokale nutzt man, um durch den Klang den Sinn des Textes zu unterstreichen (Man spricht von der Semantisierung des Klangs, der Klang bekommt eine Bedeutung (‚Semantik‘ ist die Lehre von der Bedeutung sprachlicher Zeichen).
In Heinrich Heines berühmtem Gedicht von der Loreley heißt die 3. Strophe: Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar, Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldnes Haar.
Die dunklen Vokale des 2. Verses klingen im Zusammenhang mit den weichen Konsonanten geheimnisvoll; das ‘blitzet’ malt mit dem hellen ‘i’ und dem scharfen ‘tz’ das glitzernde Funkeln des Geschmeides; die Worte ‘goldnes Geschmeide’ klingen durch den weichen Klang des g, des ld, des schm, des d und des b und durch ‘o’ und ‘ei’ weich und einschmeichelnd.
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Die Nibelungenstrophe / Verslehre
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