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Leoš Janáček (1854-1928)
Bläsersextett ‚Mládi‘ (‚Jugend‘)
Allegro Andante sostenuto Vivace Allegro animato
Stilistisch ist die Musik Janáčeks singulär, eigenbrötlerisch, wenn man so will. Wenig lehnte er sich an die Tradition an und erst recht nicht an seine Zeitgenossen, mit deren Atonalität er nichts im Sinne hatte. Sein Vorbild war die Natur: Er lauschte auf sie, zeichnete in Noten möglichst exakt den Gesang der Vögel und andere Naturlaute auf, fasste gleichsam die Natur an sich in Musik. Als ein Stück Natur empfand er auch die ‚Sprechmelodie’ der Menschen. Und so studierte er das Sprechen der Menschen seiner Heimat. „Für ihn habe die Musik, sagte Janáček, so wie sie aus den Instrumenten klänge, wenig Wahrheit. Aber wenn er dem Klang eines redenden Menschen lausche, höre er am Tonfall, was in ihm stecke, ob er lüge, ob er erregt sei. Die Sprechmelodie sei ein Fensterchen in die Seele des Menschen.“ (nach Sudbrack) Nicht die Sprache insgesamt, die ja das Wahre entstellen kann, wohl aber die Sprechmelodie als ‚ein Fensterchen in die Seele‘ könne als melodisches Material, als „vom Wortakzent geprägte Motive“ (Villa Musica) in seiner Musik eingesetzt werden. Die Oper ‚Das schlaue Füchslein‘, 1923 vollendet, ist ein wunderschönes Beispiel für Janáčeks Kompositionsweise. Ein Jahr später entstand das Bläsersextett ‚Mládi‘.
Dessen Hauptmotiv, das zur Keimzelle für alle vier Sätze wird (vgl. Reclam), ist aus der Sprechmelodie des Textes ‚Mládi, zlatè mládi‘ (Jugend, goldene Jugend) geformt:
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Der 70-jährige Janáček blickt auf seine Kindheit und Jugend zurück; das mag ein verklärender Rückblick sein: Die Heiterkeit von dreien der vier Sätze des Sextetts wird nicht immer der Wirklichkeit entsprochen haben; Leoš Janáčeks Wirklichkeit war von Armut und Entbehrung geprägt. Geboren ist er in Hochwald (Hukvaldy), einem kleinen Dorf im Nordosten der Tschechischen Republik nahe der polnischen Grenze. Er hatte zwölf Geschwister, der Vater war Dorfschullehrer und als solcher auf die freiwilligen Gaben der Dorfbewohner angewiesen. Mit 15 wurde Leoš als Sängerknabe am Augustinerstift im 160 km entfernten, damals habsburgisch-deutsch geprägten Brünn angenommen (‚Blaumeisen‘ wurden die Sängerknaben in Brünn wegen ihrer hellblauen Uniform genannt.). Die erste Zeit dort war für ihn bitter, später wurde Brünn ‚seine‘ Stadt, in der er zu Ämtern und Würden kam. Sein Heimatdorf Hochwald hat Janáček sehr geliebt. Für ihn war es eine Idylle, in die er sich zurückflüchten konnte, vor allem während seiner Jugend in Brünn.
Die fröhliche Musik des Ersten Satzes, geprägt von den Lauten der Natur, die von Bläsern sicherlich besser darzustellen sind als von Streichern, lässt ein freundliches Bild entstehen: Die Kinder von Hochwald tollen munter und ausgelassen auf der Wiese, ein kurzes Innehalten und ein wenig Gruseln vor dem Unheimlichen des nahen Walds unterbricht ab und an das Spiel.
Der Zweite Satz mit seinem langsamen Marschthema als zentrales Motiv
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lässt an den Sängerknaben des Augustinerstifts denken: Betrübt und mutlos schleicht der Fünfzehnjährige durch die Straßen von Brünn. Versuche, sich aufzuraffen, sich Mut zu machen, bleiben ohne Erfolg; auch der Gesang der Vögel kann ihn nicht ermuntern.
Die übermütige Piccolo-Flöten-Melodie des Vivace, die Janáček aus einem zuvor komponierten ‚Marsch der Blaumeisen‘ übernahm, zeigt, dass der Sängerknabe auch fröhliche Zeiten erleben durfte, wenn auch zweimal sich melancholische Töne aufdrängen wollen.
Dieser Wechsel zwischen Übermut und Melancholie bestimmt auch den Vierten Satz. Die melancholische Thematik, mit der der Satz beginnt, mag auf die Wehmut des 70-Jährigen verweisen, mit der er der Flüchtigkeit der Zeit gedenkt; ein eindringliches Aufschwung-Motiv, eine Intensivierung der Naturstimmung, der zum Wald gehörende prächtige Hörnerklang zu Beginn und beim fröhlichen Prestissimo-Ausklang zeigen auf, dass dem Komponisten auch im Alter noch die Kraft gegönnt ist, großartige Werke zu schaffen, zum Beispiel die Streichquartette, die ‚Glagolitische Messe‘, die Oper ‚Aus einem Totenhaus‘.
September 2020
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Violinsonate (1921) / Streichquartett Nr. 2 'Intime Briefe'
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