Die 'nd'-Formen
I. Das Gerundium Im Deutschen kann man den Infinitiv substantivieren, indem man ihn groß schreibt und einen Artikel voranstellt. Er ist dann ein mit einer Verbform (Infinitiv) gebildetes Substantiv (Verbalsubstantiv): das Schwimmen macht mir Freude.
Diese beiden Möglichkeiten der Substantivierung stehen im Lateinischen nicht zur Verfügung; trotzdem kennt das Lateinische den Vorgang der Substantivierung des Infinitivs: 'natare' kann also 'schwimmen' heißen und 'das Schwimmen' (Natare me delectat. - Das Schwimmen erfreut mich/macht mir Freude.)
In beiden Sprachen ist dieser deklinierte Infinitiv natürlich Neutrum und Singular. Und da er Neutrum ist, steht 'natare' nicht nur für den Nominativ, sondern auch für den Akkusativ (Natare didici. - Ich habe (wen oder was?) das Schwimmen gelernt.).
Weiter aber kann dieser substantivierte Infinitiv nicht dekliniert werden, da er keinem Deklinationsschema (a-, o-Deklination usw.) zugeordnet ist.
Als Ersatz für die fehlenden Casus ab Genitiv steht das Gerundium.
Bildungselement für das Gerundium ist -nd-, an den Stamm angehängt; es wird nach der o-Deklination dekliniert, Ausgänge sind demnach: Genitiv: -i, Dativ: -o, Akkusativ: -um, Ablativ: -o. Es stehen bei der Deklination des Infinitivs für den Akkusativ also zwei Formen zur Verfügung (natare, natandum); die Form des Gerundiums wird nur in Verbindung mit der Präposition 'ad' gebraucht: ad natandum - zum Schwimmen (Piscis ad natandum natus est. - Der Fisch ist zum Schwimmen geboren.).
Der deutsche deklinierte Infinitiv kann im Satz nur die Funktion eines Substantivs übernehmen; das hat zur Folge, dass er nur Attribute bei sich haben kann (adjektivisches Attribut: das kluge Lesen; Genitivattribut: das Lesen der Bücher).
Das Gerundium hat sich auch den Charakter des Verbs bewahrt; das hat zur Folge, dass es - wie ein Prädikat - Objekt und/oder Adverb bei sich haben kann.
Ein Objekt bei ‚ius puniendi‘ (das Recht des Strafens): ius servos puniendi; 'servos' ist Akkusativobjekt zu 'puniendi', eine wörtliche Übersetzung müsste heißen: das Recht des Bestrafens (wen?) die Sklaven. Von 'ars libros legendi' heißt die Wort-für-Wort-Übersetzung: die Kunst des Lesens (wen?) die Bücher.
Da der deutsche deklinierte Infinitiv nur Attribute bei sich haben kann, muss eine Umformung vorgenommen werden; das heißt: die Objekte werden zu Genitiv-Attributen, die Adverbien zu adjektivischen Attributen,
Eine erste Übersetzung müsste also lauten: das Recht des Bestrafens der Sklaven (bzw. 'die Kunst des Lesens der Bücher'); oft wird stattdessen der erweiterte Infinitiv mit 'zu' verwendet: das Recht, die Sklaven zu bestrafen (die Kunst, Bücher zu lesen). Hier erscheint das lat. Objekt beim Gerundium auch im Dt. wieder als Objekt! Nur ist 'zu bestrafen' (bzw. 'zu lesen') kein deklinierter Infinitiv mehr, also kein Verbalsubstantiv!
Ebenso verhält es sich beim Adverb, das beim Gerundium stehen kann: 'ars bene legendi' heißt wörtlich: die Kunst des gut Lesens; zu Deutsch: die Kunst des guten (adjektivisches Attribut) Lesens; mit erweiterten Infinitiv: die Kunst, gut zu lesen. Das lat. Adverb beim Gerundium ist auch im Dt. wieder Adverb.
'diligenter libros legendo' (Abl.) heißt in der Wort-für-Wort-Übersetzung: durch das Lesen (wen?) die Bücher (wie?) sorgfältig; in normalem Deutsch: durch das sorgfältige (adj. Attr.) Lesen der Bücher (Gen.-Attr.).
Weiteres Beispiel für die Kombination von Objekt (hier das seltenere Dativobjekt) und Adverb beim Gerundium: ars servis iuste imperandi; wörtlich: die Kunst des den Sklaven gerecht Befehlens; erweiterter Infinitiv: die Kunst, den Sklaven gerecht zu befehlen.
II. Das Gerundivum 1. Bildung Das Gerundivum hat dasselbe Bildungselement wie das Gerundium und wird nach der a/o-Deklination dekliniert: lauda-nd-us, a, um.
2. Bedeutung Das Gerundivum ist ein passives Verbaladjektiv mit futurischer Bedeutung; darum wird es auch als ‚Partizip Futur Passiv’ bezeichnet. Es drückt aus, dass etwas getan werden muss; verneint: dass etwas nicht getan werden darf. Merksatz: Das Gerundivum ist immer ein Passivum und bedeutet müssen (verneint: nicht dürfen). In diesem ‚müssen’ bzw. ‚nicht dürfen’ ist auch der futurische Sinn enthalten. Beispiel: Liber legendus est. – Das Buch muss gelesen werden.
3. Funktion im Satz a) Es gibt das Gerundivum in der Regel nur als Prädikatsnomen mit einer Form von ‚esse’ (steht also nur im Nominativ bzw. beim AcI im Akk.). Di colendi sunt. - Die Götter müssen verehrt werden. Castra custodienda erant. – Das Lager musste bewacht werden. Constat deos populo colendos esse. - Es steht fest, dass die Götter.... Amicus non deserendus est. - Ein Freund darf nicht im Stich gelassen werden.
b) Als Praedicativum steht es bei den Verben des Übergebens, Überlassens, Veranlassens (z. B. dare, mandare, relinquere, curare im Sinne von ‚lassen’) Caesar Labieno hiberna (Akk. Pl.) custodienda (Akk. Pl.) dat. Nahe am Text: Cäsar übergibt dem Labienus das Lager als ein zu bewachendes (siehe unten zu 5.). Freiere Übersetzung: Cäsar übergibt dem Labienus das Lager zum Bewachen (zur Bewachung; damit dieser es bewacht).
4. Der Dativus auctoris Beim Gerundivum als Prädikatsnomen steht die Person, von der etwas getan werden muss bzw. nicht getan werden darf, im Dativ (des Urhebers = auctoris) anstelle von a, ab mit Ablativ. Di populo (Dat. auctoris) colendi sunt. - Die Götter müssen vom Volk verehrt werden. Constat deos populo colendos esse. - Es steht fest, dass die Götter.... Amicus tibi non deserendus est. - Der Freund darf von dir nicht im Stich gelassen werden. Liber mihi legendus est. – Das Buch muss von mir gelesen werden. Ich muss das Buch lesen.).
5. Übersetzung des Gerundivums In der deutschen Hochsprache (nicht in der Dichtung und in der Umgangssprache) hat sich ein dem Gerundivum entsprechendes Partizip gebildet: zu + Partizip Präsens Aktiv; legendus – zu lesend. Dieses Partizip wird attributiv gebraucht. Beispiel: Das ist ein zu billigender Schritt. Sein anzuerkennender Fleiß ... Diese Form kann als Hilfsübersetzung des Gerundivums immer bebraucht werden: Liber legendus est. – Das Buch ist ein zu lesendes. (siehe oben 3. b)
III. Das unechte Gerundivum Das unechte Gerundivum ist ursprünglich ein Gerundium, das ein Objekt im Akkusativ bei sich hat, und wird auch wie ein Gerundium übersetzt. Beim unechten Gerundivum haben sich Gerundium und Objekt in Fall, Zahl und Geschlecht angeglichen, wobei sich vom Gerundium der Fall, vom Objekt Zahl und Geschlecht behauptet haben. ‘de fidem colendo’ (über das Pflegen der Treue) wird dann zu ‘de fide colenda’, ‘spes patriam liberandi’ wird zu 'spes patriae liberandae’, ‘libros legendo’ wird zu 'libris legendis’. ‘ars villas aedificandi’ wird zu ‘ars villarum aedificandarum’.
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