Dimitrij Schostakowitsch (1906-1975)
Streichquartett Nr. 9 Es-Dur op. 117
Moderato con moto Adagio Allegretto Adagio Allegro
Schostakowitschs Streichquartette sind oft Ausdruck des Leidens an seiner Zeit (vgl. allgemeine Einführung); das 9. Quartett aus dem Jahr 1964 bildet, wie auch das erste, in Ansätzen eine Ausnahme: Zwar waren die Zeiten düster und voller politischer Spannungen, aber Schostakowitsch war glücklich mit Irina Antonovna, die er in dritter Ehe geheiratet hatte. Und in dem ihr gewidmeten Quartett Nr. 9 wird dies spürbar. Es sprüht zwar insgesamt nicht vor Glück und Heiterkeit, sondern ist meist streng und nachdenklich, aber nicht tragisch düster wie das 8. Quartett, das „zum Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ geschrieben war.
Mit diesem 8. Quartett hat das neunte aber den formalen Aufbau gemeinsam: Die jeweils fünf Sätze werden ohne Unterbrechung gespielt – ‚attacca‘ heißt die Spielanweisung, die dazu auffordert, unmittelbar in den nächsten Satz überzugehen.
Das Hauptmerkmal des gesamten Quartetts - eigentlich aller späten Quartette Schostakowitschs - ist die Verdichtung. Alles Überflüssige und Entbehrliche wird abgestreift; die motivische Arbeit vollzieht sich in kleinsten Strukturen.
Ein erstes Beispiel für diese Art des Komponierens ist das melancholische Eingangsmotiv des Ersten Satzes:
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Dieser Erste Satz ist dreigeteilt; einem durch das melancholische Motiv geprägten ersten Teil folgt ein Mittelteil mit einem vom Cello vorgestellten munteren Motiv,
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das durch Staccato und Pizzicato tänzerischen Charakter erhält. Ein dritter Teil wird wieder durch das melancholische Motiv bestimmt; die Bratsche greift kurz das tänzerische Motiv noch einmal auf.
Der gleich zu Beginn von der Bratsche angestimmte klagende Ton
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bleibt bestimmend für das gesamte Adagio, für den liedhaften Beginn mit seinem kompakten vierstimmigen Satz und für die folgenden, teils wie improvisiert wirkenden Bewegungen, die sich in der 1. Violine über den liegenden Akkorden der übrigen Instrumente erheben. Am Ende des Satzes wird im Adagio-Tempo das spritzige Thema des nächsten gleichsam ausprobiert.
Schostakowitsch hatte eine Vorliebe für das Galopp-Thema am Ende der Ouvertüre von Rossinis ‚Wilhelm Tell‘. Mehrfach hat er es verwendet; hier, im Dritten Satz,
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trägt es dazu bei, dass dieses ‚Allegretto‘ zu einem köstlichen, rhythmisch sehr ausgeprägten Tanz voller Witz und voll von fröhlichem Schwung wird. In einem zweiten Teil wird der Rossini-Rhythmus beibehalten, aber ein neues Motiv hinzugefügt:
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Dieser Teil erfährt bis zur Mitte des Satzes eine enorme Steigerung. Ein dritter Teil bringt neue, volkstümliche Melodik, piano zu spielen, von einigen Forte-Einwürfen unterbrochen, mit Trillerketten, Glissandi und dem Rossini-Rhythmus verziert. Die Coda greift den Tanz des ersten Teils wieder auf; er erscheint aber nur noch sehr verhalten und bildet somit eine Überleitung zum nächsten ‚Adagio’.
Dieses Adagio beginnt mit den für das ganze Quartett charakteristischen kleinen Sekundschritten und ist in der Wahl der Kompositionsmittel und im Ausdruck dem ersten Adagio verwandt: Unter den Vierteln in den Sekundschritten spielen Zweite Violine, Bratsche und Cello einen breit angelegten choralähnlichen Satz – eine Erinnerung an ‚Ophelias Wahnsinn‘, eine Musik, die Schostakowitsch für eine Hamletverfilmung komponierte. Aus den Sekundschritten entwickelt sich eine kadenzartige Figur. Abgeschlossen wird dieser Teil durch Pizzicato-Akkorde der Zweiten Violine bzw. der Bratsche bei der Wiederholung dieses Teils. Eigenartig, wie sich nach der Wiederholung ein Cluster aufbaut und die Erste Violine über dem Pianissimo dieses Clusters eine Kadenz im Fortissimo spielt, die überleitet zu einigen Takten des Choralsatzes, mit dem das ‚Adagio’ begann.
Das Eingangs-Thema des grandiosen Fünften Satzes entwickelt sich aus den Sekundschritten dieses ‚Adagios’ und erfährt eine große Steigerung bis zum Einsatz eines neuen Themas: eines schwermütigen Tanzes. Das Huhn-Motiv aus Saint-Saens ‚Karneval der Tiere‘ gesellt sich hinzu:
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und beides versiegt schließlich wie im Nichts. Das Eingangsthema wird - zunächst zögerlich - wieder aufgegriffen, mit dem Tanzthema kombiniert, dann zu einer große Fuge verdichtet, die in ein Tremolo (fff) mündet. Eine Kadenz und Pizzicato-Akkorde des Cellos unter dem nun pp gespielten Tremolo, dann aller Instrumente - aus dem Vierten Satz vielleicht erinnerlich - setzen einen Ruhepunkt. Manches hat Schostakowitsch aus den ersten vier Sätzen in den fünften eingefügt , eingeschmolzen, so dass diese Zitate kaum als solche deutlich werden. Der Rossini-Rhythmus aus dem dritten Satz aber ist gut erkennbar. Er bestimmt nun zunehmend die eindrucksvolle Schlusspartie des letzten Satzes.
Dezember 2020
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Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110 / Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118
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