C. Saint-Saëns (1835-1921)
Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier d-Moll op. 75
Allegro agitato, Adagio Allegretto moderato, Allegro molto
Die Frage, ob die 1885 entstandene Violinsonate aus zwei Sätzen besteht oder aus vieren, von denen der erste und zweite bzw. der dritte und vierte ohne Unterbrechung aufeinander folgen, hat keine große Bedeutung. Entscheidend ist, dass hier eine Sonate vorliegt, die mit ihrem Elan, ihrem Schmelz und ihrer Lieblichkeit ein Beispiel ist für die klare Schönheit in der französischen Musik.
Das Hauptthema des Allegro agitato nimmt dreimal einen Anlauf – jeweils einen Ton höher - und wird erst beim dritten Mal zu Ende geführt. Violine und Klavier wechseln sich nun mit stürmischen Sechzehntel-Figurationen ab. Der Hauptthema-Bereich schließt mit einem energischen abwärtssteigenden Dreiklang-Motiv. Nach der vor allem in der Klavierbegleitung veränderten Wiederholung dieses Bereichs folgt unvermittelt eine lieblich anrührende Kantilene (Seitenthema; Abbildung aus dem 2. Teil des Satzes):
|
Diese Kantilene wird weiter ausgesponnen, bis das Hauptthema den ersten Teil des Satzes, auch ‚Exposition‘ genannt, beschließt. Der zweite Teil hat die Aufgabe, die vorgestellte Thematik durch Abänderungen in neuem Licht zu zeigen. Saint-Saëns beschränkt sich dabei auf das Seitenthema, das er fugiert abwandelt. Dieser Teil ist extrem kurz, weil schon in der Exposition die Themen in variierter Form weiterentwickelt wurden. Er schließt mit der ursprünglichen Form des Seitenthemas. Eine Überleitung führt zum dritten Teil, der die Exposition wieder aufgreift. Die zweite Hälfte des Hauptthemas wird dabei sehr verändert. Das Seitenthema erscheint nach einer dramatischen Kadenz in einer besonders passenden Gestalt: als Arpeggien des Klaviers; dann gleitet die Geige ins ‚Adagio‘ über.
Dieses Adagio ist dreigeteilt: Im ersten Teil des Rahmens (Aufbau: ABA‘) führt das Klavier das verträumte Thema ein, von der Geige wird es wiederholt. Nach einem variationsähnlichen Umspielen des Themas folgt der lebhaftere und durch eine schöne Kantilene zunächst im Klavier, bei der Wiederholung in der Geige dennoch lyrisch gestaltete Mittelteil. Der zweite Rahmenteil wiederholt nach einer versponnenen, kadenzartig gestalteten Überleitung verkürzt und stärker verziert den ersten.
Im Allegretto moderato, einem reizvollen Scherzo-Satz, stellt die Geige das tänzerisch-verspielte Thema des Rahmenteils vor (Aufbau: ABA‘). Der Mittelteil ist ähnlich gestaltet wie der des Adagios: über dem munteren Rhythmus des Rahmens erklingt eine eindringliche Kantilene. Noch eindringlicher wirkt - nach einer verknappten Wiederholung des Rahmenteils - der zum Finale überleitende Choral, auch er ist begleitet von jenem tänzerischen Rhythmus - Anklänge an Mendelssohn (op. 66) und Brahms (op. 60).
Dieses Allegro molto ist nicht nur ein Virtuosen-Kabinettstück à la Rimski-Korsakovs ‚Hummelflug‘, sondern vor allem ein musikalisch faszinierender Rondo-Satz, dessen Thema zweigeteilt ist: auf das mit der Violine beginnende Perpetuum Mobile folgt ein energischer Abschluss, der sich mit einer eindringlichen Melodie selbständig macht. Das kurze Zwischenspiel zwischen Rondo-Thema und dessen erster Wiederholung, in der nun das Klavier das Perpetuum mobile beginnt, ist durch eine aufwärtsstrebende Bewegung der Violine und durch eine von Akkorden gestützte Melodie im Klavier charakterisiert. Das zweite Zwischenstück zeichnet sich durch besonderen Schmelz der Violine aus. Einige kunstvoll barockisierende Takte leiten hin zur zweiten, gesteigerten Wiederholung des Rondo-Themas. Ihr Höhepunkt ist eine Erinnerung an das Seitenthema des ‚Ersten Satzes‘. Dann schließt der hinreißende Satz passend mit einer mitreißenden Coda.
November 2019
|