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Johannes Brahms (1833-1897)
Streichsextett Nr. 2 G-Dur op. 36
Allegro non troppo Scherzo: Allegro non troppo Poco Adagio Poco Allegro
Brahms hat häufiger seine Werke als ‚Doppelkompositionen‘ geschrieben: zusammenhängend zwei Werke von der gleichen Gattung, je zwei Sinfonien, zwei Klavierquartette in engem Zusammenhang, ebenso zwei Streichquartette; bei manchen dieser ‚Zwillingswerke‘ ist es dann auch bei der Zweizahl geblieben: bei den Cellosonaten, den Klarinettensonaten, den Streichquintetten und Streichsextetten, bei den Klavierkonzerten, Serenaden und Ouvertüren. Hans Gal schreibt dazu: „Und immer ist das nachfolgende Werk noch reicher, seine Technik noch sicherer, seine Form noch freier und großzügiger.“
Dies gilt auch für die beiden vier Jahre auseinanderliegenden Sextette. Auch hier ist das im September 1864 und im Mai 1865 (das Finale) in Lichtenthal entstandene zweite Sextett „entschieden das feinere, kunstreichere und persönlichere“ (Niemann). Vielleicht ist dies der Grund, dass Brahms für dieses Werk zunächst keinen Verleger fand. Ein weiterer Grund für die Ablehnungen war sicher auch, dass die vielstimmige Besetzung, die nicht durch eine Gattungstradition gestützt war, keinen guten Verkauf versprach.
Der sanfte, elegische Erste Satz gehört nach Walter Niemann „zum Wunderbarsten, was Brahms für Kammermusik geschrieben“ hat. Geheimnisvoll steigt das Hauptthema auf über den Achtelbewegungen G-Fis von Viola I.:
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32 Takte lang entfaltet sich dieses so innige Thema über jenen Achtelbewegungen. Clara Schumann schreibt an Brahms, nachdem sie als Erste das Manuskript erhalten hatte: „Das Thema (sie meint diese Achtelbewegungen) könnte dir wohl gestohlen werden, aber was finge einer wohl damit an, der nicht versteht wie Du, es so aufs reizendste und geistvollste mit Motiven zu umkleiden, die immer darum herum spielen und sich ineinander schlingen wie eine Kette lieblicher Gedanken. Mir ist die Stimmung dieses Satzes außerordentlich lieb, so weich und sanft.“ Eine breite energischere Überleitung führt zum verhalten jubelnden Seitenthema, zuerst vom Ersten Cello, dann von der Ersten Geige vorgestellt:
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Den Abschluss des Eingangsteils dieses klassischen Sonatensatzes (Exposition) bildet ein Motiv, mit dem Brahms auf seine Liebe zu Agathe von Siebold hinweist:
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Agathe war die Tochter eines Göttinger Universitätsprofessors, die Brahms seit 1858 kannte und die vielleicht die große Liebe seines Lebens war - Clara jedenfalls war sehr eifersüchtig auf sie.Das ‚t‘, zu dem es keine entsprechende Note gibt, ersetzt Brahms durch ein ‚d‘. Dieses Agathe-Motiv findet sich auch in einem Lied für Frauenchor, das Brahms vor dem Sextett komponiert hat, und zwar zu dem Text: Und gehst du über den Friedhof, da findst du ein frisches Grab; da senkten sie mit Tränen ein schönes Herz hinab.
Und fragst du, woran es gestorben, kein Grabstein Antwort gibt; doch leise flüstern die Winde: es hat zu heiß geliebt.
„Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht“, sagte Brahms einem Freund über das Aufgreifen des Agathe-Motivs und lebte sein weiteres Leben nach dem Motto des ‚verehrten und geliebten Freundes Joseph Joachim‘: F. A. E. (Frei, Aber Einsam). Von besonderer Schönheit ist der Übergang zum Mittelteil des Satzes (Durchführung). Diese Durchführung ist im Wesentlichen geprägt von jenen Achtelbewegungen, mit denen die Viola I den Satz begonnen hatte, und den ersten vier Takten des Hauptthemas. Clara Schumann schreibt über diese wunderbare Musik des Mittelteils an Brahms: „Die Durchführung hat mich auch wieder entzückt - auf die kann man sich bei Dir noch immer ganz besonders freuen - sie sind nicht wie bei anderen das Resultat geistreicher Kombinationen, bei denen mehr oder weniger das eigentliche Empfinden in den Hintergrund gedrängt wird, sondern es ist immer, als ob erst da bei Dir alle Motive zur innersten wärmsten Aussprache kämen und das ist dann so ganz entzückend.“ Der dritte Teil des Satzes, die Reprise, greift mit wenig Veränderung den ersten wieder auf.
Das Scherzo mit seinem durch Pralltriller verzierten, sehr verhalten klingenden Thema widerspricht völlig den Erwartungen an ein Scherzo. „Kaum tanzähnlich, meist lyrisch-versponnen und nachdenklich“ (Reclam), von gedämpfter Stimmung, mit seinen Fugierungen ein wenig archaisierend – so erscheint es in den Außenteilen. Der Mittelteil (das Trio) liefert freilich dann mit seinem frisch-forschen Walzer (Presto giocoso) den Scherzo-Ton nach.
Das ebenfalls lyrisch-versponnene 12-taktige Variationen-Thema des Adagios, dem fünf Variationen und eine Coda folgen, ist nach dem Aufbau-Schema A B A' in drei mal vier Takte eingeteilt. Das A-Thema besteht aus zwei Quartschritten aufwärts; begleitet werden sie von chromatischen Abwärtsbewegungen der Zweiten Geige:
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Indem diese chromatische Abwärtsbewegung die 12 Takte der ersten Variation prägt, entsteht eine ungemein eindringliche Klage. In der zweiten Variation halten Cello II und die übrigen Instrumente kurze Zwiesprache miteinander; die dritte (Più animato) wirkt energisch durch ein in die Oktav aufspringendes Motiv. Diese Oktavsprünge bestimmen auch die vierte Variation. Der zarte, melancholische Fluss der ruhigen Sechzehntel in der fünften, der Dur-Variation, und die molto espressivo zu spielenden Achtel der Ersten Geige in der Coda hellen den bis dahin von Moll-Stimmung geprägten Satz ein wenig auf.
Das Finale holt mit seinem Eingangsthema den Scherzo-Ton nach: es erinnert an eine ‚Elfen-Musik‘, wie Mendelssohn sie liebte. Unmittelbar nach dem Hauptthema setzt eine wunderschöne, ruhig wiegende, weit schwingende Melodie ein - zwar ‚nur‘ ein Seitenthema, aber doch die Seele des Satzes:
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Nach einer Wiederholung des Hauptthemas fällt ein weiteres Thema durch abwärtsfallende Quintsprünge auf. Der kurze Mittelteil des Satzes zeigt die bisher vorgestellten Themen in neuem Gewand: das ‚Elfen-Thema‘ wird fugiert vorgeführt, das erste Seitenthema mit auffälligen harmonischen Veränderungen. Der dritte Teil kehrt zum ersten zurück; dabei wird aber das Hauptthema ausgelassen, es wird für den Ausklang (die Coda) aufgespart, in dem es sich, von Andeutungen des Seitenthemas unterbrochen, zum Fortissimo der Abschlussphrase steigert.
Mai 2021
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Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18
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