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in Diss. zitierte Literatur
Vortrag













Meine Damen und Herren,
Bevor ich zum angekündigten Thema komme - 'Das Gottes- und Menschenbild im 'Parzival' des Wolfram von Eschenbach', und nicht nur im 'Parzival', sondern als Verdeutlichung auch in anderen Werken -, möchte ich kurz in Leben und Werk Wolframs einführen, insbesondere in seinen ‚Parzival’, eine der genialsten Dichtungen deutscher Sprache.

(Wolframs Leben und Werk)
Wir wissen von Wolfram nur aus Andeutungen in seinen Werken.
Geboren ist er irgendwann zwischen 1170 und 1180. Da man nichts Genaues weiß, kann ich hier behaupten: Es war das Jahr 1177. Gestorben ist er um 1220, allzu früh, schreibt 60 Jahre später ein Kollege. Sein wahrscheinlicher Geburtsort, Ober-Eschenbach (35 km südwestlich von Nürnberg),
heißt heute ‚Wolframs Eschenbach’.

Ich stelle mir vor, ein Teil des ‚Parzival’ sei auf der Burg Wildenberg bei Amorbach im Odenwald geschrieben. Das liegt gut 100 km von Wolframs Geburtsort entfernt.





Der Kamin im Palas dieser Burg, den Sie hier sehen – mit neun Quadratmeter Feuerfläche der größte, der aus jener Zeit erhalten ist –, sichert diese Vermutung ein wenig ab.

Hier ist nun Ihre Fantasie gefordert.
Versetzen Sie sich in die Zeit kurz vor 1200, nehmen wir an, es ist das Jahr 1197: Im neuerbauten, großartigen Palas der Burg Wildenberg mit den Ausmaßen von 23 x 9 Metern steht der 20-jährige Wolfram vor dem Hausherrn, dem Grafen Ruprecht von Dürn, und dessen Gästen, den Adligen aus der Umgebung, vor allem vor deren Frauen, denn die Männer waren ja wegen kriegerischer Unternehmungen viel unterwegs und an Kultur entsprechend weniger interessiert. Vielleicht ist sogar Philipp von Schwaben dort, dem Ruprecht oder dessen Sohn Ulrich helfen soll, deutscher König zu werden; das wurde er auch, ebenfalls 20-jährig, ein Jahr später, also 1198.
So alt wird auch Parzival gewesen sein, als er Gralskönig wurde. Die Menschen waren damals früher auf dem Höhepunkt ihres Wirkens, notgedrungen, denn sie starben auch wesentlich früher als heute.

Man wärmt sich im Palas am Kamin, auf den der Hausherr sicher recht stolz ist, und Wolfram rezitiert - wohl auswendig - aus dem ‚Parzival’ über die Gralsburg die Stelle, wo deren drei riesige Feuerstellen aus Marmor beschrieben werden.

Dieses Szenario, das ich hier konstruiere, setzt voraus, dass Wolfram sein Werk, an dem er wohl 10 Jahre lang geschrieben hat, mit der Darstellung der Gralsburg begann, angeregt vielleicht durch die Burg Wildenberg. Jedenfalls trägt er vor, den Kamin von Wildenberg im Blick:

sô grôziu fiwer sît noch ê
sach niemen hie ze Wildenberc
jenz (jenez) wâren kostenlîchiu werc. (230,12ff.)

„So große Feuer sah man nie hier zu Wildenberg. Das waren kostbare Kunstwerke.“

Wolfram konnte sich offenbar solche Scherze leisten und im Vergleich mit den drei Marmorkaminen der Gralsburg den prächtigen Kamin von Wildenberg ein wenig bespötteln.

Ein weiteres Indiz, dass Burg Wildenberg ihn inspiriert hat und Teile des ‚Parzival’ dort geschrieben wurden: Von der Gralsburg heißt es: ‚Munsalvæsche ist si genant’ (251,2). Wolfram hat – so vermutet man - ‚Wildenberg’ ins Französische übersetzt – Mont sauvage – und ein wenig verfremdet; das Ergebnis: ‚Munsalvæsche’. Möglicherweise hat er auch an Mont salvage gedacht, das heißt: Heiliger Berg.

Ich stelle mir auch vor, dass der Erbauer und Herr dieser Burg, Graf Ruprecht, die Literatur liebte und darum dem Dichter für einige Jahre ein Dach über dem Kopf gab und ihn förderte, ihn wohl auch auf die Parzival-Geschichte überhaupt erst verwiesen hat. Die Mönche vom nahen Amorbach haben dann auf zu Pergament verarbeiteten Kuh- oder Kalbshäuten geschrieben, was Wolfram ihnen auf seinen Wachstäfelchen vorlegte.

1204 finden wir Wolfram auf der Wartburg in Thüringen.

Soviel man weiß, waren die Lebensumstände Wolframs ansonsten einfach, wenn nicht beschränkt. Die Mäuse haben Mühe, satt zu werden bei mir zu Hause, so schreibt er, und für ihn selbst reicht es überhaupt nicht. „Allzu oft geschieht mir, Wolfram aus Eschenbach, dies, dass ich solch Wohlleben erdulde.“ –
so charakterisiert Wolfram seine Situation voller Ironie.

Arm war er also wie so mancher Dichter. Aber als Dienstmann eines Lehnsherrn, vermutlich des Grafen von Wertheim, durfte er sich Ritter nennen und war stolz auf diesen Stand. Und er war stolz darauf, dass er als Autor dem Latein der Mönche, die sozusagen die Profis des Literarischen waren, sein weltliches Deutsch entgegensetzen konnte.

(Das Übersetzungsproblem)





Zweifellos ein Dichter von allerhöchstem Rang und im Mittelalter auch von größter Wirkung; der 'Parzival' ist gleichsam ein Bestseller des Mittelalters – von ihm sind die meisten Handschriften deutscher Dichtung überliefert. Man kennt 16 - annähernd - vollständig erhaltene Handschriften und 68 Fragmente.
Berücksichtigt man den immensen Verlust an Handschriften, kann man das Erhaltene auf 1000 Handschriften hochrechnen. Sogar einen frühen Buchdruck mit mehreren Auflagen hat der ‚Parzival’ erlebt – als einziger Versroman des Mittelalters. Das war Ende des 15. Jahrhunderts.

Dann geriet das Werk in Vergessenheit; die Gebildeten hatten sich vom Mittelalter ab und der Antike zugewendet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es neu entdeckt.

Heute ist Wolfram erneut nahezu vergessen; denn seine Texte - neben dem ‚Parzival’ zwei weitere große Verserzählungen, der ‚Titurel’ und der ‚Willehalm’, die leider Fragment geblieben sind, und 9 Lieder - diese Texte können nur noch von Fachleuten gelesen werden.

Sie haben ja schon einige Verse aus dem ‚Parzival’ gehört, und ich werde auch noch einige mehr aus unserem Roman zitieren und Sie werden es hören: Die Sprache, die er schrieb, ist zwar Deutsch, aber ein Deutsch, das in den 300 Jahren zwischen 1050 und 1350 geschrieben wurde – Mittelhochdeutsch nennt die Wissenschaft diese Sprache –; danach kommt das Neuhochdeutsche, das sich bis heute nicht mehr grundlegend geändert hat; vor dem Mittelhochdeutsch schrieb man – seit der Mitte des 8. Jahrhunderts – Althochdeutsch - ‚Mittelhochdeutsch’ also in der Mitte zwischen Alt und Neu.

800 Jahre haben die deutsche Sprache so verändert, dass die Mittelhochdeutschen Texte Nicht-Fachleuten heute nur durch Übersetzungen zu vermitteln sind – zur Schulbildung gehört das Lesen des Mittelhochdeutschen schon länger nicht mehr.

Und die Übersetzungen sind höchst problematisch – problematischer als die von fremdsprachigen Texten. Das liegt an der Nähe, die trotz der 800 Jahre zwischen dem Deutsch Wolframs und unserem Deutsch besteht.

Viele Wörter sind äußerlich relativ gleichgeblieben. In ihrer Bedeutung aber haben sie sich verändert.
Ein Schlüsselwort des Romans z. B. ist ‚zwîvel’; langes i wird zu ei - ‚Zweifel’ also; aber man kann nicht einfach ‚zwîvel’ und ‚Zweifel’ gleichsetzen, denn ‚zwîvel’ bedeutet auch ‚Hoffnungslosigkeit’, ‚Verzweiflung’.

Noch deutlicher wird das Problem bei einem Kernbegriff des mittelalterlichen Rittertums: bei dem Begriff ‚zuht’. Wir denken bei ‚Zucht’ an ‚züchtigen’, an ‚Zucht und Ordnung’. Im Mittelhochdeutsch bedeutet ‚zuht’ ein Bildungs-, ein Lebensideal, das durch eine Fülle von ethischen Werten näher bestimmt ist, z. B. durch Anstand, Höflichkeit, Liebenswürdigkeit, durch Großherzigkeit, Barmherzigkeit, Güte, Mitleid und Menschenfreundlichkeit. All das bedeutet ‚zuht’; und so wundert es nicht, dass Wolfram nicht nur seinen Helden, sondern auch Gott die ‚zuht’ zuspricht.

So ist das mit den Bedeutungsveränderungen. Trotzdem ist man versucht, die mittelhochdeutschen Wörter beim Übersetzen zu übernehmen, vor allem, wenn sie im Reim stehen. Und es sind 25 000 gereimte Verse, die bei diesem Riesenwerk übersetzt werden müssen; und da ist die Versuchung groß, die Reimwörter Wolframs einfach zu übernehmen – wegen der Bedeutungsveränderung oft mit fatalen Folgen.

Mittlerweile verzichtet man beim Übersetzen auf die Reime, hält aber den Rhythmus der kurzen vierhebigen Verse bei – so der von mir sehr geschätzte Kölner Schriftsteller Dieter Kühn, dessen Einführung in Leben und Werk Wolframs ich beachtlich finde und gerne für diesen Vortrag genutzt habe, dessen Übersetzung aber nicht nach meinem Geschmack ist.

Andere verzichten auch noch auf diesen Rhythmus, dann haben wir einen Roman in der Sprache, wie sie für die Romane der Neuzeit üblich ist, in Prosa. Verglichen am Original sind diese Prosa-Übersetzungen aber ebenfalls höchst unbefriedigend: die schöne klangvolle Gestalt ist verschwunden.

Eine weitere Schwierigkeit beim Übersetzen ist der eigenwillige Stil Wolframs. Sein Zeitgenosse und Dichterkollege Gottfried, der Autor von ‚Tristan und Isolde’, hat gemeint, Wolfram würde auf der Heide der Worte Haken schlagen wie ein aufgescheuchter Hase. Man brauche beim Lesen immer noch einen, der das erklärt, was Wolfram geschrieben hat. Tatsächlich tappt man bei vielen Versen auch heute nach 230 Jahren Forschung noch im Dunkeln, wenn man ihre Bedeutung etwas auflichten möchte.

Als ich vor etwa 40 Jahren an meiner Doktorarbeit über den ‚Parzival’ schrieb, hatte ich mir gedacht, im Rentenalter diesen Roman zu übersetzen, und zwar im Stil der Romane Thomas Manns; denn als den Thomas Mann des Mittelalters könnte man Wolfram wohl bezeichnen, die Erzähltechnik (z. B. Einbeziehen des Lesers/Hörers), die Distanz zum Stoff, Humor und Ironie und manches andere sind sehr ähnlich. Ich bräuchte für eine Übersetzung aber mehrere Rentenalter oder dürfte nichts anderes mehr tun als mich in die Welt dieses Romans zu verkriechen. Also lasse ich es.

(Bedeutung des Namens ‚Parzival’)

Dass der Name des Helden von Wolframs Roman doch noch bei einigen im Bewusstsein ist, liegt an Fassungen des ‚Parzival’ für Kinder, aber vor allem an Richard Wagners 1882 uraufgeführten Oper ‚Parsifal’.

Wagner schreibt den Namen mit ‚s’ und ‚f’; er hatte bei Joseph Görres gelesen, dass sich in diesem Namen ein persisches ‚fal parsi’ verberge, was soviel wie ‚reiner Tor’ bedeuten soll. Wolfram schrieb ‚Parzival’ mit ‚z’ und ‚v’, das ähnlich wie unser ‚w’ gesprochen wird; er hat den Namen und die Erzählung um den Namensträger einem altfranzösischen Roman entnommen; dessen Verfasser: Chrétien de Troyes, Christian aus der Stadt Troyes in der Champagne.

Bei Chrétien heißt der Held ‚Per - ce - val’; das bedeutet: ‚Durch(dring) dieses Tal’. Wolfram übernimmt diesen Namen, leicht verändert, und umschreibt ihn mit ‚rehte enmitten durch’ (140,16). Damit ist nicht gemeint, dass Parzival ein Draufgänger war; wohl aber, dass er tapfer und beharrlich seinen oft sehr schwierigen Weg geht.

(Der Gral)
Und mit dieser Charakterisierung sind wir auch schon mittendrin, sozusagen am Kern der Geschichte, den zu knacken nun aber einige Mühe kostet.

Das fängt an mit der Deutung dessen, was der Gral ist: der Abendmahlkelch oder der Kelch, in dem Joseph von Arimathäa das Blut Christi auffing (so bei Robert de Boron) - also ein christliches Symbol?

Wolfram denkt beim Gral an Märchenmotive, an das ‚Wasser des Lebens’, an einen Jungbrunnen und an das ‚Tischleindeckdich’; ein ‚Ding’ nennt er es und einen Stein, eine Art ‚Stein der Weisen’.

Dass Wolfram im Gral nicht einen Kelch sah oder eine Schale, wie es in seiner Vorlage, jenem altfranzösischen Roman, steht, ist der Versuch, Kirchliches weitgehend aus seinem Roman herauszuhalten: Wolfram fühlte sich als Ritter, nicht als Vertreter der Kirche. Und so schreibt er:

daz was ein dinc, daz hiez der Grâl,
Das war ein Ding, das hieß der Gral

erden wunsches überwal.
‚was alle Vollkommenheit der Erde übertrifft’.

Der Gral ist für Wolfram zwar nicht ein kirchliches, aber doch ein christlich-religiöses Symbol,
Symbol nämlich für die Liebe und Gnade Gottes. Indem am Karfreitag die Taube eine Hostie auf jenen Stein legt, kommt die unendliche Fülle Gottes zu den Menschen. So ist im Gral den Menschen das göttliche Leben des Paradieses, das verloren war, wiedergekommen.

Auch die Wirkung des Grals weist darauf hin, dass er Symbol göttlichen Lebens ist: Er teilt sich in vielfältiger Fülle mit, alle können von ihm leben. Wie bei der wunderbaren Brotvermehrung des Neuen Testaments gibt dieses eine Brot, das die Taube auf den Stein legt, Speise für alle. Wer den Gral anschaut, kann für eine Woche nicht sterben; er hat teil am göttlichen Leben.

Der Gral bedeutet als Ding die Gnade Gottes, die objektive Wirklichkeit von Gottes Wirken in der Welt. Von Seiten des Menschen bedeutet der Gral die Erfahrung dieses gnadenvollen Wirkens, nämlich Lebenserfüllung, Lebensglück, des Menschen letztes und höchstes Ziel. Die Suche nach dem Gral ist also die sehnsuchtsvolle Suche nach Erfüllung.

Manche meinen ja auch heute, diesen Gral gebe es in der Realität; und man geht – wahrscheinlich aufgrund einer verstärkten Lebensangst - wieder auf Gralssuche, vor allem in esoterischen Kreisen; man sucht immer noch konkret nach einer Schale oder einem Kelch, lässt sich auch nicht abhalten von Wolframs Hinweis, dass der, der den Gral sucht, ihn nicht finden wird.

Wolfram meint dies nicht desillusionierend wie Bertolt Brecht in seinem ‚Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens’:

Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.

(Das Problem der Glückserfüllung)
Wenn Wolfram über die Gralsburg schreibt:

swer die suochet flîzeclîche,
leider der envint ir niht. (250,26f.)

‚Wer die mit Vorsatz sucht, wird sie leider nicht finden.’
meint er dies sicher anders als Brecht. Wenn wir wissen, wie er es meint, dann wissen wir auch, wie seiner Vorstellung nach jemand sein Lebensglück, seine Lebenserfüllung finden kann.

Ich erinnere an die Namensbedeutung von ‚Parzival’: ‚rehte enmitten durch’. Hier deutet Wolfram eine erste Voraussetzung für ein gelungenes Leben an, den ‚unverzaget mannes muot’. Gemeint ist mit dem unverzagten Mannesmut, den auch Frauen haben können, wie Wolfram ausdrücklich feststellt (2,23ff.):
der Mensch folgt tapfer und beharrlich dem Ziel, zu dem er angelegt ist, das ihm von Gott bestimmt ist.
Goethe meint im ‚Faust’ Ähnliches: Wer immer strebend sich bemüht, der findet Erlösung, auch wenn er dabei zeitweilig in die Irre geht; die Stärke des ‚unverzaget mannes muot’ zeigt sich gerade dann, wenn der Mensch, im Irrtum befangen, dennoch beharrlich und tapfer auf sein Ziel zugeht.

Jeder ist seines Glückes Schmied – sagt das vereinfachende Sprichwort.

So einfach ist es freilich nicht; das Lebensglück lässt sich nicht ohne Weiteres schmieden; man kann den Gral nicht mit vlîz erstrîten, sagt Wolfram.

Ich beispielsweise vermute von meinem Lebensweg, dass ich in manchen Situationen einfach Glück gehabt habe – Glück nun in einem anderen Sinn als im Sinne von Lebensglück, eher im Sinne von ‚Zufall’, blindem, aber glücklichem Zufall. Man begegnet z. B. den richtigen Menschen; man entkommt relativ heil gefährlichen Situationen.

Gläubige, abergläubige Menschen sagen dann: Da hast du einen Schutzengel gehabt.

Und religiöse: Da war Gottes Hand über dir.

(Das Wirken Gottes – dargestellt an Märchenmotiven)
Und die Zeit Wolframs war tiefreligiös. Der Glaube, dass Gottes Hand über einem ist, dass Gott einen leitet, das Vertrauen in die gütige Lenkung jeden Geschicks durch Gott war völlig selbstverständlich.

Wie aber kann dieses Eingreifen, dieses Wirken Gottes in einem Roman dargestellt, anschaulich gemacht werden?

Anschaulich sind die Märchenmotive, die mit der Gralssuche verknüpft sind. Etwa zur rechten Zeit das Geforderte tun, ohne dass der Märchenheld - hier der Gralssucher Parzival – weiß, wann seine Stunde gekommen ist, ohne dass er gesagt bekommt, was das Geforderte ist; ja er darf gar nicht wissen, was von ihm gefordert ist, und er darf es nicht einmal tun wollen (nicht mit vlîz erstrîten): es muss sich von selbst ergeben.
Wer den Gral sucht, kann ihn nicht finden; das Wort ‚Suche’ ist nun also immer in Anführungszeichen zu denken. Wer von sich aus zur Gralsburg will, der scheitert. Es gilt nicht das Wollen des Menschen im Sinne von ‚ich finde es’, sondern nur sein Offensein: ‚es findet mich’ oder eben auch nicht.

Diese Märchenmotive, jetzt theologisch gedeutet, sagen alle nur das eine: Dem Menschen ist jede Möglichkeit genommen, sein Handeln zu bestimmen, er vermag von sich aus nichts: Er kennt nicht die rechte Zeit, die Zeit des Heils kennt nur Gott. Er weiß nicht, was das Rechte in diesem Moment ist;
also ist es in Gottes Hand gelegt, ob der Mensch das Rechte tut. Der Mensch ist absolut abhängig vom Wollen Gottes: zum Gral kommt nur, wer von Gott ‚benant’, berufen ist. Der Mensch kann die Berufung nicht herbeiführen; doch wenn er berufen ist, wird seine Sehnsucht ihn antreiben, das Ziel, zu dem er berufen ist, zu erreichen.

So wird durch die Märchenbedingungen der Gralssuche anschaulich gemacht: Gottes Hand ist über dem Menschen, immer und auf allen seinen Wegen; das Glück des Menschen ist Geschenk Gottes.

Und wenn auch manchem nichts geschenkt wird, so mag es ja wirklich so sein, dass das Schöne, das wir erfahren, ein Geschenk ist. Die Frage, die dann sich stellt: Was ist mit denen, denen nichts geschenkt wird? Und vor allem: Was ist mit dem Unglück und dem Hässlichen? Ist das auch ein Geschenk?

(Der Weg Parzivals bis zur ersten Begegnung mit dem Gral)
Die Antworten, die Wolfram gibt, können Sie erfahren, indem Sie mir ein Stück weit folgen bei der Darstellung von Parzivals Leben, zunächst bis zu dem Zeitpunkt, wo er die Gralsburg findet, oder - wir wissen es nun besser - sie ihn findet.

Parzivals Leben füllt übrigens nur einen Teil des Romans aus; der Roman hat noch einen zweiten Helden, Gawan, der fast ebenso viel Verse in Anspruch nimmt wie Parzival und der das auch wert ist:
ein treuer Freund und liebevoller Bruder; hilfsbereit, wo er gebraucht wird, voller Güte, wo er hilft; und vor allem: voller Verständnis; er versteht jedes Unglück, jedes Leid, jede Verbitterung – die Idealgestalt eines christlichen Ritters.

Und wie sich das für einen richtigen Roman gehört, hat er auch noch eine Fülle von Nebengestalten und Randfiguren, von deren Schicksalen Wolfram liebevoll erzählt. Eigentlich haben diese Nebenfiguren alle das gleiche Schicksal, dass sie nämlich der Liebe nicht gewachsen sind.

Dieses Thema der Liebe als die in Verblendung führende Macht, als eine unentrinnbare Verwirrung des Gefühls durchzieht wie ein Leitmotiv den gesamten Roman, so als hätte Wolfram hier eine persönliche Lebenserfahrung verarbeiten müssen.

‚rehte enmitten durch’ - das ist für Wolfram die Bedeutung des Namens ‚Parzival’ und der Charakter-Kern seines Helden. Geerbt hat Parzival diesen Wesenszug von seinem Vater Gahmuret. Der war ein Königssohn, aber der zweitgeborene und ohne Erbe. So konnte er seiner ruhelosen Sehnsucht nachgeben, in tapferer Bewährung sein Glück zu suchen. Er findet es im Orient, indem er der schwarzhäutigen Königin Belacane gegen ihre Belagerer hilft. Er heiratet sie, zeugt einen Sohn, Feirefiz mit Namen (lateinisch: varius filius); der ist schwarz-weiß gescheckt. Das ist symbolisch gemeint und steht für die Auflösung der Spannung zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum, für den Dialog zwischen diesen Religionen, für gegenseitige Toleranz der beiden großen Kulturkreise, für eine große Menschheitsfamilie – ein wichtiges Thema unseres Romans und ein hochaktuelles dazu. Gahmurets ruheloses Herz treibt ihn weiter, zurück in den Westen; bei einem Turnier gewinnt er die Hand der Königin Herzeloyde, der Tochter des Gralskönigs Frimutel, zeugt wieder einen Sohn, nämlich Parzival, zieht wieder auf Ritterfahrt in den Osten und stirbt durch einen vergifteten Speer.

Herzeloyde trauert verzweifelt und zieht sich mit ihrem Sohn aus der höfischen Welt in die Waldeinsamkeit Soltane zurück; ihr Sohn soll ihr nicht auch noch Herzeleid bringen, indem er in die Welt zieht und sich den Gefährdungen aussetzt, die mit der Ritterschaft verbunden sind. Deswegen hält sie ihn dumm und unwissend.

Vergeblich: Als ihm im Wald Ritter begegnen, ist sein Drang, selbst Ritter zu werden, so stark, dass Herzeloyde ihn nicht halten kann. Sie steckt ihn in ein Narrenkleid, damit er verlacht wird und wieder zu ihr zurückkommt; aber sie hat kaum Hoffnung, dass er zurückkehrt. Darum belehrt sie ihn noch über das rechte Verhalten in der Welt draußen, z. B. darüber, dass er freundlich auf die Menschen zugeht, warnt ihren Sohn ganz allgemein vor den Gefahren, die ihm in der Welt begegnen werden, und lässt ihn ziehen.

Diese Belehrung freilich versteht er in seiner Naivität falsch; aus einem ‚freundlich auf die Menschen zugehen’ wird dann eine Art Vergewaltigung. Und so macht der unerfahrene Junge notwendigerweise schreckliche Fehler. Aber er gibt nicht auf.

Er wird dann doch noch von einem väterlichen Freund ritterlich-höfisch, d. h. zu einem menschlichen Verhalten erzogen, erringt sich – wie sein Vater – eine Frau, indem er sie aus der Hand ihrer Feinde rettet – und ist nun der starke Held, der vorbildliche Ritter, der Schönste unter den Menschenkindern, wie Gawan die Verkörperung eines Ideals, von dem der Begriff ‚Ritterlichkeit’ noch eine Ahnung gibt und das von der Wirklichkeit der Ritter, denen Wolfram seinen ‚Parzival’ vorträgt, weit, weit entfernt ist.

Ein noch ferneres Ideal ist das des Gralsrittertums - möglicherweise standen Wolfram dabei die Tempelritter vor Augen, deren Rittertum und Mönchstum vereinende Orden 80 Jahr zuvor gegründet war und die Menschen faszinierte.

Doch bis Parzival Gralskönig ist, dauert es noch, da müssen Sie – wie unser Held - noch etwas Geduld haben.

Zunächst verlässt er seine Frau Condwiramurs, um zu sehen, wie es seiner Mutter geht. Versunken in das sehnsuchtsvolle Gedenken an Condwiramurs lässt er sein Pferd laufen, wohin es will, und gelangt so zur Gralsburg. Die Menschen dort freuen sich über seine Ankunft; aber es liegt tiefe Trauer über der Burg, denn ihr Herr, der Gralskönig Anfortas, leidet an einer schweren Krankheit.

Da steht nun unser strahlender Held vor dem leidenden Anfortas. Zwei schlichte Fragen, die Frage nach den Geheimnissen des Grals und die nach dem Leid des Anfortas - theologisch gedeutet: die Frage nach dem Wesen und Wirken der göttlichen Gnade und die nach dem Wesen des Menschen, diese Fragen hätten den Gralskönig heilen, den bösen Zauber brechen können – auch dies ein Märchenmotiv.

Aber Parzival besinnt sich auf die Lehre seines väterlichen Erziehers: er solle sich nicht anderen mit neugierigen Fragen aufdrängen, nicht immer direkt den Finger in Wunden legen. Ein solches rücksichts- und mitleidsvolles Schweigen gehört zu den Werten, die sein Menschsein ausmachen; Wenn er diese aufgäbe, so gäbe er sich selber auf. Und also fragt er nicht.

Trotzdem: Alle auf der Gralsburg erwarten, dass er fragt; aber niemand darf ihm sagen, was er zu tun hat und welche Wirkung die Frage hätte. Und also muss Parzival versagen und kann die Frage nicht stellen. Und so kann er nicht die Gralswelt erlösen und nicht mit ihr die ganze Welt; - denn die Gralsritter wirken als Heilsbringer in die Welt hinein, wie es das Beispiel von Lohengrin, Parzivals Sohn, verdeutlicht. Aber Parzival hat dieses Versagen nicht herbeigeführt; er wurde in dieses Versagen auf der Gralsburg hineingeführt und ist also unschuldig daran. Nichts ist ihm vorzuwerfen, und darum wird er auch nach diesem Versagen in die Runde der Artusritter aufgenommen und schließt Freundschaft mit Gawan, dem glänzendsten der Artusritter.

Als aber das Vergehen und seine Folgen offenbar werden, ist der unschuldig Schuldige entsetzt über das, was er angerichtet hat.

Entsetzt wie der König Ödipus, der sich wegen seiner Verfehlungen die Augen aussticht - nun auch äußerlich blind, wie er es innerlich immer schon war.

Hier sind wir also bei der antiken Tragödie; an ihrem Beispiel hat sich der Begriff ‚tragisch’ geformt für eine Schuld, in die der Mensch in seiner Beschränktheit ohne Wissen und darum ohne Wollen fällt -
ein Fluch, der über der Menschheit liegt, des Menschen Schicksal.





Ödipus tötete seinen Vater in Notwehr, und konnte nicht wissen, dass es sein Vater war.
Als Parzival noch im Narrenkleid auf der Suche nach Ritterschaft ist, gerät er unverschuldet in eine Auseinandersetzung mit einem Ritter in roter Rüstung - für den mir unbekannten Maler wäre das allzu viel Rot gewesen. Der Dichter unterliegt anderen Regeln als der Maler; er braucht sich hier nicht zu beschränken und kann in den 18 Kurzversen der Beschreibung dieses Ritters (145,16-146,3) 14mal das Wort ‚rot’ bzw. eine Ableitung davon einbringen – ein poetisches Kabinettstückchen. Der Rote Ritter also stößt Parzival mit der umgekehrten Lanze vom Pferd und schlägt ihn blutig. Parzival wehrt sich, indem er seinen Kurzspeer nach dem Ritter schleudert und ihn tötet – es ist exakt dieselbe Situation wie bei der Begegnung zwischen Ödipus und seinem Vater, parallel auch, dass die Kontrahenten verwandt sind - dies wird wie Ödipus Parzival später erfahren und er wird wie Ödipus bitter unter seiner Schuld leiden.

Gegen Ende unseres Romans gerät Parzival in Kämpfe mit seinem Freund Gawan und seinem Halbbruder Feirefiz. Gawan greift Parzival an, weil er ihn für einen Gegner hält, mit dem er einen Zweikampf auszufechten hat. Parzival sucht den Kampf mit Feirefiz, weil er des Lebens überdrüssig ist. In beiden Kämpfen können die Gegner sich nicht erkennen, weil sie mit geschlossenem Visier kämpfen. Den Kampf mit seinem Freund Gawan beendet Parzival erst, als die Pagen Gawans diesen jammernd beim Namen rufen; und Parzival klagt darüber, dass er beinahe seinen Freund erschlagen hätte:
„Unglücklich und verachtenswert bin ich.“





Dies ist das berühmte Bild Wolframs aus der prächtigen Manesse-Handschrift, die um 1320 entstand, also 100 Jahre nach Wolframs Tod, und in der seine Lieder veröffentlicht sind. Der Gesichtsschutz des mit der Doppelaxt verzierten Helms weist auf den Aufbruch in den Kampf: vielleicht ein Nachklang jener tragischen Situation der Zweikämpfe Parzivals.





Diese Abbildung – oben die Kämpfenden, nämlich Parzival und Feirefiz, mit Visier, unten haben sie die Rüstung schon teilweise abgelegt – ist einer Handschrift um 1250 entnommen; Wolfram wäre etwa 70 Jahre alt gewesen, als ein Mönch diese Bildchen malte. Nach einem unentschiedenen Lanzenkampf springen die Kontrahenten aus den Sätteln, eine Keule fliegt durch die Luft, es wird zu den Schwertern gegriffen – da zerbricht Parzivals Schwert und in der folgenden Kampfespause offenbaren sie sich gegenseitig ihre Herkunft.

Die eben erwähnten Kämpfe mit dem Freund und dem Halbbruder enden nicht tödlich, weil ‚zufällig’ entdeckt wird, wer da die Gegner sind. Trotzdem muss von einer tragische Grundsituation gesprochen werden; denn ohne diesen Zufall wären die sich im Zweikampf Verstrickenden schuldig geworden, ohne es zu wissen.

Nach christlicher Vorstellung aber ist ‚Zufall’ Wirken Gottes; die tragische Schuld wird also dank der Gnade Gottes, und nur durch sie vermieden.
Was aber, wenn in ähnlichen Situationen der Zufall nicht verhindert, dass Menschen schuldig werden?
Und von solchen Situationen gibt es eine Fülle im ‚Parzival’.

Ich greife die erste Station auf Parzivals Weg heraus: Dass er aus Soltane fortreitet, weil er seine Bestimmung erfüllen und Ritter werden muss, das bricht seiner Mutter das Herz.

Wolfram hatte für seinen Roman eine Vorlage – ich erwähnte sie schon -, jenen altfranzösischen Roman des Chrétien de Troyes, dem er den Ablauf seiner Geschichte entnahm. Im Mittelalter war Originalität nicht erwünscht, im Gegenteil: Man musste sich bei seinem Erzählen auf einen Gewährsmann berufen können, am besten auf französische Autoren, die waren gerade hochmodern in Deutschland, oder sogar auf arabische. Nur so wurde man in literarischen Kreisen akzeptiert.

Aber Wolfram durchbrach immer wieder mit großem Selbstbewusstsein solche Normen. Als einen «vindære wilder mære» (4665) - Erfinder wüster Geschichten - attackiert ihn darum Gottfried von Straßburg.

Wolfram steht souverän über solcher Kollegenschelte; und er ändert, er reichert an – auf fast das Dreifache seiner Vorlage; vor allem: Er deutet die Geschichte von Parzival völlig um. Das Neue, das Besondere Wolframs wird so durch den Vergleich mit seiner französischen Vorlage besonders deutlich.

Zurück zu Parzivals erster Station auf seinem Weg zum Gral. Diese Szenen – wie Parzival in Soltane lebt und wie er es verlässt - sind noch am ehesten im Bewusstsein von literarisch Interessierten - nicht zufällig: das in Unwissenheit irrende Kind ist ein besonders treffendes Bild menschlicher Verblendung, an der der Mensch schuldlos ist.

Bei Wolfram weiß der junge Parzival nicht, dass sein Fortgehen der Mutter das Herz gebrochen hat - Bei Chrétien de Troyes sieht Perceval seine Mutter zusammenbrechen und reitet trotzdem weiter.
Es gibt eine Reihe von Änderungen dieser Art - sie zeigen völlig unterschiedliche Weltsichten auf. Und ohne Einschränkung macht Wolfram deutlich: meister cristjân/diesem maere hât unreht getân (827,1f.). Perceval ist sündhaft, Parzival aber unschuldig, und sein Handeln ist tragisch.
Demnach ist für ‚Sühne’, die bei Richard Wagners ‚Parsifal’ im Zentrum steht, bei Wolfram kein Raum.

(Gottes Spiel mit den Menschen)
In einem christlich geprägten Weltbild kommt das Tragische eigentlich nicht vor: Gott ist allmächtig und allgütig und er hilft den Menschen immer.

Bei Wolfram ist es anscheinend anders: Wir haben die tragische Situation Parzivals auf der Gralsburg kennengelernt; hier wird ein Mensch ausdrücklich in eine Situation hineingeführt, in der er scheitern muss, und das mit den schlimmsten Folgen.
Goethe formuliert es so:
„Ihr (die himmlischen Mächte) führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein;“
Parzival hat nicht die geringste Chance. Niemand kann ihm helfen, auch er sich selbst nicht. Er ist völlig in Gottes Hand - Gottes Gnade ausgeliefert. Und Gott treibt – so scheint es – ein gnadenloses, grausames Spiel mit dem Menschen: Parzival wird aufgrund seines Versagens verflucht von der Gralsbotin Cundrîe - zu Unrecht, wie wir wissen – und er irrt viereinhalb Jahre wie tot umher, gänzlich seiner Lebensgrundlage beraubt. Sein ‚mannes muot’ kann ihn nur noch dazu bringen, die Augen zuzumachen und die Situation durchzustehen: rehte enmitten durch.

Wenn ein Mensch an seinen bösen Taten scheitert, sind wir geneigt zu sagen: Was soll’s; er ist ja selber schuld. Wenn er aber wegen einer guten Tat scheitert, wegen einer menschlich noblen Haltung wie Parzival auf der Gralsburg – was dann?

(Verzweiflung und Empörung)





Irgendwo hier in dieser Ostwand des Palas der Burg Wildenberg gibt es in einen Stein, in den steht eingeschlagen: ‚Owe muter’. Ich hatte vor Jahren die Gelegenheit, diesen Stein zu suchen und nach einiger Mühe auch zu finden.





Um dieses ‚Owe muter’ zu erklären, möchte ich noch einmal ein Stück unserer Erzählung wiedergeben: Herzeloyde hatte sich, ihrer Krone entsagend, mit wenigen Leuten in die Einöde von Soltane zurückgezogen, um dort ihren Sohn Parzival in bäurischer Einfalt zu erziehen. – Sie erinnern sich: Herzeloyde will Parzival vor dem Rittertum bewahren. Doch die Sehnsucht nach dem, wozu er berufen ist, bedrängt ihn; der Gesang der Vögel hatte diese Sehnsucht in ihm geweckt. Und als die Mutter dies entdeckt, befiehlt sie, die Vögel zu töten – erfolglos natürlich. Schließlich erkennt die Mutter - und sagt es so zu Parzival -, dass sie mit dem Vogel-Mord gegen den Willen Gottes gehandelt hat. Nach diesem Eingeständnis der Mutter kommt von Parzival die bekannte Frage, deren Anfang in den Stein von Wildenberg geschlagen ist:

«ôwê muoter, waz ist got?» (119,17)

Die Antwort der Mutter: sîn triwe der werlde ie helfe bôt (119,24) – Er gewährte der Welt immer seine zuverlässige Hilfe – eine tröstliche Auskunft, aber auch eine, die verzweifeln lässt, wenn man die Hilfe nicht erfährt.

Das ‚ôwê’ ist - wie das einfache wê - im Mittelhochdeutschen Ausruf der Klage, kann auch Ausdruck des Erstaunens sein, entsprechend unserem ‚Ach’, das ja auch sehr nuancenreich eingesetzt werden kann.

Ich stelle mir vor, dass Wolfram, der das künftige Schicksal seines Helden ja kennt, mit dem ‚ôwê’ in Parzivals Frage nach Gott mehr andeuten will als nur den erstaunten Ausruf des Jungen. Eher so, wie er das ‚ôwe’ in folgender Textstelle meint:


Ôwê werlt, wie tuostu sô?
... Du gîst den liuten herzesêr
unt riwebaeres kumbers mêr
dan der freud. Wie stêt dîn lôn!
Sus endet sich dîns maeres dôn (475,13-18).Die Übersetzung:
‚Ach Welt, wie tust du so? ... Du gibst den Menschen Herzeleid und schmerzensvolle Not mehr als Freude. So steht’s mit deinem Lohn! Das ist das Ende von deinem Lied.’

So hat es Gott gemacht; und mit einer weiteren Weh-Klage zieht Parzival daraus seine Konsequenz. Er stimmt hier ein in eine Klage Gawans, der fälschlicherweise wegen Mords angeklagt worden war:

Der Wâleis - gemeint ist Parzival - sprach „wê waz ist got?
Wær der gewaldec, sölhen spot
het er uns pêden niht gegebn,
kunde got mit kreften lebn.
Ich was im diens undertân,
sît ich genâden mich versan.
Nu wil i'm dienst widersagn:
Hât er haz, den wil ich tragn.“ (332,1ff.)

‚Der Waliser sprach: Ach, was ist Gott!?
Wäre der allmächtig, hätte er uns beiden nicht solche Schande zugefügt – wenn er von großer Kraft wäre!
Ich habe ihm ganz und gar gedient, da ich mich auf seine Gnade besann. Nun will ich ihm den Dienst aufkündigen: Ist er mir Feind, das will ich tragen.’

Ein Gott, der feindlich ist, wird unverständlich, vor allem dann, wenn Parzival zu der Einsicht kommt, dass zum Wesen Gottes auf jeden Fall dessen Allmacht gehört; Gott hätte also helfen können. Aber: Gott will nicht, dass ich glücklich bin - got wil mîner freude niht.(733,8)

Parzivals Frage, was das für ein Gott sei, der offenkundig nicht hilft, kann letztlich nicht beantwortet werden. Gottes Wesen ist verborgen, unergründlich. Was bleibt, ist ein Revolte gegen eine solch absurde Welt, gegen einen Gott, der eine solche Welt gemacht hat; es bleibt Parzivals mutig-trotziges ‚rehte enmitten durch’.

„Die Selbstbehauptung des Menschen in einer sinnverweigernden Welt“, so interpretiert Marcus Schwering den ‚Mythos von Sisyphos‘ des Camus.





Der französische Dichter Albert Camus – jetzt sind wir im 20. Jahrhundert – hat sich diese Revolte gegen das Absurde in einem eindringlichen Roman von der Seele geschrieben: Eine Pest hat eine Stadt an der algerischen Küste befallen; sie wird von der Außenwelt isoliert und wir erleben mit das Leid der Eingeschlossenen. Schrecklicher Höhepunkt: der entsetzliche Todeskampf eines Kindes. Alle, die um das Bett dieses Kindes stehen, empfinden dessen Schmerz als „empörende Schmach“. Sein Schreien kommt ihnen vor wie der „Schrei aller Zeiten“.

Camus’ Kommentar dazu: „Wenn der Unschuld die Augen ausgestochen werden, muss ein Christ den Glauben verlieren oder darin einwilligen, dass auch ihm die Augen ausgestochen werden.“

Und so verzweifelt Parzival nicht nur wegen seiner Situation; er zweifelt und verzweifelt an Gott.
Hat dieser Gott seine Hand von ihm abgezogen und warum? Die berühmte Frage: Warum hast du mich verlassen?

Das erste Hauptwort des ‚Parzival’-Romans heißt ‚zwîvel’ – Zweifel-Verzweiflung.





Ich zitiere die beiden ersten Verse des Romans – Sie sehen sie hier in zwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert mit sehr unterschiedlichen Initialen:

Ist zwîvel herzen nâchgebûr,
daz muoz der sêle werden sûr.

Übersetzt:
Lebt einer mit Zweifel und Verzweiflung im Herzen, so muss das der Seele bitteres Leid bringen.

Für die Zeitgenossen Wolframs ist Zweifel die Sünde überhaupt, die nicht vergeben werden kann, so auch in der Gotteslehre der Mutter Parzivals (119,25); für Wolfram ist er eine berechtigte Haltung gegenüber Gott angesichts des Elends in der Welt.

Und wie kann man mit diesem Gott, der verantwortlich ist für all dieses Elend, ins Reine kommen?

Heute ist das relativ einfach: Man glaubt nicht an seine Existenz. Das sind laut Umfrage 34% der Deutschen, darunter wird es auch einige geben, die Gott deshalb leugnen, weil sie sich am überlieferten Gottesbild stören.

Diese Lösung hatte Wolfram nicht, dazu war er zu sehr im Christentum verwurzelt. Und also bleiben ihm Zweifel und Verzweiflung.

Theologen halten diesem Zweifel entgegen: Leid ist Strafe für den Missbrauch der Freiheit des Menschen, Leid ist das Strafgericht Gottes. Der Jesuitenpater in Camus’ Roman beginnt seine Predigt: „Meine Brüder, ihr habt es verdient.“ Die Pest sei Vergeltung für ihre Sünden.
Nicht Gott ist schuld, sondern der Mensch. So sei Gottes Tun gerechtfertigt.

Dass das Leid ‚Strafe’ sei, Strafe für Schuld, behaupten auch die Theologen zu Wolframs Zeit, behauptet auch der altfranzösische Dichter, dessen Roman Wolfram vor sich liegen hatte, behaupten übrigens die meisten Germanisten, die den ‚Parzival’ interpretiert haben.





Sie berufen sich dabei auf eine weitere Hauptperson in Wolframs Roman, Trevrizent, einen Einsiedler, der unserem Helden wie der Jesuitenpater den von der Pest Befallenen entgegenhält: Du hast es verdient.





Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Erinnerung an den Hiob des Alten Testaments und seine Freunde, die dem leidenden Hiob ebenfalls entgegenhalten: Du hast es verdient. Eine entwürdigende, ja bösartige Argumentation: Wenn kein Redlicher zugrunde geht, da Gott ja gerecht ist, so ist der, der zugrunde geht, nicht redlich - und er wird verurteilt. An Hiob, der Schreckliches erlitten hat und mit Gott rechtet, mit ihm hadert, wird sich Wolfram erinnert haben, als er seinen Parzival schuf; und als er den Trevrizent gestaltete, dachte er sicherlich an jene Freunde Hiobs, die ihm ständig vorhalten: es ist deine Schuld. Es muss hier diese Andeutung zum Buch ‚Hiob’ genügen, von dessen Gottesbild Jörg Zink meint, dass es „zur Gottlosigkeit zwingt“.

Die Idee des Leids als Strafgericht empört Wolframs mitleidvolles Gerechtigkeitsgefühl; so darf Gott nicht gerechtfertigt werden, so einfach kann der Glaube es sich nicht machen.

Der Glaube an einen Gott, der die Schuldlosen leiden lässt, muss ein Glaube sein, dem die Augen ausgestochen wurden, ein blinder Glaube, der auch noch an Gottes helfende Liebe und Güte glaubt, wenn aber auch alles dagegenspricht: reht enmitten durch, ein Glaube, der unter „völliger Selbstaufgabe und Selbstverleugnung“ - so Camus – die Kreuzigung des Verstandes voraussetzt.

Der „Empörungsschrei (wird dann) durch eine besinnungslose Zustimmung ersetzt“. In der christlichen Frömmigkeit heißt diese Zustimmung ‚Ergebung in den unerforschlichen Ratschluss Gottes’.







Eine der klassischen Gestalten jenes Glaubens ist Abraham - hier in der Darstellung Caravaggios und Rembrandts. Ich erwähne ihn, weil er als Stammvater der drei großen monotheistischen Religionen gilt und man sich darum beim Versuch eines Dialogs zwischen diesen Religionen seiner erinnert.
Abraham glaubt auch dann, Gott werde immer helfen, wenn alles dem zu widersprechen scheint, wenn es absurd ist zu glauben. Abraham glaubte an die Verheißung Gottes, die ihm über seinen Sohn Isaak eine Nachkommenschaft ohne Zahl versprach - darin lag sein ganzes Glück; und doch ging er ohne zu zögern zum Berg Morija, um seinen Sohn Isaak zu opfern; und er erwartete nicht einen Augenblick, dass Gott vielleicht doch noch den Auftrag zurücknehmen könnte.

Isaak, der Sohn Abrahams, heiratet Rebecca, und die wird schwanger mit Esau und Jakob – Sie kennen diese Geschichte wie Paulus sie kannte; und der konnte nicht übersehen, dass von den Kindern Rebekkas, ehe sie geboren waren und – ich zitiere jetzt Paulus „weder Gutes noch Böses getan hatten“, das jüngere, nämlich Jakob, bevorzugt, auserwählt wurde. „Was sollen wir denn hierzu sagen?“ fragt Paulus. „Ist denn Gott ungerecht?“ und antwortet aus blindem Glauben heraus. „Das sei ferne“. Er ergibt sich ganz in Gottes Willen, der seinem Verstand als Willkür erscheinen muss.

Zu dieser Ergebung in den Willen Gottes muss Parzival finden, wenn er sich mit Gott aussöhnen will. Seine Frage ‚waz ist got’, die aus dem Glauben heraus so formuliert werden könnte: ,Warum hat Gott, unter dessen Führung ich ein gutes, ehrenvolles Leben gelebt habe, in seiner Gnade mir Leid geschickt?’, diese Frage wird er dann nicht mehr stellen, weil der Glaubende, demütig geworden, keine Sinnfragen mehr stellt. Sein ‚unverzaget mannes muot’ wird nun zur Tapferkeit, die diese Einsicht annimmt, so dass Parzival nicht in Verzweiflung bleibt, sondern demütige Gelassenheit gewinnt. Dann erscheint ihm Gott - wie dem Hiob - in seiner blendend-strahlenden Güte – auch in dieser Güte unbegreiflich.
Für den Handlungsablauf des Romans bedeutet das: Die Gralsbotin Cundrîe kommt zum Artushof, wo sich Parzival aufhält, bittet ihn um Verzeihung wegen der Verfluchung und verkündet, dass Parzival als Gralskönig benannt ist.
(Erziehung durch Leid)
‚Ergebung in den unerforschlichen Ratschluss Gottes’, die Kreuzigung des Verstandes ist nicht jedermanns Sache. Annähernd wenigstens, meine ich, müsste Gott mit der menschlichen Vernunft zu fassen sein, irgendetwas Vernünftiges müsste an Gottes Handeln erkennbar sein. „Nicht vernunftgemäß zu handeln“ sei „dem Wesen Gottes zuwider“, meint Joseph Ratzinger.

Der Ablauf der Geschichte von Parzival legt nahe, dass auch Wolfram von Eschenbach es nicht beim Bild vom unbegreifbaren Gott belassen wollte, wenn auch nicht ausdrücklich ein anderes Gottesbild formuliert wird.

Ich meinerseits jedenfalls meinte, bei meiner Parzival-Interpretation den unerforschlichen Ratschluss Gottes doch noch ein wenig erforschen zu müssen.
Der absurde Widerspruch, dass Gott immer seine Hand über den Menschen hält und dass er es gut mit den Menschen meint und trotzdem das Leid in der Welt ist, dieser Widerspruch kann durch eine neue Fragestellung ein wenig weiter aufgelöst, der Vernunft nähergebracht werden, nämlich die, wozu das Übel in der Welt denn gut sei. Wenn es einem guten Zweck dient, kann es in den göttlichen Heilsplan eingeordnet werden, kann es Teil einer umfassenden sinnvollen Weltordnung sein.
Vom heiligen Augustinus stammt die frappierende Formulierung, dass Gott auch das Übel vernünftig nutze. Goethe greift sie auf, indem er seinen Mephisto sagen lässt, dass der stets das Böse wolle und dadurch das Gute schaffe.

Dieser gute Zweck wurde zum ersten Mal in der griechischen Tragödie, speziell von Aischylos, formuliert.





Die alten Griechen hatten in weit höherem Maß als spätere Zeiten das Empfinden, dass der Mensch unausweichlich ins Unglück stürzt. Der klassische Fall: Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet, weil er nicht weiß, dass es seine Eltern sind – so hat es Sophokles dargestellt.

Bei Aischylos, der frömmer und darum optimistischer war als Sophokles, ist zu lesen: Der Mensch lernt durch Leid. „Es lernt erst, / Wer leidet.“, heißt es in seinem ‚Agamemnon’. „Das ist die Huld der Götter in ihrem gewaltsamen Regiment.“

Und das meint Aischylos nicht ironisch. Nicht ironisch meinen dies auch die Theologen, die die gesamte unselige Menschheitsgeschichte als ein Reifen der Menschheit durch Leid und Gott als den Zuchtmeister verstehen wollen, der die Menschen durch Leid erzieht.

Diese Versuche, Gottes Handeln zu rechtfertigen, befriedigen mich, wie Sie sich denken können, nicht.
Aber ich sehe keinen anderen Weg, Gottes Bild und zugleich die Würde des Menschen zu retten.





Dies sind die Überreste des Dionysos-Theaters am Südhang von Athens Akropolis. Die Uraufführung des ‚König Ödipus’, vermutlich im Jahr 427 vor Christus, geschah in einem Vorgängerbau; die 10 000 Zuschauer saßen da noch auf Holzbänken, das heißt, sie sind von ihren Sitzen aufgesprungen, als Ödipus mit blutenden Augenhöhlen aus dem Königspalast tritt, ein grässlicher Anblick. Ein Stöhnen geht durch die Menge, ein Aufschrei. Und wozu diese Inszenierung?

Der große griechische Philosoph Aristoteles hat ziemlich genau 100 Jahre später über diese Frage nachgedacht. Er meint, die Erschütterung durch diesen Anblick lässt den Menschen intensiver sich auf sich selbst und sein Menschsein besinnen; das Mitleid mit dem armen König Ödipus wird zum Mitleid mit der Existenz des Menschen überhaupt, und die Furcht, die sich im Theaterrund ausbreitet, ist die Furcht, dass es allen so ergehen kann wie jenem Ödipus, dass alle in gleicher Weise gefährdet sind.

Und so muss auch der Weg Parzivals verstanden werden und die Absicht, die Gott mit Parzival hat:
Gott lässt Parzival leiden, damit dieser, wenn er dann Gralskönig wird, am eigenen Leib erfahren und gelernt hat, was der Mensch ist: beschränkt, blind, hinfällig, seine ganze Tauglichkeit ein Nichts im Vergleich zu Gott – ein radikales ‚Erkenne dich selbst’.

So wird Parzival zu einem Erwählten, - einem ‚ûz erkornen’ (619,14), sagt Wolfram –
zu einem von Gott Gezeichneten, der die Gottferne bitter durchleben musste, um durch diese Gottferne zu reifen.

Diese Einsicht in die Gefährdung des Menschen führt in eine tiefe Krise, aus der heraus Parzival dann sich selbst und seine Mitmenschen neu versteht.

Dieses neue Verständnis möchte ich zum Abschluss in drei Aspekte auseinanderfalten:

Ein erster Aspekt:
Parzival erkennt: Der Mensch ist so begrenzt in seinen Möglichkeiten, dass ihm nichts gelingt, außer es wird ihm das Gelingen geschenkt – woher auch immer dieses Geschenk kommt. Am ehesten kann jemand erfahren, dass er ein Nichts ist vor Gott, wenn all sein gutes Tun scheitert; und damit ist auch Parzivals Versagen auf der Gralsburg erklärt. So wird Parzival demütig im Wissen, dass er nichts ist außer durch Gott. Das hat er durch sein Leid gelernt.

Ein zweiter Aspekt:
Parzival kann auch mit seinen Mitmenschen anders umgehen, da er ihre Gefährdung an sich selbst erfahren hat. Sein Mitleid mit ihnen gewinnt eine tiefere Dimension, es ist gereinigt von Hintergedanken wie diesen: warum hilft jener sich nicht selbst, warum strengt er sich nicht mehr an, eigentlich ist er doch selber schuld – solche Überlegungen sind überholt. So kann Parzival, wenn er dann Gralskönig ist, mit den Menschen sensibler umgehen, mit größerem Verständnis für deren Hilflosigkeit.

Und ein dritter Aspekt:
Unser Roman hat zwar tragische Elemente, aber er endet nicht tragisch, er schließt mit einem Happy-End.
In diesem glückliche Ende offenbart sich Gottes Güte und Gnade. Unser Held wird rehabilitiert, er erlöst den König Anfortas und mit ihm die ganze Gralswelt, er wird wieder vereint mit seiner geliebten Frau, zu der er nicht zurückfand, solange die Suche nach dem Gral ihn umtrieb, und wird nun selber zum Gralskönig. Er hat nun endlich das Ziel erreicht, das ihm immer schon bestimmt war. Denn so kann man ja vielleicht – mit der nötigen Allgemeinheit - Glücklichsein definieren: dass jemand das erreicht hat, zu dem er immer schon angelegt war, dass er auf diese Weise ganz eins mit sich selbst ist. Parzival hat sein Glück gefunden; mit Wolframs Worten: Er ist dort, wo das Glück ihn haben wollte (827,18). Durch die viereinhalb Jahre des Verlusts und des Leids hat er gelernt, dieses sein neues Glück tiefer zu erleben und dankbar zu begreifen, dass es wirklich ein Geschenk ist.

Mit diesem Aspekt können wir die große Bühne der Sophokles-Aufführung und die der Gralsburg verlassen und unsere alltägliche Situation bedenken. Parzivals Erfahrung, dass Gott sich ihm ganz offenbart, indem er sich ihm entzieht, hat etwas mit der tagtäglichen Erfahrung zu tun, dass der Mensch oft ganz selbstverständlich, zu selbstverständlich im Glück lebt und es darum gar nicht so recht zu schätzen weiß und erst im Verlust und durch den Verlust ganz begreift, was er besessen hat und hoffentlich wieder besitzen wird.

Zu dieser Alltagserfahrung möchte ich Ihnen einen Satz zitieren in einer Sprache, die sehr, sehr weit entfernt ist vom alltäglichen Sprechen - in der Sprache Hölderlins. In seinem großen Gedicht ‚Brot und Wein’ heißt es:

So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben
Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht.
Tragen muss er, zuvor; . . . (Kleine Stuttgarter Ausgabe II,97)

Es muss ja nicht jeder diese Erfahrung machen, dass man erst im Verlust so recht erkennt, was man besessen hat. Man kann es sich ja sagen lassen von denen, die diese Last tragen mussten, oder zeigen lassen wie etwa an der Gestalt des Ödipus oder des Parzival.

Das ist der große Vorteil von Literatur und vom Lesen, dass man lesend Erfahrungen machen kann, die zu machen in der Wirklichkeit nicht wünschenswert wäre, dass man beispielsweise in der Betrachtung des leidvollen Wegs solcher Gestalten der Literatur wie Ödipus, Hiob und Parzival die Gewohnheit und Abstumpfung des Lebens durchbricht und sich seines Glücks in neuer Weise und dankbar bewusst wird.



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