Mann Thomas
Molière
Klausuren, Klassenarbeiten
Zusammenfasssung und Anm. Buch I und II
Textauswahl für den Unterricht erläutert
Vortrag über Thomas Morus und seine 'Utopia'
Alkipiades
Hamilkar
Hannibal
Themistokles
Bilder
Opitz, Martin
Ortheil Hanns-Josef
Ars amatoria
Metamorphosen
Plinius
'Im Westen nicht Neues'
Rodrian
Sallust
Wallenstein
Die Jungfrau von Orleans
Der Verbrecher aus verlorener Ehre
Maria Stuart
Tell
'Der Vorleser'
Rede
'Das siebte Kreuz'
an Lucilius
Über das glückliche Leben
Dramen
Antigone
König Ödipus
Der Schimmelreiter
Lulu von Strauss und Torney
Süßkind
Tibull
Trakl
Aeneis
Eklogen
Martin Walser
Robert Walser
'Das Gold von Caxamalca'
'Frühlingserwachen'
Die Ermittlung
Gedichte
Diss. Anmerkungen
Diss. Kapitel 1 - 4
in Diss. zitierte Literatur
Vortrag

4. KAPITEL
Der Sinn von Tragik
(Das Problem der Theodizee)

Dass tragisches Geschehen - ich beziehe mich hier auf die literarische Darstellung des Tragischen - einen Sinn habe, gehört mit zur klassischen Definition von Tragik (333).

Ein Teil der Interpreten der Aristotelischen Poetik sieht den Sinn der Tragödie in der Katharsis, in der Reinigung der Furcht und des Mitleids (334), d. h. in einer gereinigten, vertieften Erkenntnis der Gefährdung des Menschen, um den man wegen dieser Gefährdung fürchtet, mit dem man wegen dieser Gefährdung leidet. In der Tragödie soll der Mensch in seinem Wesen als der Gefährdete zum Vorschein kommen, es soll sich die Wahrheit ereignen(335): „ . . . für einen Augenblick wenigstens hat das Grausige der Tragödie die Gewohnheit und Abstumpfung des Lebens, die Schicht der Selbsttäuschung und des Scheines durchstoßen und . . . aufgeschreckt zum wachen Anblick des eigentlichen Seins, den wir uns so gerne verschleiern . . ."(336)
Mehr Sinn als den einer solchen Erschütterung beim ecce homo (337), die dem Menschen Klarheit bringt über sein Wesen, kann ein Teil der griechischen Tragödie nicht geben; auch das Sophokleische „Und in alledem ist nichts, was nicht Zeus ist"(338) führt nicht weiter, da Zeus wohl nur der Name ist für das Weltgesetz, nach dem das Unheil notwendig in dieser Welt sein muss (vgl. o. S. 85). Aischylos allerdings versucht eine „Deutung des Leidens aus einer sinnvollen Weltordnung(339) (vgl. o. S. 18), er sucht also „in all seinen Trilogien nach einem versöhnenden Abschluss . . . und findet diesen durch seinen festen Glauben an Zeus’ gerechte Weltordnung"(340). Diese Konzeption nähert sich einer möglichen christlichen Deutung des Tragischen.

Doch bei Aischylos steht über dieser gerechten Weltordnung des Zeus noch das Schicksal, das auch Zeus begrenzt und das undeutbar bleibt. Der christliche Gott aber ist durch nichts mehr begrenzt und aufgrund der Verheißungen seiner Güte wenigstens in Bezug auf die Grundtendenz seines Willens deutbar(341). Darum stellt sich für den Christen die Sinnfrage bei tragisch erscheinenden Geschehnissen besonders dringlich. Es ist die Frage, wozu das Übel gut sei; denn gut muss es ja sein, es muss einen guten Sinn haben, einem guten Zweck untergeordnet sein, da es seine Ursache im Willen des allmächtigen und gütigen Gottes hat, da der, der es bewirkt bzw. zugelassen hat, nur Gutes will (vgl. o. S. 16).(119)

Darum ist es nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig, nach dem Sinn der tragischen Geschehnisse im ‚Parzival’ zu fragen. Auf der Suche nach einer Antwort kann man sich freilich nur an Hinweise halten; eine genaue Formulierung ist bei Wolfram nicht zu finden; ja, es scheint sogar, als vermeide der Erzähler ausdrücklich die Frage nach dem Sinn. Zunächst stellt er lediglich fest, dass Leid sein muss (224,7/8), und setzt dem unverdienten Geschick seines Helden nichts als ein dennoch (319,6) entgegen: dennoch ist Parzival ohne Schuld. Selbst der Held seines Romans, Parzival, der zunächst noch verzweifelt fragt, was das für ein Gott sei, der ihn, den Schuldlosen, dem Unglück überlasse, verstummt schließlich im Glauben. Die Frage waz ist got?, die aus dem Glauben heraus so formuliert werden könnte: ,Wozu hat der gnädige Gott, unter dessen Führung ich ein gutes, ehrenvolles Leben gelebt habe, in seiner Gnade mir Leid geschickt?’, wird ausgespart, weil der Glaubende, demütig geworden, keine Sinnfragen mehr stellt (vgl. o. S. 100 f.). Eine Deutung des tragischen Geschehens kann also nur aufgrund einer Analyse der Handlung und eines Vergleichs dieser Handlung mit der theologischen Deutung des Übels gegeben werden.

Da aufgrund der bisherigen Untersuchungen für Wolfram angenommen werden muss, dass nach seinen Vorstellungen Gott es ist, der Parzival auf diesen Weg der Schuld und des Leids geführt hat(342), so stellt sich für die Interpretation die Frage: Wozu lässt - nach Ansicht des Erzählers - Gott Parzival schuldig werden und leiden? Welche Absicht hat Gott mit Parzival?

Keinen Zweifel lässt Wolfram daran, dass Parzival von Gott zu Höchstem berufen ist, zum Gralskönigtum, dass Parzival von Anfang an zu diesem Ziel berufen ist und dass er auf seinem Weg zu diesem Ziel von Gott geleitet wird. Warum aber führt Gott Parzival auf einem Umweg zum Ziel, einem Umweg, den andere auf dem Weg zu ihrem Ziel, z. B. Artus oder Gawan (vgl. o. S. 27 f.), nicht zu gehen brauchen?

Die biblischen Vorstellungen vom Sinn des Übels


Vor der Untersuchung, wie sich diese Fragen in Wolframs Roman weiter verfolgen lassen, soll kurz darauf hingewiesen werden, wie sie im Alten und Neuen Testament gestellt und beantwortet werden, in den Büchern, die auf das Nachdenken über Gott innerhalb des christlichen Kulturbereichs den größten Einfluss gehabt und so die Tradition bestimmt haben, in der auch Wolfram steht.

Die Texte des Alten Testaments geben der Allmacht Gottes das Gewicht, das auch bei der bisherigen Interpretation von Wolframs Roman vorausgesetzt wurde: Gottes Macht ist unumschränkt, so dass auch das Übel von ihm seinen Ursprung hat: ... faciens pacem et creans malum: ego (120) Dominus faciens omnia haec(343). Die Vorstellung, dass Gott Ursprung des Übels sei, musste mit der Vorstellung von Gottes Güte und Weisheit (344) in Einklang gebracht werden. Das Alte Testament gibt mehrere Antworten auf die Frage, welche Absicht der gütige Gott damit verfolgt, dass er das Übel in die Welt schickt.

Am häufigsten wird das Unheil als Strafe für die Sünden der Menschen interpretiert. Auch die Verstockung des Menschen, das schlimmste der Übel, wird als eine solche Strafe aufgefasst: Gott verstockt das Herz des Menschen, damit dieser nicht mehr zur Einsicht kommen, nicht mehr sich bekehren und somit nie mehr das Heil erlangen kann(345). Gott bewirkt die Sünde des Abfalls von Gott als Strafe für vorangegangene Sünden; er „macht die Sünde dem Sünder zur Strafe"(346).

Dieser Ableitung des Übels aus dem Willen Gottes liegt ein kausales Verhältnis zugrunde: Weil der Mensch gesündigt hat, wird er bestraft; den weiteren Ableitungen dagegen ein finales: Gott bewirkt das Unheil in der Welt, um sein Ziel erreichen zu können(347) (347a) - bene utens et malis(348). Dieses Ziel ist das Offenbarwerden seines Ruhms und seines Erbarmens, ein Schritt auf dem Weg zur Erfüllung seines Heilsplans; denn in dem Maße, wie der Mensch Gottes Ruhm und Gottes Erbarmen erkennt, nähert sich ihm das Heil.

So verstockt Gott das Herz des Pharao, macht Pharao zu seinem Widersacher, um in der Überwindung dieses Widersachers seine Größe zu bezeugen, „. . . auf dass du es deinen Söhnen und deinen Enkeln erzählen kannst, was ich den Ägyptern angetan und welche Wunderzeichen ich unter ihnen gewirkt habe, damit ihr erkennt, dass ich der Herr bin"(349).

Auch das Neue Testament kennt diesen Gedanken, dass die Schuld des Menschen der Verherrlichung Gottes diene. So schreibt Paulus, dass die Ungerechtigkeit des Menschen Gottes Gerechtigkeit „ins Licht stellt"(350) und die Wahrheit Gottes „herrlicher wird"(351)durch die Verlogenheit des Menschen, so dass durch die Schuld des Menschen Gott besser erkannt werden kann.

Ebenso durch das Leid: Christus führt das Leid eines Menschen ausdrücklich nicht mehr auf eine Schuld zurück, sondern für ihn ist das Leid dazu gut, dass Gott durch ihn, der dieses Leid heilt, in seiner Herrlichkeit offenbar werde (Joh 9,1 ff.).

Auch weil das Übel in der Welt das göttliche Erbarmen offenbaren kann, ist es erklärt und gerechtfertigt: Die Erbarmungsgnade Gottes leuchtet um so heller, je tiefer die Schuld des Menschen ist (Röm 5,20). Darum verstockt Gott die Menschen, so dass sie ungehorsam werden und Gott sich der Ungehorsamen erbarmen kann: Conclusit enim Deus omnia in incredulitate, ut omnium misereatur (Röm 11,32).(121) (351a)

Der konkrete Fall zu dieser Überlegung ist die Schuld der Juden: . . . illorum delicto salus est gentibus (Röm 11,11). Gott verstockt die Juden(352), damit das Heil zu den Heiden komme.

Die Offenbarung des Erbarmens und der Liebe Gottes gipfelt im Kreuzestod Christi, und darum ist die Schuld der Menschen, die diese Offenbarung herbeiführt, nichts als das „Mittel der Verwirklichung (der) ... Pläne"(353) Gottes. Auf diese Weise entsteht in der christlichen Theologie die Idee einer felix culpa, einer Schuld, die darum gepriesen werden kann, weil sie zum Heil führt. So ist auch die Sünde des Judas felix culpa und „vom Plane Gottes umfangen"(353).

Erziehung durch Leid


Damit das Heil offenbar werde, muss das Leid kommen, nicht nur vor Christus und in Christus, sondern auch noch in der Zeit zwischen Auferstehung und Wiederkunft Christi; der Mensch muss durch viele Trübsale hindurch (vgl. Anm. 224), Gott muss sich dem Menschen in die Verborgenheit entziehen, um sich ihm zu offenbaren. Der Mensch wird während dieser Zeit durch die Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und der Herrlichkeit Gottes für das Heil reif, so dass die Geschichte als ein Reifen der Menschen durch Leid und Gott als der Zuchtmeister verstanden werden kann, der die Menschen durch Leid erzieht(354). Mit diesem Gedanken ist das Übel, das nicht vom Menschen, sondern von Gott kommt, erklärt und Gott als der Urheber dieses Übels gerechtfertigt: Schuld und Leid sind als die unerforschlichen Umwege zu deuten, auf denen Gott sein Heilswerk vollbringt.

Diese Erklärung der Schuld und des Leids als Mittel zur Reifung des Menschen wird dort gegeben, wo man dem Menschen diese Schuld und dieses Leid nicht zurechnet, sondern sie als ein notwendiges Geschick empfindet und wo man trotz einzelner tragischer Geschehnisse die Welt im Ganzen als eine sinnvoll geordnete versteht (vgl. o. S. 18).

Dies gilt für Aischylos, der, weil er an die gerechte Weltordnung des Zeus glaubt (vgl. o. S. 118), im Leiden einen Sinn sehen muss und ihn darin findet, dass der Mensch durch Leid lerne(355) - „Das ist die Huld der Götter in ihrem gewaltsamen Regiment„. Dies gilt ebenso für das Buch Hiob. Die Huld Gottes zeigt sich darin auch während des gewaltsamen Regiments Gottes: Von Satan im Auftrag Gottes geschlagen, lernt Hiob durch sein Leid. Elihu, der einerseits Gott gegen Hiob verteidigt (vgl. o. S. 102), als dieser Gott vorwirft, er handle sinnlos-grausam (32,2), der also an die gütige Lenkung Gottes glaubt, der andererseits Hiob gegen die Angriffe der Freunde in Schutz nimmt
(356) (356a), als diese Hiob die Schuld an seinem Leiden zusprechen wollen, der also auch an die Unschuld des Leidenden glaubt, verkündet diesen Gedanken, dass das Leid Erziehungswerk Gottes (122) sei(357). So führen Elihus Gedanken „aus der Enge und Einseitigkeit heraus, mit der die ältere Vergeltungslehre in jedem Unglück göttliche Strafe wegen eines begangenen Unrechtes sah"(358). Doch wird auch diese Deutung des Leids der Situation Hiobs nicht ganz gerecht, da nach Elihu „die göttliche Heimsuchung . . . das Ziel verfolge, den Menschen vor dem Hochmut . . . zu bewahren"(358), ja sogar davor zu bewahren, in Hochmut zu beharren(359).
(359a) Hiob jedoch wird als der Fromme und Gerechte dargestellt, der einer solchen Warnung nicht bedarf (vgl. o. S. 98).

Das Leid als Bevorzugung


Für die Interpretation von Parzivals Geschick stellt sich das gleiche Problem: Auch Parzival ist, als er von Cundrie verdammt wird, im Sinne der ethischen Normen von Wolframs Zeit ohne Tadel, so dass es fraglich wird, wozu Parzival durch das Leid noch erzogen werden könnte.

Durch die Interpretation des Wesens und Handelns Parzivals ist belegt worden, dass Wolfram an seinem durch Gurnemanz erzogenen Helden nichts auszusetzen hat, dass Parzival, den Menschen gegenüber rücksichtsvoll, Gott gegenüber demütig, immer auf das Gute gerichtet, nach den für Wolfram gültigen Normen lebt und dass nicht zu befürchten ist, Parzival werde von dieser Norm wieder abfallen. Ergebnis der bisherigen theologischen Überlegungen war, dass das Leid nur als Erziehungswerk Gottes verstanden werden kann, wenn man wie Wolfram vom Bild eines alles bewirkenden gütigen Gottes ausgeht.

Nimmt man beide Ergebnisse zusammen, so bekommt der Gedanke des „erzieherischen Werts des Leidens"(360)notwendig eine besondere Nuance: Parzivals Erziehung durch das Leid muss als besondere Bevorzugung gesehen werden; Parzival soll nicht davor gewarnt werden, von der von Gott gesetzten Norm abzufallen - eine solche Warnung wäre überflüssig -, sondern er soll über die Norm erhoben, soll durch Leid zu einem Standort geführt werden, der über dem liegt, was Gott sonst vom Menschen fordert.

Der Gedanke einer Erhöhung durch das Leid ist der abendländischen Frömmigkeit nicht fremd. Er ist verbunden mit dem der Nachfolge Christi und gipfelt in der Bernhardischen Leidensmystik. J. Schwietering hat auf die Einflüsse dieser Mystik in Wolframs Werk hingewiesen. So schreibt er zum Vergleich der Sigunegestalt mit der Pietà: „Diese Nähe zum Andachtsbild der Pietà, wie es aus mystischem Erleben damals als größte deutsche Bildschöpfung des gotischen Zeitalters heranreift, lässt erahnen, wie mystisches Versenken in die leidende Menschheit Christi, das dem Karfreitag in unserer Dichtung solchen Raum gewährt, auch hier als Weg zu Gott erfahren wird."(361) Bei Fr. Ohly heißt es: „An den von Gott erwählten Heiligen (123) erscheint der Sinn des Seins in der Nachfolge Christi, auch im Leiden. Wolfram hat sich in dieses Leid versenkt im Ernst, der aus dem Beten Kraft hat zu dem Preisen: sînen jâmer sult ir prîsen (Wh. 52,1)."(362)
Diese Nähe Wolframs zur Leidensmystik macht die These, im ‚Parzival’ sei der Mensch dargestellt, der, ohne Fehl, unschuldig leidet und sich in diesem Leid als der Bevorzugte erweist, auch historisch wahrscheinlich, so dass nun untersucht werden kann, ob der Roman Hinweise für die Richtigkeit dieser These gibt, ob und wie also die im Roman direkt nie ausgesprochene Vorstellung, das Leid sei Heils- bzw. Erziehungswerk Gottes, das sich an einem besonders Bevorzugten vollziehe, die Struktur des Romans bestimmt hat.

Parzivals Versagen auf der Gralsburg ist die Verfehlung, um deretwillen Parzival am meisten leidet. Es soll im folgenden untersucht werden, wie es zu dieser Verfehlung kommt, ob also die These, dass Parzival nicht nur unschuldig ist an dieser Verfehlung, sondern dass er von Gott in diese Schuld und dieses Leid geführt wurde, von der Darstellung der Ereignisse auf der Gralsburg her begründet werden kann.

Die Gralsprämissen ‚ungewarnet’ und ‚an rehter zît’ als Zeichen für das Handeln Gottes


Das Wunderbare und Märchenhafte der Vorgänge auf der Gralsburg hat der ,Parzival’-Forschung oft Schwierigkeiten bereitet; es stand einer psychologischen bzw. moralischen Deutung dieser Vorgänge im Wege. Denn will man Parzivals Versagen auf Unsicherheit bei moralischen Entscheidungen, auf egozentrisches Verhalten oder allgemein auf eine Erstarrung der Ethik in Gebote und Verbote zurückführen (vgl. o. S. 31 f.), so bleibt für die Interpretation des Geschehens auf der Gralsburg eine Reihe von Fragen offen. Es kann z. B. nicht einsichtig gemacht werden, wieso Parzival nur dann echtes Mitleid zeigt, wenn er der êrsten naht (484,1) fragt, wieso Parzival nicht gerade dadurch, dass er nicht fragt, echtes Mitleid bekundet (vgl. o. S. 75). Und wie kann jene Frage deswegen Zeichen eines ‚Urgefühls’ und durch Intellektualität nicht verkümmerter ‚feinster irrationaler Schwingungen’ (vgl. o. S. 32) sein, weil sie ungewarnet getan werden soll, wenn sie später wissend, nach einer vorgegebenen Form (formelhaft) und dennoch wirksam gestellt wird? Es bleibt auch offen, warum man Parzival, weil er nicht fragt, den Vorwurf mangelnder Nächstenliebe macht, da doch Parzival nicht wissen kann, dass seine Frage Hilfe bringen würde. Schließlich stört auch, dass die Art der Bestrafung - Verlust der irdischen und himmlischen Glückseligkeit - in keinem Verhältnis zur Größe der Verfehlung steht.

Da sich also die Darstellung Wolframs und die Deutung einer solchen psychologischen bzw. moralischen Interpretation nicht decken, hat man, soweit man die Diskrepanz sah(363), das Problem in der Weise lösen wollen, (124) dass man Wolfram vorwirft, er habe die Märchenmotive nicht sinnvoll in das Ganze seiner Dichtung eingefügt, es liege hier ein nicht integrierter Rest magisch-kausalen Denkens vor. Der Vorwurf, die Wahl der Darstellungsmittel Wolframs entspräche nicht seiner Darstellungsabsicht, ist erst dann berechtigt, wenn man keine Möglichkeit sieht, beides in Übereinstimmung zu bringen. Darum soll hier - mystice - eine heilsgeschichtliche Deutung der Vorgänge auf der Gralsburg versucht und geprüft werden, ob durch diese Interpretation die Geschlossenheit der Dichtung aufgewiesen werden kann.

Diese Interpretationsmethode ist der ‚Parzival’-Forschung nicht unbekannt und auch schon oben bei der Deutung der Gralsprämissen (vgl. o. S. 106 ff.) angewendet worden. Die märchenhaften Bedingungen, unter denen Parzival den Gral findet (nur wer benannt ist, findet ihn; man kann ihn nicht mit vlîz erstrîten, man muss unwizzende auf die Gralsburg stoßen), wurden als Zeichen dafür gedeutet, dass die Gnade allein den Weg des Menschen bestimmt. Mit Hilfe dieser Bedingungen konnte Wolfram also das Wirken Gottes aufzeigen, ohne dass er Gott als handelnde Person in seinem Roman einzuführen brauchte. Indem Wolfram mit Hilfe märchenhafter Handlungszüge - vergleichbar dem Märchenschluss des Buches Hiob - das Eingreifen Gottes innerhalb des Handlungsverlaufs seines Romans veranschaulicht, hat er das Problem gelöst, wie er in einem Roman das Wirken eines göttlichen Wesens bildhaft gestalten kann, das leibhaftig erscheinen zu lassen die verinnerlichte Gottesvorstellung des Christentums (Augustinus: Deus est intus) verbietet. Zudem eignet sich gerade das Märchenhafte zur Darstellung des Handelns Gottes, da dieses Handeln wie die magischen Vorgänge des Märchens rationalem Kausalitätsdenken entzogen ist (vgl. o. S. 100 ff.).

Unter dieser Fragestellung, ob durch die märchenhaften Züge des Gralsgeschehens das Tun Gottes mit in den Roman einbezogen wird, können nun die Prämissen untersucht werden, an die die Frage, die Parzival stellen soll, geknüpft ist: die der rehten zît und des ungewarnet.

a) ungewarnet


Die Forderung auf dem Epitaph (483,24-30), dass niemand Parzival auf die Frage aufmerksam machen oder ihn sogar zum Fragen auffordern dürfe, wurde psychologisch-moralisch als Mittel zur Erprobung von Parzivals Reife gedeutet. Hier solle sich zeigen, ob Parzival fähig sei, sich über die Regeln der Konvention hinwegzusetzen, wenn es die Situation fordere, ob also Parzivals Mitleid stark genug, seine Erschütterung tief genug sei, die konventionellen Hemmnisse zu überwinden(364). Wolff meint, durch diese Bedingung sei garantiert, dass die Frage aus einem inneren Trieb heraus und nicht in Erwartung eines Lohns gestellt werde(365).(125)

Eine solche Interpretation trifft nicht die Darstellungsabsicht Wolframs, da sie von einer - wie oben gesagt wurde - falschen Bewertung der zuht ausgeht und nicht einsichtig machen kann, was es bedeutet, dass Parzival später, von Sigune (254,30-255,19; 441,25,30), Trevrizent (473,12-16; 483,20-484,9; 501,1-4) und Cundrie (316,29-317,2; 781,27-29) auf die Notwendigkeit und Folge der Frage aufmerksam gemacht, dennoch wirksam fragt (vgl. o. S. 123); denn wenn er gewarnet ist, kann die Frage nicht mehr den Sinn haben, dass Parzival fragend seine unmittelbare Ergriffenheit angesichts des Leids bezeuge.

Diese letzte Schwierigkeit kann gelöst werden, wenn man nicht mehr psychologisch, sondern theologisch interpretiert, wenn man das ungewarnet als eine von Gott gesetzte Bedingung ansieht, durch die es in seine Hand gelegt ist, ob Parzival Anfortas erlöst oder nicht. Denn es entspricht der Forderung christlich-ritterlicher Ethik (zuht), in diesem Fall der Forderung der Nächstenliebe, dass Parzival aus Rücksicht auf das Leid des Anfortas nicht sogleich fragt, sondern auf eine günstige Gelegenheit wartet, in der er Anfortas helfen kann (vgl. o. S. 75). Parzival tut das, was allein er tun kann; es gibt aus seiner Sicht keine Alternative für sein Handeln. Auf die Alternative, sofort zu fragen, hätte er ausdrücklich hingewiesen werden müssen. Gott verbietet aber einen solchen Hinweis, und also ist es seine Absicht und seine Tat, dass Parzival scheitert(366). Entsprechend ist es auch nicht die Leistung Parzivals, sondern von Gott bewirkt, wenn Parzival später, über die Frage belehrt, in rechter Weise fragt und Anfortas erlöst. Ob Gott, wenn er zum einen Parzival verbirgt, was dieser zu tun habe, dann wieder es ihm offenbart, „inkonsequent„ ist, wie Wapnewski meint
(367), oder ob nicht auch hier noch ein sinnvoller Plan Gottes erkannt werden kann, muss noch untersucht werden. Es muss gefragt werden, welche Absicht Gott hat, wenn er vor Anfortas Parzivals Nächstenliebe scheitern lässt, ob er, indem er eine unerfüllbare Forderung aufstellt, lediglich Parzival in Schuld und Leid führen will oder ob dadurch, dass Parzival diese Forderung nicht erfüllen kann, ein bisher noch verborgener Mangel offenbar werden soll.

b) an rehter zît


Auch die letzte Prämisse - dass an rehter zît (484,3) gefragt werden soll - fügt sich in die Deutung, dass durch die Prämissen Gottes Eingreifen in die Welt dargestellt, dass mit ihrer Hilfe Parzivals Weg von Gott bestimmt wird.

Die Formulierung dieser Prämisse birgt eine eigentümliche Schwierigkeit:
Frâgt er niht bî der êrsten naht,
sô zergêt sîner frâge maht.
wirt sîn frâge an rehter zît getan, (126)
so sol erz künecrîche hân,
unt hât der kumber ende
von der hôhsten hende (484,1-6).

Zunächst vermutet man selbstverständlich, dass die erste Nacht eben die rehte zît sei, und man muss annehmen, dass Parzival die rehte zît verfehlt habe, als er nicht in der ersten Nacht fragte. Denkt man an das Ende des Romans, so muss man folgern, dass diese Prämisse ungültig geworden sei, dass Parzival sich also gegen die Bedingung des Epitaphs den Gral erzürnet habe. Da aber diese Deutung vom Kontext widerlegt wird (vgl. o. S. 109), muss man die Prämisse anders lesen: Dass die Macht der Frage zergêt, gilt nur für den ersten Aufenthalt Parzivals auf der Gralsburg; das heißt aber: diese erste Nacht war nicht die rehte zît(368), und darum gibt es für ihn beim ersten Besuch auf der Gralsburg kein Später, es wird ihm keine Möglichkeit gegeben, zu einer Zeit, die er für angemessen hält, die Frage wiez dirre massenîe stêt (239,17) zu stellen. Die rehte zît wird noch kommen, und dann erst wird Parzival Gralskönig, von der hôhsten hende. Die Inschrift des Epitaphs gleicht also dem Orakelstil; sie ist zweideutig; was sie wirklich meint, ist erst vom Ende her zu erkennen.

Deutet man diese Prämisse ‚mystice’, so entspricht der Märchenzeit des Romans die Heilszeit. Theologisch bedeutet also das an rehter zît, dass Gott allein die Zeit des Heils bestimmt. Als Parzival zum ersten Mal vor Anfortas stand, war seine Stunde noch nicht gekommen(369)(vgl. Joh 8,20; vgl. 2,4; Matth 26,45); done wasez et dennoch niht mîn heil (783,15), weiß Parzival später, so wie es auch nicht die Zeit seines Heils war, als er auf Cundries Spuren zur Gralsburg reiten will und diese Spuren sich plötzlich verlieren: ein ungeverte (442,28). Die Prämisse aber ist so formuliert, dass die Betroffenen zunächst glauben müssen, mit dem Unterlassen der Frage sei alles verloren, so dass Parzival verzweifelt, weil er glauben muss und es doch wieder nicht glauben kann, er habe die Zeit seines Heils vertan.

Indem Gott Parzival Bedingungen stellt, die Parzival, weil er sie nicht erkennen, also auch nicht erfüllen kann, wird deutlich, dass nicht der Mensch sich selbst, sondern dass Gott ihm die Zeit des Unheils und des Heils bestimmt(370).

Die theologische Vorstellung, dass die Heilszeit das Bestimmende ist und demgegenüber die reale Zeiterstreckung kein Eigengewicht hat, erklärt das Besondere der Darstellung der Zeit in Wolframs Roman. Zwar erscheint die Zeit in diesem Roman als messbare Zeit - so vergehen vom Aufbruch Parzivals in Soltane bis zur Krönung zum Gralskönig ungefähr fünf Jahre -, doch wird die Zeit nur genannt, nicht gestaltet, sie hat kein Eigengewicht. Es wird dem Leser z. B. nicht bewusst, wie groß die Zeiterstreckung zwischen Parzivals Fortgang von Trevrizent und der zweiten Begegnung mit Cundrie ist, ob einige Wochen zwischen beiden Ereignissen (127) liegen, wie versteckt gesagt wird(371), oder Jahre. Die reale Zeit erscheint im Roman nur so weit, als der Erzähler bei seiner Darstellung an das Nacheinander gebunden ist. Doch indem er die zeitliche Erstreckung des Nacheinander vernachlässigt, macht er deutlich, dass er Zeit als Abbild der Ewigkeit versteht, dass in der Zeit immer die Ewigkeit gegenwärtig, dass Zeit immer als Zeit Gottes, als Heilszeit zu verstehen ist.

Wieder ist es ein Darstellungsmittel des Märchens, das dem Erzähler diese Aussage ermöglicht. Auch im Märchen werden reale Zeiten genannt; doch ist nicht die zeitliche Erstreckung entscheidend; entscheidend ist vielmehr, dass etwa nach einer bestimmten Zahl von Jahren eine bestimmte Prüfung bestanden ist; dann ist die Zeit erfüllt, und der Held kann erlöst werden (z. B. KHM 88 ‚Das singende springende Löweneckerchen’). Vergleichbar sind die viereinhalb Jahre von Parzivals Irren: Sie sind die von Gott bestimmte Zeit bis zum Heil hin - und darum Heilszeit. Doch im Gegensatz zum Märchen sind sie nicht als magische Zeit zu verstehen, sondern als ins Zeitliche sich erstreckende Manifestation des Wirkens Gottes.

Die Prämisse der bestimmten Zeit gibt also wie die übrigen Prämissen einen Hinweis auf die dem Roman zugrunde liegende Theologie, nach der alles von Gott bewirkt ist und nichts außerhalb der Absichten Gottes liegt, auch nicht Irrtum, Verschulden und Leid.

Nicht nur die Art, wie Parzival auf der Gralsburg schuldig wird, weist darauf hin, dass Parzivals Weg in die Schuld von Gott bestimmt ist; auch die Umstände der Verfluchung werden so dargestellt, dass diese Verfluchung und das ihr folgende Leid als Werk Gottes angesehen werden müssen.

Diese Verfluchung geschieht in dreifacher Weise: in einer Steigerung von einer frech hingeworfenen Beschimpfung (Knappe) über Klagen und Entsetzen einer, die an Parzivals und Anfortas’ Geschick persönlichen Anteil nimmt (Sigune) bis hin zur feierlich verkündeten Verdammung (Cundrie).

Was der Knappe meint, bleibt für Parzival zunächst rätselhaft. Sigune erklärt ihm zwar, warum er verflucht sei und wie schwer für ihn die Folgen seiner Verfehlung sind:
ir lebt, und sît an saelden tôt (255,20),
und Parzival ist erschüttert darüber, dass er Anfortas nicht erlöst hat (256,1-4), doch er begreift noch nicht völlig, dass auch er und in welchem Maße er betroffen ist. Erst als Cundrie ihn öffentlich und feierlich verflucht und ihm den Verlust der êre und der ewigen Seligkeit verkündet, versteht er, anders als die Ritter am Artushof, dass diese Verurteilung nicht die subjektive Meinung einer „völlig verstörten"(372)Frau ist, die so hart urteile, weil sie die „Verfehlung nicht nach ihrer sittlichen Schwere, sondern nach der Ungunst der Folgen"(373) beurteilt, und er fasst die Worte Cundries so auf, wie auch der Erzähler will, dass sein Publikum sie auffasse: als gültige Verurteilung, die Parzivals Leben völlig verändert: (128)
ir maere was ein brücke:
über freude ez jâmer truoc (313,14/15).

Die Zwangsläufigkeit, mit der der Verfehlung Parzivals die Verfluchung folgt, gleicht wieder der magischen Kausalität des Märchens. An dieser Stelle nun kann eindringlich belegt werden, dass durch diese Märchenkausalität das Wirken Gottes dargestellt wird, dass also durch das Epitaph Gottes Botschaft verkündet wird und der Knappe, Sigune und Cundrie kein persönliches Urteil aussprechen, sondern bei der Verfluchung im Auftrag Gottes handeln, ohne das Warum dieses Auftrags zu verstehen, wie der Widerruf Sigunes und Cundries (vgl. Anm. 393) vermuten lässt. Dass Parzival nicht von Menschen, sondern von Gott verurteilt wird, spricht Cundrie deutlich aus:
gein der helle ir sît benant
ze himele vor der hôhsten hant (316,7/8).

Parzivals Leidensweg - das Besondere von Parzivals Leid


Kann dem Roman - und wenn ja, wie - entnommen werden, dass Gott Parzival durch Leid erhöhen will?

Es ist bisher belegt worden, dass nach Wolframs Auffassung Parzival an seiner Schuld unschuldig ist und darum die erste Ursache seines Leids nicht in ihm selbst gesucht werden kann. Es wurde daraus geschlossen, dass also Gott das Leid Parzivals bewirkt haben muss. Die Interpretation der Verfluchung Parzivals und der Gralsprämissen ungewarnet und an rehter zît hat gezeigt, wie Wolfram dieses Wirken Gottes anschaulich zu machen versucht, dass also das, was aufgrund schon erarbeiteter Voraussetzungen (Parzivals Unschuld; theologische Aussagen über potentia, bonitas und sapientia Dei) erschlossen worden ist, mit bestimmten Handlungszügen des Romans übereinstimmt.

Es bleibt die Frage, ob es im Roman Darstellungsmittel gibt, mit denen Wolfram deutlich macht, wozu Parzival leidet bzw., da das Leid, das Gott den Schuldlosen schickt, nur als ein Teil von Gottes Erziehungswerk angesehen werden kann, zu welchem Ziel Parzival durch Leid erzogen werden soll, was er durch Leid lernen muss.

Da die Erziehungsmittel durch das Erziehungsziel bestimmt sind, wird eine Untersuchung des Besonderen von Parzivals Leid einen ersten Hinweis auf das Erziehungsziel geben können.

Die Verfluchung zeigt an, dass Parzival Gottes Beistand verloren, dass Gott ihm seine Gnade entzogen hat. Ohne diese Gnade gibt es für den Menschen kein Leben, weder im Himmel noch auf der Erde, denn der Mensch ist nichts wenn nicht durch Gott (vgl. o. S. 13; S. 25). Darum verliert Parzival (129) auch das, was den Wert irdischen, d. h. für Parzival ritterlichen Lebens ausmacht, prîs und êre:
des ganzen prîses reht unruoch (316,12), (373a)
sagt Cundrie; Sigune formuliert es am deutlichsten:
ze Munsalvaesche an iu verswant
êre und rîterlîcher prîs (255,26/27).

Dieser Verlust ist für Parzival ein unumstößliches Faktum (329,18; 330, 21/22), während die Artusritter diese Realität nicht anerkennen können; und er ist - so muss es scheinen - endgültig: jedes Bemühen, die Gnade wiederzuerringen, wird von Sigune als sinnlos dargestellt:
ir sult wandels sîn erlân (255,24).(373b)

Von Gott dem ewigen Tod, den Mächten der Finsternis anheimgegeben (gein der helle ir sît benant; 316,7; ir sît der hellebirten spil; 316,24), beginnt für Parzival die Zeit seines Irrens, die Zeit, in der er ganz auf sich allein gestellt, ohne Menschen und ohne Gott seinen Weg gehen muss und sich auf nichts berufen kann als auf das, was er bisher erworben hat: seine Liebe zu Condwiramurs (332,9-14; 370,17/18) und seine ritterliche Tauglichkeit. Doch vor dem Leid und der Verzweiflung des Verlassenen kann ihn beides nicht bewahren. Da Gott sich Parzival entzogen hat, Parzival also ganz auf sich selbst beschränkt ist, wird an ihm die Bedingtheit des Menschseins, die Endlichkeit, offenbar. Diese Endlichkeit zeigt sich in der Begrenztheit seiner Vernunft: Parzival verfällt völlig der
tumpheit. Diese tumpheit war auf Parzivals Weg bis zur Gralsburg als Ursache seiner Vergehen zeitweilig sichtbar geworden. Doch Parzival hatte sie nicht als Zeichen seiner Nichtigkeit erkannt, da er die Schwere seiner Vergehen noch nicht begreifen konnte und er sich an das hielt, was ihm sichtbar war, an seinen Erfolg, der in der Ehrung am Hof des Königs Artus gipfelte.

Nun wird er in aller Ausschließlichkeit an seine Endlichkeit verwiesen mit der notwendigen Folge, dass seine tumpheit ihn in die schwerste Verfehlung führt: er lehnt sich gegen Gott auf, er wird zum verstockten Empörer.

In dieser Situation steht Parzival exemplarisch für den von Gott verlassenen Menschen: Nicht mehr erleuchtet von Gottes durchliuhtec lieht fällt er aus Unwissenheit, aus Verkennung seines Aufenthaltsbereichs in die Ursünde, die Verblendung, die superbia; er will wie Gott sein und erfährt sich als Nichts. Er erscheint als der ungehiure (315,24/25). So lebt Parzival völlig außerhalb der göttlichen Ordnung von Raum und Zeit: sein Weg ist âne strâzen (436,26); Jahre, Wochen, Tage,
daz ist mir allez unbekant (447,24).

Er sucht Halt in menschlichen Dingen, in minne und Kampf, und findet nirgends Bestand, weil es keine wahre Beständigkeit gibt außer in Gott. (130) Er erfährt die größte Not, die ein Mensch aus christlicher Sicht heraus erfahren kann:
wan daz ich hoehern kumber trage
danne ie man getrüege.
mîn nôt ist zungefüege (442,6-8) (374). (374a)

Es ist eingetroffen, was Sigune prophezeit hat:
ir lebt, und sît an saelden tôt (255,20).

Das Besondere an Parzivals Hybris, so wie Wolfram sie darstellt, aber ist, dass Parzival auch in dieser seiner Empörung gegen Gott völlig unschuldig ist, weil, wie die Analyse der Vorgänge auf der Gralsburg und der Verfluchung gezeigt hat, Gott es war, der ihm seine Gnade entzogen und somit die Einsicht in das Wesen der Dinge genommen, der ihn verstockt gemacht hat, so dass er zwangsläufig an Gott verzweifeln und sich gegen ihn empören muss(375). Parzivals Geschick kann also nicht in der Formel „ohne das rechte Wissen um Gott und darum von Gott verlassen"(376) zusammengefasst werden; man kann nur umgekehrt formulieren: von Gott verlassen und darum ohne das rechte Wissen um Gott.

Objektiv trifft also zu, was Trevrizent Parzival vorgeworfen hat: als Empörer gegen Gott fehlt ihm die Demut (vgl. o. S. 91 ff.). Dennoch ist dieser Vorwurf unberechtigt, da Parzival subjektiv unschuldig ist, denn er hat nicht aus freien Stücken, mit der Absicht der Gotteslästerung, Gottes Güte und kraft geleugnet.

Der Mensch ist ohne Gott als das erleuchtende Licht ständig dem Verkennen preisgegeben aufgrund seiner Nichtigkeit. Also kann Parzival von sich aus nie mehr seinen wahren Standort Gott gegenüber finden. Parzival ist in einen Zirkel eingeschlossen, dem er von sich aus nicht mehr entrinnen kann. Es bedarf des Einbruchs der göttlichen Gnade als Erleuchtung, die einen neuen Anfang setzt. Dieses Ereignis wird als das Ende von Parzivals Irren von Wolfram deutlich bezeichnet:
sîn wolte got dô ruochen (435,12).(376a)

Parzival, der die Gewissheit, dass Gott ihm helfen wird, verloren hat, muss glauben, dass er nie mehr von seinem Leid erlöst werden wird. Der Leser dagegen weiß durch die epischen Vorausdeutungen (vgl. o. S. 17), dass diese Trennung von Gott nur scheinbar, dass Parzival nicht für ewig verloren ist. Er weiß vom Erzähler, dass Parzival für den Gral prädestiniert ist (vgl. o. S. 41). Diese Bestimmung hat Parzivals art geprägt und ist ihm, auch während der Zeit seines Irrens, nicht verlorengegangen. So erscheint Parzival in der Zeit der Verfluchung als der, an dem sint beidiu teil,/des himels und der helle (1,8/9): wenn er auch an Gott zweifelt und verzweifelt, wenn er auch ständig in die Irre geht, so bleibt doch sein Streben, der unverzaget mannes muot, der ihn tapfer an dem ihm bestimmten Ziel festhalten lässt (vgl. o. S. 113). Das Andenken an den Gral - die staeten (131) gedanken (1,14) - bestimmt sein Leben; er ahnt, dass ihm dort die Gerechtigkeit zuteil wird, die ihm auf seinem Leidensweg vorenthalten ist (vgl. 0. S. 89 f.).

Die Situation, in der sich Parzival während seines Irrens befindet, kann mit der der Heiden verglichen werden. Auch in ihnen schlummert eine Ahnung von dem Ziel, auf das hin sie geschaffen wurden, auch ihnen ist in diesem Sinn der unverzaget mannes muot zuzusprechen. Doch als Ungetaufte und darum nicht Begnadete, als in der Gottverlassenheit Lebende haben sie das genaue Wissen um das Ziel und um den Weg dorthin vergessen(377) und leben im Irrtum. Die Frage aber, warum die Heiden nicht erlöst sind, hat Wolfram intensiv beschäftigt. So erzählt er im ‚Parzival’ von Flegetanis, der ein Kalb als Gott anbetet, und stellt dazu die Frage:
wie mac der tievel selhen spot
gefüegen an sô wîser diet,
daz si niht scheidet ode schiet
dâ von der treit die hôhsten hant
unt dem elliu wunder sint bekant? (454,4-8) (378)

Wie kommt es, dass Gott dem Satan so viel Macht überlässt, warum lässt Gott es zu, dass durch Satan, der das wahre Wissen entstellt, das Leid in die Welt kommt? Der Willehalm' ist möglicherweise nicht beendet worden, weil Wolfram keine ihn befriedigende Antwort auf diese Frage hat geben können(379). Die Geschlossenheit und der glückliche Ausgang des ‚Parzival’ lassen dagegen vermuten, dass Wolfram in diesem Roman das Leid noch sinnvoll in das Ganze von Parzivals Leben hat einfügen können, so dass die Frage nach dem Sinn dieses Leids aus dem Roman heraus beantwortet werden kann.

Durch die Analyse der Situation Parzivals während der Zeit der Verfluchung kann diese Frage nun genauer gestellt werden. In Parzivals Leid ist die Nichtigkeit des Menschen offenbar geworden, so dass die Frage jetzt so formuliert werden kann: Wozu macht Gott, indem er sich dem Menschen entzieht, die Nichtigkeit des Menschen offenbar?

Parzivals Situation auf der Gralsburg


Dieser Interpretation war als These vorangestellt, dass das Leid des Menschen Erziehungswerk Gottes und dass das Leid des Unschuldigen als besondere Bevorzugung zu deuten sei (vgl. o. S. 122). Da im Leid Parzivals die Nichtigkeit des Menschen offenbar wird, muss die Frage an den Text nun lauten: Wozu soll Parzival durch das Offenbarwerden seiner Nichtigkeit erzogen werden? Was fehlt ihm, der doch als der Vollkommene dargestellt wurde, das er durch eine solche Erziehung noch erreichen könnte?

(132) Zentrum des Romans ist Parzivals Versagen auf der Gralsburg (vgl. u. S. 138). Bisher wurde gezeigt, dass Gott Parzival in Schuld und Leid führt, indem er ihn auf der Gralsburg versagen lässt. Nun soll untersucht werden, ob durch dieses Versagen nicht auch ein Mangel Parzivals offenbar wird, der aber, da die bisherigen psychologisch-moralischen Erklärungen dieses Versagens unzureichend sind, an einem anderen Maßstab gemessen werden muss als an dem der christlich-ritterlichen Ethik (vgl. o. S. 77-80).

Es geht nicht darum, dass Parzival subjektiv unschuldig ist; dies ist er bei allen seinen Verfehlungen (vgl. o. S. 9 f.). Hier soll gefragt werden, welche Art von Vergehen vorliegt und ob dieses Versagen auf einen Mangel zurückgeführt werden kann, so wie die übrigen Verfehlungen Parzivals klar definiert werden konnten (Rücksichtslosigkeit, Totschlag) und auf einen wesentlichen Mangel, die tumpheit, verwiesen.

Zunächst scheint es, als sei ein Mangel nicht die Ursache des Versagens: Durch Gurnemanz erzogen, entspricht Parzival vollkommen den Forderungen der christlich-ritterlichen Ethik; seine angeborenen Eigenschaften, vor allem die triuwe, hat er nicht verloren, sondern veredelt. Und auch die Art des Vergehens ist rätselhaft: Sein Handeln, das ihm von Sigune, Cundrie und Trevrizent als Fehler vorgeworfen wird, kann nicht als rücksichtslos, sondern muss im Gegenteil als rücksichtsvoll, taktvoll bezeichnet werden.

Obgleich es als Zeichen der Nächstenliebe gewertet werden muss, dass Parzival auf der Gralsburg nicht der êrsten naht fragt, wird diese Frage von ihm erwartet; es wird also von ihm erwartet, dass er auf das verzichtet, was den Kern der ritterlichen Ethik ausmacht und was gleicherweise mit triuwe wie mit zuht bezeichnet werden kann (vgl. o. S. 56 f. und u. S. 137 f.).

Die Bedeutung der Gralsfrage


Um zu verstehen, warum dieser Verzicht auf das, was den Menschen am meisten auszeichnet und was erst das Leben in der Gemeinschaft ermöglicht, von ihm erwartet werden kann, soll die Situation verdeutlicht werden, in der dieser Verzicht erwartet wird.

Parzival hätte auf der Gralsburg nach Zweifachem fragen sollen: nach den Geheimnissen des Grals (255,5/6: ir sâhet doch sölch wunder grôz: / daz iuch vrâgens dô verdrôz) (380) und nach dem Leid des Anfortas:
unprîs der dâ bejagte,sît er den rehten kumber sach,
daz er niht zuo dem wirte sprach
,hêrre, wie stêt iwer nôt?’ (484,24-27) (381)

a) Die Frage nach den Geheimnissen des Grals


Die Bedeutung dieser Frage muss durch eine Interpretation dessen, wonach Parzival hätte fragen sollen, sichtbar gemacht werden.(133) Um die Herkunft der Gralssymbole hat sich die Forschung intensiv bemüht, bisher ohne eindeutiges Ergebnis. Eindeutig aber ist die Funktion, die Wolfram diesen Symbolen in seinem Roman gibt. Für Wolfram ist der Gral Sinnbild der Eucharistie, der ständigen Gegenwart der in Christus Fleisch gewordenen Liebe und Gnade Gottes. In der kirchlichen Liturgie ist Christus gegenwärtig im Brot, das alle Süßigkeit in sich enthält - panis de coelo omne delectamentum in se habens(382). Vom Gral wird Ähnliches gesagt:
wan der grâl was der saelden fruht,
der werlde süeze ein sölh genuht,
er wac vil nâch gelîche
als man saget von himelrîche (238,21-24).(382a)

Er übertrifft alle Vollkommenheit dieser Erde:
erden wunsches überwal (235,24),
... ûf erde niht sô rîches was (519,11).

Indem am Karfreitag die Taube eine Hostie auf den Stein legt, kommt der Reichtum und die unendliche Fülle Gottes zu den Menschen. So ist im Gral den Menschen das göttliche Leben des Paradieses, das verloren war, wiedergekommen: er ist der
wunsch von pardîs, / bêde wurzeln unde rîs
(235, 21/22). Auch die Wirkung des Grals weist darauf hin, dass er Symbol des göttlichen Lebens ist: Er teilt sich in vielfältiger Fülle mit, alle können von ihm leben (383). Wie die wunderbare Brotvermehrung ist die Speisung durch den Gral Sinnbild dafür, dass von diesem einen Brot, das die Taube auf den Stein legt, alle essen können. Wer den Gral anschaut, kann nicht sterben; er besitzt das Leben der Gnade. Auch hilft der Gral in Not und Gefahr und bewahrt vor tragischer Schuld (737,25-27; 740,19).

Nun ist aber bei Wolfram der Gral nicht wie bei Chrestien ein liturgisches Gefäß, sondern ein Stein. Der Stein ist zwar „ein uraltes christliches Symbol, das an Christus, den Eckstein, erinnert und an die Vision der Offenbarung, in welcher Johannes die Majestät Gottes erblickt, anzusehen ,wie der Stein Jaspis und Sarder’ (Apok 4,3)"(384), doch hat Wolfram mit der Wahl dieses Symbols augenfällig allzu nahe Anklänge an die kirchliche Liturgie vermieden. Diese Abwendung von der Liturgie besagt aber nicht, dass die Deutung des Grals als Sinnbild göttlicher Gegenwart nicht angemessen sei, sondern liegt in der allgemeinen Tendenz Wolframs, Kirchliches von seinem Roman fernzuhalten(385), ohne sich freilich gegen die Kirche und ihre Liturgie zu wenden(386).

Da der Gral als Symbol der Gegenwart und Wirksamkeit der Gnade Gottes auf Erden verstanden werden muss, ist die Frage nach dem Gral, die Parzival stellen soll, als eine Frage nach dem Wesen und Wirken der Gnade zu deuten. (134)
eine Frage nach dem Wesen und Wirken der Gnade zu deuten.

b) Die Mitleidsfrage


Der Sinn der Frage nach der Not des Anfortas erschließt sich ebenfalls durch eine Betrachtung dessen, wonach gefragt werden soll. Das Leid des Anfortas ist die Folge eines Fehltritts, für den Anfortas nicht verantwortlich ist, weil er ihn ohne Willen begangen hat; die Gewalt der minne und die Unerfahrenheit der Jugend, nicht aber bewusste und willentliche Auflehnung führten zum Ungehorsam gegen Gott (vgl. o. S. 6; Anm. 342). Parzival steht also vor einem Leid, das, dem Wesen des Menschen, seiner Nichtigkeit, entspringend, auf dieses hinweist. Dieser Hinweis auf die Nichtigkeit des Menschen ist hier besonders eindringlich, weil Anfortas sonst der wissendste und herrlichste aller Menschen ist (vgl. o. S. 11). In Anfortas wird das Leid offenbar, vor dem jedes menschliche Tun sinn- und nutzlos ist. Wolfram kennzeichnet das Besondere dieses Leids, indem er die zahllosen Versuche, durch menschliche Kunst und Weisheit Anfortas zu heilen, als vergeblich darstellt, auch die Buße Trevrizents.

Die Situation, in die Parzival gestellt ist, kann mit der eines Zuschauers der griechischen Tragödie verglichen werden, der das Leid des Helden sieht und Furcht und Mitleid empfindet gerade deshalb, weil er erkennt, dass jenem Menschen nicht zu helfen ist. Wegen dieser Ähnlichkeit soll die Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer dargestellt und der Vergleich weiter ausgeführt werden.

Erkennend, dass dem Leidenden nicht zu helfen ist, da dieser aufgrund einer Verfehlung leidet, die ihm aus seinem Wesen, seiner Sterblichkeit, Endlichkeit, im besonderen der Begrenztheit seiner Vernunft, entstanden ist, gelangt der Zuschauer zur Katharsis, zur R e i n i g u n g seiner Haltung der Verfehlung und dem Leid des tragischen Helden gegenüber; sein Mitleid mit diesem Leid wird zum ,r e i n e n Mitleid’, zum Mitleiden mit dem als unabänderlich erkannten Leid. Dieses Mitleiden ist nicht ein „Bedauern darüber, dass alles so gekommen ist"(387), wo es auch hätte anders kommen können; auch nicht ein „Wünschen, dass es nicht so hätte kommen sollen"(387). „Das reine Mitleid ist ebenso fern von einem helfenden Eingreifenwollen, wie es nichts zu tun hat mit einem bloß duldenden Über-sich-ergehen-lassen oder einem fatalistischen Sich-abfinden mit dem Unvermeidlichen."(387)Reines Mitleid ersteht aus der erschütterten Anerkennung des „aus dem Menschenwesen über den Menschen kommenden Geschicks". Da das Leid, dem der Zuschauer konfrontiert wird, nicht nur das Leid eines bestimmten Menschen in einer einmaligen Situation ist, sondern auch als Leid, das aus dem Menschsein selbst kommt, verstanden werden muss, ist der Zuschauer selbst betroffen. Aus dem Bewusstsein, dass er Mensch ist wie der Held, dessen Schicksal er miterlebt, entspringt das Bewusstsein der eigenen Gefährdung, und aus dem Mitleid wird die Erschütterung über das Leid des Menschen, der so ist wie er.(135)

Es ist gezeigt worden, dass die nôt des Anfortas eine solche ist, die die Gefährdung des Menschenwesens offenbart. Dass die erberme, die von Parzival erwartet wird, als ein Mitleiden (388) mit dem leidenden Menschen zu verstehen ist, nicht aber als „tätige Hilfe dem Armen und Schwachen gegenüber"(389), nicht als Handeln, das die Verhältnisse zu ändern versucht, wird einleuchtend, wenn man bedenkt, dass von Parzival eine F r a g e erwartet wird, die von seiner Einsicht Zeugnis gibt, nicht aber ein Handeln, das überall sonst der Erweis von Parzivals Nächstenliebe (triuwe) ist (vgl. o. S. 58 f.).

So kann also die für die griechische Tragödie erarbeitete Vorstellung von Mitleid auf Wolframs Roman übertragen werden: Es war von Parzival ein Mitleid aus dem Wissen heraus verlangt, dass der Mensch als der Sterbliche durch sein eigenes Wesen gefährdet ist, dass er von sich aus aufgrund seiner Nichtigkeit notwendig in Schuld und Leid fällt, so dass seine Schuld- bzw. Sündhaftigkeit sein Wesen enthüllt. „. . . die Sündigkeit zwingt den Menschen, sich als die absolut endliche Kreatur unausweichlich zu begreifen, für welche die vergöttlichende Huld Gottes i m m e r und auf jeden Fall Gnade ist."(390)


c) Der Zusammenhang zwischen der Mitleidsfrage und der Frage nach den Geheimnissen des Grals


Da in dem Augenblick, wo die Endlichkeit der Kreatur absolut gesetzt wird, Gottes Huld immer Gnade ist, wird auch der Zusammenhang sichtbar zwischen der Mitleidsfrage und der Frage nach den Geheimnissen des Grals, die als Frage nach der Gnade Gottes gedeutet wurde. Die im Leid offenbar werdende Endlichkeit und die den Menschen vor den Folgen seiner Endlichkeit bewahrende Gnade bedingen sich gegenseitig, so dass man sagen kann, beide Fragen seien nur zwei Seiten einer einzigen. Im Zusammentreffen beider Aspekte - auf den Menschen und auf Gott - kommt das Gott-Mensch-Verhältnis in seine volle Klarheit; in gleichem Maße, wie die Endlichkeit des Menschen erscheint, wird das Wesen der Gnade Gottes erhellt (vgl. o. S. 120), so dass gesagt werden kann: Die Macht der Gnade erkennt nur der in ihrem ganzen Maß, der die Ohnmacht des Menschen bis ins Letzte erfahren hat (vgl. u. S. 144 f.).

Die zwei Arten der ‚triuwe’


Mit der Interpretation der Gralsfragen ist zugleich das Problem gelöst, das als die eigentliche Krux der ‚Parzival’-Interpretation angesehen werden muss (vgl. o. S. 59 f.): Warum nämlich Parzival auf der einen Seite - auf der Seite derer, die im Auftrag des Grals sprechen (vgl. o. S. 55) - Mangel an triuwe vorgeworfen und auf der anderen Seite - auf der auch der Erzähler steht - ihm diese Grundtugend immer wieder zugesprochen wird (vgl. o. S. 57-59).(136)

Parzival habe die triuwe gefehlt, als er durch zuht nicht fragte. Es ist oben S. 55 ff.) nachgewiesen worden, dass für Wolfram zuht nie ohne triuwe ist. Es ist weiterhin gezeigt worden, dass Parzival vor Anfortas durch zuht und aus triuwe handelt, indem er rücksichtsvoll den Schmerz, den er sieht, nicht durch voreiliges Fragen noch vergrößern möchte (vgl. o. S. 75), indem er auf eine günstigere Gelegenheit wartet (vgl. o. S. 125) und schließlich auch, als er Anfortas in Gefahr glaubt, mit triuwen (246,13; vgl. o. S. 59) helfen will.

Bedenkt man, dass Parzival immer voller Mitleid mit den Leidenden ist, und nimmt man andererseits den Vorwurf Sigunes, Cundries und Trevrizents, er habe sich der Not des Anfortas nicht erbarmt, ernst, so wie Parzival selbst diese Anklage ernst nimmt (vgl. o. S. 127 f.), und versucht nicht, Parzivals Ankläger Lügen zu strafen (391), soll also dieser Vorwurf irgendeinen Sinn haben, so ist man zu der Annahme gezwungen, dass beide Seiten unter triuwe bzw. Mitleid Verschiedenes verstehen.

Die Untersuchung der Mitleidsfrage hat ergeben, dass eine solche zweifache Sicht auf Mitleid denkbar ist, dass man unterscheiden kann zwischen einem Mitleid, das mit dem Menschen leidet, der in seinem Wesen gefährdet und dem darum nicht zu helfen ist (das reine Mitleid), und dem Mitleid, für das das Leid nichts Unvermeidliches ist, sondern das zur Tat wird, die das Leid zu überwinden sucht. Dieses tätige Mitleid ist das Erbarmen, wie es vom Christentum gefordert wird. Denn für das Christentum ist das Leid nichts Unvermeidbares, sondern kann, seit Christus Gottes Gnade vermittelt hat, mit Hilfe dieser Gnade überwunden werden. So erweist sich in der Überwindung des Leids, das durch die Sünde in die Welt gekommen ist, die Kraft Gottes und die Kraft des durch die Gnade Gottes Gerechtfertigten. In dieser Weise sind für die Artusritter zuht und triuwe in ihrem Wesen tätige Nächstenliebe. Auch Parzivals triuwe hatte sich darin gezeigt, dass er immer den Leidenden Hilfe bringen wollte; bei Sigune und den Gralsrittern blieb es bei dem Wunsch; zur Überwindung des Leids Cunnewares, Condwiramurs’ und Jeschutes aber hatte er mit Erfolg seine ganze Kraft eingesetzt.

Das reine Mitleid setzt dagegen eine andere Perspektive auf den Menschen voraus. Der Mensch wird nicht als der Erlöste, Begnadete gesehen, sondern in seiner absoluten Endlichkeit; das Leid ist nicht etwas, das durch tätige Nächstenliebe überwunden werden kann und muss, sondern Offenbarung der Nichtigkeit, Sündhaftigkeit, die den Menschen in seinem Wesen bestimmt und ihn notwendig in Schuld und Leid fallen lässt. Darum kann diese Perspektive auf das Leid als tragisch bezeichnet werden.

Einem solchen Leid begegnet Parzival auf der Gralsburg; doch er erkennt noch nicht das Besondere dieses Leids, da er helfen will und also glaubt, (137) durch seine Kraft dieses Leid überwinden zu können. Der Vorwurf, Parzival fehle die
triuwe, besteht also zu Recht, wenn gemeint ist, Parzival fehle das Mitleid, das mit dem Leidenden leidet, dem nicht zu helfen ist, weil sein Leid aus seinem Wesen kommt.

Das Scheitern der ‚zuht’


Das Gottes- und Menschenbild, das dem Sinn der Gralsfragen entspricht - der Mensch ist nichtig und hat nur durch Gott Bestand -, wird am eindringlichsten in dem Handlungszug sichtbar, dass Parzival durch zuht nicht fragt.

Unter zuht ist das Gesamt der ritterlichen Werte zu verstehen, die vom Geist christlicher Nächstenliebe erfüllt sind (vgl. o. S. 55 ff.). Diese Werte sind aber nicht ‚immanent human’ (vgl. o. S. 32 f.), sondern christlich, weil sie ihre Kraft aus der triuwe haben und weil der Ritter, der sie besitzt, weiß, dass in ihnen die Gnade Gottes wirkt (392) bzw. die krefte des Grals (814,21; vgl. o. S. 26; S. 49; S. 51 f.). Die Wirksamkeit der ritterlichen Werte ist also ein Erweis, dass der Mensch im Bund mit Gott lebt (vgl. o. S. 52 f.).

Es wird auf der Gralsburg von Parzival erwartet, dass er fragt, und da er durch zuht nicht fragt, bedeutet diese Erwartung, er hätte in dieser Situation die zuht aufgeben sollen. Und Parzival versagt, weil er dies nicht getan hat.

Es wird also scheinbar Rätselhaftes verlangt: Parzival soll das aufgeben, was erst seinen Wert als Ritter und Mensch ausmacht, die Haltung der sich in tätiger Nächstenliebe bekundenden Menschlichkeit. Da diese Forderung zunächst befremdlich klingt, hat eine Reihe von Forschern das Befremdliche dadurch zu lösen versucht, dass sie die zuht abwertete und nicht als das verstand, als was sie Wolfram verstanden wissen wollte (vgl. o. S. 30-32).

Dass dieser Versuch der Interpretation falsch ist, habe ich im 2. Kapitel dargelegt. Man darf also bei der Deutung dessen, was von Parzival gefordert ist, das eindeutig Positive der zuht nicht aus dem Auge verlieren.

Was bedeutet es unter dieser Voraussetzung, dass Parzival vor Anfortas die zuht aufgeben sollte? Was bedeutet es also, dass Parzival auf all das, was sein Menschsein ausmacht, verzichten soll?

Die Antwort muss gegeben werden im Zusammenhang mit dem Besonderen der Frage, die Parzival durch zuht unterlässt. Diese Frage nach den Wundern des Grals und der nôt des Anfortas hätte aus der gereinigten Erkenntnis der Nichtigkeit des Menschen gesprochen werden müssen. Doch Parzival hat an sich selbst eine solche nôt, die ihn zur Erkenntnis seiner Nichtigkeit hätte führen können, noch nicht erfahren. Zwar hat er durch seine Fehler Leid verursacht, das nicht wieder gutzumachen ist; doch sind ihm seine (138) Verfehlungen, die ihn auf die Begrenztheit seiner Einsicht hätten verweisen können, noch unbekannt - er hatte sie ja ohne Wollen und Wissen begangen. Er weiß noch nicht, dass Ither ihm verwandt war und dass seine Mutter aus Leid über sein Weggehen gestorben ist (vgl. o. S. 129). Nachdem er die ritterliche zuht erworben hat, lebt er geborgen in der Huld und Gnade Gottes; alles, was er unternimmt, gelingt ihm, so dass er keinen Anstoß erhält, über diese Geborgenheit nachzudenken und so seine absolute Abhängigkeit von Gott klar zu erkennen. Parzival hat noch nicht erfahren, dass der Mensch nichts ist, wenn Gott ihm nicht beisteht; dass dem Menschen im Grunde nicht zu helfen und all sein Tun umsonst ist, wenn Gott nicht will; dass sein ganzes ethisches Bemühen sinnlos ist, wenn es nicht von Gott seine Wirkungskraft hat; dass die ritterlichen Werte wie triuwe, schame, prîs und êre wertlos sind, wenn Gott sie nicht mit seiner Gnade erfüllt.

Diese Erkenntnis ist nun von Parzival gefordert; es ist von ihm die Einsicht gefordert, dass der Mensch sich nicht auf seine Tauglichkeit berufen kann wie auf einen festen Besitz, sondern dass er im Wissen um den Grund seiner Tauglichkeit sie aufgeben und Gott zurückgeben muss, wenn Gott es fordert(393). Anfortas, an dem Gott die menschliche Ohnmacht offenbar gemacht hat (vgl. o. S. 134), war eine solche Herausforderung für Parzival, dass der Mensch sich in seiner Nichtigkeit erkenne. Vor Anfortas hätte Parzival bekennen sollen: Alles, was ich bin und habe, gebe ich Dir zurück und überlasse es Deiner Gnade, mir zu schenken, wie es Dir gefällt; ich arm und du vil rîche (Wh 1,18).

Doch Parzival ist sich selbst noch nicht fragwürdig geworden, er glaubt noch an die Kraft und Verlässlichkeit menschlicher Werte, er lebt noch nicht in der Unsicherheit, in der er sein ganzes Sein aufs Spiel gesetzt sieht. Darum fragt er durch zuht nicht, darum hat er durch zuht noch die Absicht, dem Leidenden zu helfen, glaubt er noch, menschliche zuht könne stets etwas ausrichten. Das bedeutet aber auch, dass er die Unbedingtheit von Anfortas’ Leid noch nicht erkennen kann, dass seine Erkenntnis des Menschlichen und des Göttlichen noch nicht gereinigt ist, dass er dem Leidenden noch nicht mit reinem Mitleid zu begegnen vermag.

Interpretiert man in dieser Weise den Handlungszug, dass Parzival durch zuht nicht fragt, so wird er zum Sinnbild des Verhältnisses von Gott und Mensch, wie es dem ganzen Roman zugrunde liegt und das von Paulus am prägnantesten formuliert ist: dass der Mensch nicht tüchtig ist aus sich selbst, sondern nur aus Gott (2. Kor 3,4-6; vgl. o. S. 52) (394), dass also menschliches Bemühen, auch das beste, sinnlos ist und scheitern muss, wenn Gott ihm nicht Sinn und Gelingen schenkt. Die zentrale Bedeutung, die dieser Handlungszug innerhalb des Handlungsverlaufs hat(395), gibt der Interpretation das Recht, ihm dieses Gewicht beizumessen.(139)

Die Interpretation der Gralsprämissen hat gezeigt, dass Parzival von Gott in diese Situation geführt worden ist, in der von ihm gefordert wird, dass er die zuht und damit sich selbst aufgibt und sich Gott ganz überantwortet. Indem aber Gott vom Menschen eine solche Selbstentäußerung erwartet, offenbart er nicht nur das Wesen des Menschen, sondern auch sein eigenes. Indem Gott vom Menschen erwartet, dass er aufgebe, was sein Dasein sichert, die Grundsätze eines humanen Lebens, und sich völlig dem Willen Gottes anheimgebe, manifestiert er nicht nur die Bedingtheit des Menschen, sondern auch die ihm eigene Unbedingtheit, Absolutheit. Er offenbart sich als der, der nicht an die menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse gebunden ist (vgl. o. S. 99), dessen Beweggründe nicht mit den Postulaten einer Ethik identisch gesetzt werden können. Es wird durch die Gralsfrage also auch gezeigt, dass der Mensch, der sich Gott als den Guten, das heißt nach vernünftigen sittlichen Gesetzen Handelnden vorstellt, Gottes Wesen nicht begreift, dass Gott sich nicht an menschliche Vorstellungen binden lässt, dass Gottes Gedanken nicht die Gedanken des Menschen sind (vgl. Jes 55,8 ff.; vgl. o. S. 101 f.). Indem Gott seine absolute Freiheit dadurch erweist, dass er die guten Absichten des Menschen fehlschlagen und den Menschen in Schuld und Leid fallen lässt, wird das Vertrauen auf die helfe Gottes, dass Gott also das Gute will, obwohl er nicht daran gebunden ist, zu einem Glauben an das Paradox, dass Gott dennoch helfen wird (vgl. o. S. 100 f.).

Die Erkenntnis und Anerkennung dieses Wesens Gottes war von Parzival verlangt, als er auf die zubt verzichten sollte. Er hätte einsehen müssen, dass Gott über den Vorstellungen des Menschen von Sitte und Gesittung steht und dass der Mensch, das Relative seiner Vorstellungen von Gut und Böse erkennend, Gott eher als seinen ethischen Grundsätzen gehorchen muss(396) (396a), und hätte, dem Anruf Gottes folgend wie Abraham, als dieser seinen Sohn opfern sollte (vgl. Anm. 272), all das aufgeben müssen, was dem Ritter saelde, prîs und êre bringt. Der Fehler, dass Parzival auf der zuht beharrt, kann nun als Mangel an Gehorsam gekennzeichnet werden, und zwar an solchem Gehorsam, der auch noch gehorcht, wenn ihm die Forderung, der er gehorchen soll, sinnlos, ja sogar ethischen Grundsätzen widersprechend zu sein scheint, der gehorcht aus dem Glauben, Gott werde das Rechte tun, auch wenn sein Tun den menschlichen Vorstellungen von dem, was das Rechte ist, widerspricht.

Und auch die Ursache dieses Mangels ist deutlich: Da er zu diesem Gehorsam nicht ausdrücklich aufgefordert ist, da im Gegenteil die Forderung, auf die zuht zu verzichten, ihm verborgen bleibt, müsste Parzival aus sich heraus zu der Einsicht kommen, wie der Mensch zu Gott steht. Diese Einsicht ist ihm versagt, so dass wieder Nichtwissen, tumpheit, zur Ursache seines Versagens wird:
sît im sîn tumpheit daz gebôt
daz er aldâ niht vrâgte (484,28/29). (140)

Erziehung durch Gott


Der Sinn der Gralsfrage ist nun deutlich geworden: Parzival wird von Gott in eine Situation geführt, in der er hätte zeigen sollen, dass er Einsicht hat in das Wesen Gottes und des Menschen und in das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Aus dieser Einsicht heraus hätte er Mitleid bezeugen müssen mit dem Geschick des Menschen, das diesem aus seinem Wesen entsteht (Mitleidsfrage), hätte er erkennen müssen, was es bedeutet, in der Geborgenheit der zuht zu leben, dass nämlich die Hilfe Gottes, die, in der zuht wirkend, den Menschen vor seinem Geschick bewahrt, immer nur Gnade ist (Frage nach den Geheimnissen des Grals), und hätte aus dieser Erkenntnis heraus sich selbst völlig aufgeben, die bewährten Formen ritterlichen Seins ablegen und sich in Anerkennung seiner Ohnmacht ganz dem Willen Gottes unterwerfen müssen. Parzivals Versagen erweist, dass ihm diese Einsicht fehlt, dass er den unendlichen Abstand von Mensch und Gott noch nicht tief genug erfasst hat. Daher wird er verflucht.

Auf seinem Leidensweg, auf den ihn die Verfluchung weist, erfährt Parzival sich als der von Gott Verlassene (vgl. o. S. 128 ff.). An dieser Stelle nun muss die Frage beantwortet werden, warum von Parzival diese Erfahrung gefordert wird, warum also Gott ihn nicht sogleich mit der rechten Einsicht begnadet, warum es noch nicht die rehte zît ist und Gott Parzival das endgültige Heil noch vorenthält.

Der Antwort auf die Frage nach dem Sinn dieses Leids liegt eine allgemeinmenschliche Erfahrung zugrunde, auf die die Theologie sich stützt (vgl. o. S. 120 f.) und der auch Wolfram gefolgt sein muss: dass der Mensch die sein Leben wesentlich bestimmenden Einsichten erst dann in ihrer ganzen Tiefe gewonnen hat, wenn er zu ihnen durch eigene Erfahrung gekommen ist. Auf Parzivals Situation angewendet bedeutet dies: Erst durch die Erfahrung des eigenen Leids erkennt der Mensch das Leidvolle des Menschseins; erst durch die Erfahrung der eigenen Nichtigkeit kommt er zur Erkenntnis der Sterblichkeit des Menschen, so wie auch Christus das Leid des Menschen auf sich nehmen musste, damit er durch die Erfahrung des Leids wisse, wie erlösungsbedürftig der Mensch ist
(397).

Darum muss Parzival durch Leid lernen (vgl. o. S. 121); der Weg seines Irrens, auf den Gott ihn geführt hat, ist, da er für die Unwissenheit, an der er schuldlos ist, nicht gestraft werden kann, als Erziehung durch Leid zu verstehen, deren Ziel die Katharsis seiner Haltung zu sich selbst und zu Gott ist. Es muss im folgenden gezeigt werden, wie im einzelnen diese Erziehung geschieht.


Der Gedanke, dass Gott den Menschen zur wahren Erkenntnis führt, indem er sich in die Verborgenheit entzieht, dass er also sich in der Weise offenbart, indem er sich verbirgt, ist im Alten und Neuen Testament immer (141) wieder zu finden(398). Er macht zum Beispiel die Paradoxien verständlich, mit denen Paulus seine Situation erklärt: sterbend, und doch lebend; traurig, und doch fröhlich; nichts habend und alles habend (2 Kor 6,9 f.); und auch Hiobs Leid muss so gedeutet werden. Dass Gott sich Parzival offenbart, indem er sich ihm entzieht, ist durch die Interpretation der Gralsfrage deutlich geworden. Dieses Sich-verbergen Gottes ereignet sich, als Parzival vor Anfortas steht und nicht fragen kann, und als er verflucht wird. Vor Anfortas entzieht Gott sich Parzival, indem er die zuht unwirksam, nutzlos werden lässt, so dass sie ohne die Kraft der Gnade nichts ist als eine hohle Form. In der Verfluchung entzieht er sich, indem Parzival seine Tauglichkeiten abgesprochen werden; das heißt aber: sie sind wertlos, weil Gottes kraft nicht mehr in ihnen wirkt. So verliert er êre und prîs und all das Glück, das er sich durch êre, minne und das Gralskönigtum gewonnen hat bzw. noch zu gewinnen hoffte: ir lebt, und sît an saelden tôt (255,20).

Durch den Gnadenentzug verliert er aber nicht nur die irdische, sondern auch die himmlische Glückseligkeit:
gein der helle ir sît benant
ze himele vor der hôhsten hant:
als sît ir ûf der erden,
versinnent sich die werden.
ir heiles pan, ir saelden fluoch (316,7-11).(398a)

Indem sich Gott in die Verborgenheit entzieht, wird sichtbar, dass der Mensch ohne Gott immer schon der Hölle überantwortet ist und dass allein die Gnade ihn vor der ewigen Verdammnis bewahrt:
zer helle uns nam diu hôhste hant (398b)
mit der gotlîchen minne (465,28/29).

Gott offenbart sich als der Gnädige und Mächtige, indem er den Menschen seine Ohnmacht erfahren lässt und ihn durch Schuld (399) und Leid zur Erkenntnis führt, dass der Mensch sich nicht mit Gott messen(400), auch nicht Gott nach seinen Vorstellungen von Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht beurteilen kann, dass er nicht fähig ist, von sich aus Gott zu begreifen. Dichterisches Symbol dieses Wirkens Gottes: die Zugbrücke der Gralsburg wird hinter Parzival hochgezogen.

Gott entzieht sich Parzival, damit dieser sich als der erfahre, der in seinem Wesen nichtig und darum der Schuldhaftigkeit und Sündhaftigkeit verfallen ist, der nur durch die Gnade das ist, was er war: der ‚tüchtige’ Ritter. Am Beginn dieser Erfahrung zeigt er ihm in Cundrie das Bild des Menschen, als den er sich erfahren muss (vgl. Anm. 393): aus sich selbst peccator, durch Gott der Gerechtfertigte (vgl. o. S. 22 f.). Die Hässlichkeit Cundries ist Zeichen ihrer Sündhaftigkeit. Sie und ihr Bruder Malcreatiure sind Frucht (142) eines zweiten Sündenfalls: Den Töchtern Adams, die berhaft / wurden menneschlîcher fruht (518,12/13), war es verboten, während der Schwangerschaft bestimmte Kräuter zu essen, Kräuter,
die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten,
anders denne got uns maz (518,19-21).(400a)
Aber durch den ersten Sündenfall waren die Menschen so schwach (broede), dass einige ihrem Verlangen nicht widerstehen konnten:etslîcher riet ir broeder lîp
daz si diu werc volbrâhte,
des ir herzen gir gedâhte.
sus wart verkêrt diu mennischeit (518,26-29).

Verkehrtheit, Niedrigkeit, Unwürdigkeit, Hässlichkeit sind die Folgen dieser Verkennung des von Gott Zugemessenen, dieser ungenuht (518,14) und gir. So wird Cundrie zum Bild des durch die Sünde geschändeten Menschen: trûrens urhap, Ursprung der Verzweiflung (314,12). Chrestien schildert ausschließlich die Hässlichkeit der Gralsbotin; in ihr kann Perceval wie in einem Spiegel die Hässlichkeit seiner Sünde erkennen. Für Wolfram jedoch ist Cundrie nicht nur Bild des sündigen Menschen, sie ist als Grals-, d. h. aber: als Gottesbotin auch Bild des Erlösten; die äußere Pracht, mit der sie auftritt, ist Abbild der Gnade, die sie geheiligt hat. Schon bei ihrem ersten Auftreten, als sie Parzival verflucht, wird ihre nâch der Franzoyser siten (313,8; 778,18) geschnittene prächtige Kleidung geschildert; noch eindringlicher spricht Wolfram vom Glanz dieser Kleidung, als Cundrie Parzivals Rechtfertigung ausspricht. Für den mittelalterlichen Leser, der in allen Dingen die Spuren Gottes zu sehen gewohnt war, sind solche Entsprechungen zwischen Irdischem (hier die Kleidung) und Heilsgeschichtlichem (Gnade) nicht befremdlich gewesen. Die höfische Gesellschaft konnte sich als Abbild des himmlischen Reiches verstehen und den höfischen Glanz als Abbild der Herrlichkeit des Herrn. Könnte die Beziehung zwischen prächtiger Kleidung und Begnadung nicht hergestellt werden, so wäre nicht verständlich, dass Wolfram auf die Beschreibung der Kleiderpracht bei der Gralsprozession so viel Wert gelegt hat (232,9-30; 234,3-11; 235,8-14). Cundries Kleidung kann also als Zeichen dafür gedeutet werden, dass der Mensch in seinem Wesen zwar nichtig, doch umhüllt ist mit der Gnade, die ihn heiligt(401).

Parzival fehlt dieses Kleid der Gnade, so dass Cundrie mit Recht von ihm sagt, er sei noch ungehiurer als sie (315,24/25). Sie ist witze rîche (313,1), während Parzival, ganz seiner Nichtigkeit ausgeliefert, in tumpheit umherirrt.(143) Die Interpretation des Gralsgeschehens hat die theologische Überlegung, die dieser Interpretation vorausging - das Leid des Schuldlosen könne nur als Mittel zur Erziehung des Menschen verstanden werden (vgl. o. S. 121 f.) - auch für Wolframs Roman bestätigt. Für Wolfram ist das Leid Teil des göttlichen Heilswerks. Gott züchtigt Parzival, und zwar nicht im Rückblick auf Vergangenes, nicht eine Schuld strafend, wie Trevrizent meint, sondern im Blick auf die Zukunft: Gottes Züchtigung ist Erziehung zur Einsicht (402) in die Grenzen des Menschseins (vgl. Hiob 14,5); Parzival soll zu einer gereinigten Haltung zu sich selbst und zu Gott gelangen. Gedeutet ist auch, wie das, was die tragische, d. h. durch ungewollte Verfehlungen entstehende Schuld Parzivals genannt wurde, zu verstehen ist: Gott entzieht sich dem Menschen, er macht ihn verstockt, überlässt ihn seiner tumpheit, so dass er, ohne Einsicht handelnd, „durch Schickung unvermeidlich . . . schuldig"(403) wird. So wird der Mensch „im Tragischen daran erinnert, dass ihn Gott auch sich selbst überlassen kann, um ihm seine Ohnmacht zu zeigen"(404).

Dass Wolfram mit dieser Deutung von Schuld und Leid in einer durch Aussagen des Alten und Neuen Testaments bestimmten Tradition steht, ist schon aufgezeigt worden (vgl. o. S. 119-122). Diese Tradition wurde von Augustinus weitergetragen. Doch während bei diesem die Begnadeten durch das Leid der Nicht-Begnadeten, der ewig Verdammten, erkennen, was sie der Gnade Gottes verdanken (vgl. Anm. 318), trifft bei Wolfram das Leid, das zur Erkenntnis der Gnade führt, den Begnadeten selbst, also nur zeitweilig, nicht ewig, da es außerhalb der Vorstellung Wolframs lag, dass viele verdientermaßen für ewig verdammt seien, damit einige zur Erkenntnis kämen (vgl. o. S. 115).

Dass diese Tradition, für die das Leid Erziehung zur reineren Erkenntnis ist, noch zur Zeit Wolframs lebendig gewesen sein muss, belegen die Vorstellungen, die Thomas von Aquin von der Heilsgeschichte hat. Thomas hat sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum Gott die Menschen nicht sogleich nach dem Sündenfall erlöst, warum er sie der Folge ihrer Nichtigkeit, der Sünde, überlassen hat (vgl. o. S. 19). Es geht also um die grundsätzliche Frage, warum die Sünde und durch die Sünde das Leid von Gott zugelassen wird. Nach Thomas hat Gott „die Sünden der Menschen zugelassen und so lange ertragen, damit sie von ihrer Ohnmacht überzeugt und ihrer Abhängigkeit von Gottes Hilfe inne würden . . . Erbsünde und Sünde mit ihren Folgen sind geeignet, das Gefühl der Hilfsbedürftigkeit und die Sehnsucht nach Gnade und Erlösung zu wecken. Aus Hochmut war die Sünde entstanden. Von diesem musste die Menschheit befreit werden. Darum überließ Gott die Menschen sich selbst, damit sie erführen, wie sehr sie eines Retters und Befreiers bedürften. Sie sollten ihre Krankheit erkennen, sich ihres Sündenelends und ihrer eigenen Schwäche bewusst werden, damit sie dann um so eifriger die Gnade suchten. Aus dem gleichen Grund ist der (144) Erlöser auch nicht gleich nach dem Sündenfalle erschienen. Die Menschen sollten erst ihres Sündenelendes inne werden."(405) Sieht man davon ab, dass nach Wolfram immer tumpheit die erste Ursache der Sünde ist und Hochmut erst die Folge, so dass das Wort Sünde bei Wolfram einen anderen Sinn hat als bei Thomas, so entsprechen Thomas’ Überlegungen dem, was als Darstellungsabsicht Wolframs den Darstellungsmitteln seines Romans entnommen wurde, so genau, dass Parzivals Leidensweg als eine Wiederholung des Heilswegs vom Sündenfall über das Leid der Gottesferne bis hin zur Erlösung gedeutet werden kann. Gemeinsam ist auch der Unterschied zu Augustinus: Der Radikalität der Augustinischen Prädestinationslehre, dass nur wenige begnadet seien und das Leid der Verdammten dazu gut sei, dass die Begnadeten zur Erkenntnis ihres Zustands gelangen, können Thomas und Wolfram nicht folgen.

Der Gedanke, dass der Mensch durch Leid zur Erkenntnis seiner selbst und dadurch zur Erkenntnis Gottes kommt(406) und dass darum Gott ihn in Leid führt, ist von der Theologie in der Absicht gedacht worden, eine Theodizee zu begründen. Denn aufgrund dieses Gedankens kann das Übel sinnvoll in die Heilsgeschichte eingeordnet werden. Doch hat man diesen Gedanken vermutlich nicht nur deshalb gedacht, weil das Leid nicht zu leugnen war und darum mit in die Heilsverheißungen Gottes hineingenommen werden musste; es wird auch ein anthropologischer Gesichtspunkt bestimmend gewesen sein, nämlich die Einsicht, dass der Mensch den Wert des Einen erst durch die Erfahrung des Gegenteilig-Anderen völlig ermessen kann, dass er etwa erst im Verlust und durch den Verlust ganz begreift, was er besessen hat bzw. wieder besitzen wird. Hölderlin hat diese Erfahrung, auf das Religiöse übertragen, so formuliert:
So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben
Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht.Tragen muss er, zuvor; . . .(407)

Nachdem Parzival die zuht, in der die Gnade wirkt, gelernt hatte, war Gott immer mit Parzival, ohne dass es diesem im Grunde bewusst geworden wäre. Nun, im Leid, ohne die zuht, ohne das Kleid der Gnade, soll er erkennen, dass er verloren ist, und in dieser Verlorenheit einsehen, was es bedeutet, dass Gott mit ihm war. So soll er Gott begegnen, indem sich Gott ihm entzieht. In dieser Begegnung soll ihm offenbar werden, was jeder, Gott und Mensch, in seinem Wesen ist, jeder soll rein in seinem Eigenen erscheinen; oder, wenn man Leben in der Gnade als das bezeichnet, was dem Menschen eigen ist: im Durchgang durch das Fremde (Gottverlassenheit) soll er das ihm Eigene (Leben in Gott) tiefer begreifen.

Diese Erkenntnis wird um so reiner sein, je größer die Fallhöhe von der Herrlichkeit zur Erniedrigung ist (vgl. o. S. 11; S. 134). Darum leuchtet die Gnade dem Menschen um so heller, je mächtiger die Sünde ist, in die (145) der Mensch in seiner Erniedrigung gefallen ist (Röm 3,5; 3,7; 5,20; vgl. o. S. 120), bzw.: je herrlicher der Mensch war, der erniedrigt wurde, um so tiefer wird er begreifen, was es heißt, durch Gott erhöht zu sein. Darum kommt Cundrie zu Parzival und nimmt ihm alles, was er ist, gerade in dem Augenblick, als er am Artushof als der Vollkommenste gefeiert wird; ebenso wie im Buch Hiob der Satan den ins Leid stürzt, der alle Bewohner des Ostens übertrifft(408).

Parzivals Lernen als Reifeprozess


Durch Schuld und Leid soll der Mensch seine Gefährdung erkennen und in Demut sein Geschick - seine Endlichkeit und Sündigkeit - auf sich nehmen. Darum hat H. Kolb die Zeit von Parzivals Leid als ‚Schola humilitatis’ bezeichnet. „Die Wahl dieser Formel setzt mit ihrem ersten Bestandteil voraus, dass Parzivals Weg zum Gral von vornherein nicht als ein Gewähren- und Reifenlassen von innen, sondern als eine bewusst von außen eingreifende Erziehung angesehen wurde: als eine Schule, in der ein Mensch herangezogen wird zu dem, was er nach ihrer Absicht und ihrer Zielsetzung werden soll"(409), nämlich ein Mensch, der, wissend um sein Geschick, nicht selbstverständlich und sicher sich in seiner durch zuht gesicherten Existenz geborgen fühlt, sondern unsicher geworden, weiß, was es heißt, in Gott geborgen zu sein.

Diese Formel ‚Schule der Demut’ setzt aber voraus, dass Parzival wirklich lernt und dass er etwas zu lernen hat. Dass Parzival durch die Erfahrung des Leids wissend werde, streitet W. J. Schröder ab: Parzival „macht gar keine Erfahrungen"(410). „In den viereinhalb Jahren, in denen er umherirrt und den Gral sucht, ist er nicht im geringsten klüger geworden, das ‚Leben’ hat ihn nicht reifer gemacht."(411) Parzival stelle sich auch nach der Erfahrung des Leids immer noch gegen Gott und werfe ihm vor, dass dieser ihm nicht geholfen habe (vgl. o. S. 82), er rechte immer noch mit Gott und fordere von ihm, dass er ihm helfe (vgl. o. S. 83). Hier erweise sich Parzivals Unreife.

Die Behauptung, Parzival lerne durch sein Leid, kann also nur aufrecht erhalten werden, wenn dieses Lernen als Reife p r o z e s s interpretiert werden kann, wenn also nachgewiesen werden kann, dass Parzival anders als bei der Belehrung durch Herzeloyde und Gurnemanz (vgl. o. S. 50 f.; S. 61; S. 68; S. 112) zur Reinigung seines Gottesverhältnisses einen langen Weg braucht(412). Der Unterschied zwischen dem Lernen durch die Belehrungen Herzeloydes und Gurnemanz’ und dem Lernen durch das Leid kann, wenn Parzivals Lernen durch Leid als ein langsamer Prozess sich aus dem Text belegen lässt, durch den Unterschied in dem, was gelernt wird, erklärt werden. Bei Herzeloyde und Gurnemanz erfährt er das, was ein Ritter über Gott und Welt wissen muss und begreifen kann; durch die Erfahrung (146) des Leids soll er lernen, was jedes Begreifen übersteigt: aus der Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit heraus einem Gott zu vertrauen, der den einen ins Leid stürzt, den anderen nicht, der den Unschuldigen leiden lässt und so sich als der offenbart, der nicht an menschliche Vorstellungen von ihm gebunden ist.

a) Die Begegnung mit Sigune


Es wurde gesagt, dass das Leid Anfortas’ und Sigunes (vgl. Anm. 342) für Parzival Zeichen der Nichtigkeit des Menschen ist. Denn ihr Leid ist ein Leid, das aus dem Wesen des Menschen kommt, vor dem also Parzivals Versuch, durch zuht zu helfen, wirkungslos bleibt, dem er also mit reinem Mitleid hätte begegnen müssen. „In Sigune . . . tritt nun Parzival . . . in seinem Leben das Bild menschlichen Leides schlechthin gegenüber . . . In ihrem Bild mag sich für Parzival alles zusammenschließen, was er bei andern und bei sich an Leid erlebt hat. Hier tritt es ihm sichtbar entgegen; und das heißt: hier wird es ihm bewusst."(413)
Wenn es ihm in seiner ganzen Tiefe bewusst wird, hat Parzival das gelernt, was er durch die Erfahrung seines Leids lernen soll. Darum kann eine Untersuchung der Begegnungen Parzivals mit Sigune bestätigen, ob Parzival durch eigene Leiderfahrung wissender geworden ist.

Bei der ersten Begegnung erweist er sein natürliches, angeborenes Mitleid; sofort will er, an seine Kraft glaubend, helfen: er will mit dem kämpfen, der Schionatulander getötet hat, er will Sigune von ihrem Leid erlösen, das Unrecht, das ihr angetan wurde, wieder gutmachen:
swenne ich daz mac gerechen,
daz wil ich gerne zechen (141,27/28).(413a)

Sigune aber weiß, dass dieses Tun sinnlos wäre und nur noch mehr Leid brächte.

Bei der zweiten Begegnung - Parzival hat bei Gurnemanz die zuht gelernt - hat sich seine Haltung nicht geändert. Aus Nächstenliebe, die sich in Mitgefühl zeigt, will er Abhilfe schaffen, und immer noch glaubt er, dazu die Kraft zu haben; er vertraut ganz seiner ritterlichen zuht. Er bietet Sigune seine Dienste an (249,29/30) und rät ihr, Schionatulander zu begraben (253,8).

Zum dritten Mal begegnet Parzival Sigune, nachdem er selbst Leid erfahren hat. Sollte Parzival durch diese Erfahrung gelernt haben, so müsste diese Begegnung anders verlaufen als die beiden ersten. Wieder tritt Parzival Sigune voller Mitleid entgegen:
ir kumber was im swaere (440,22);
doch nun bleibt es bei diesem Mitleid; es findet sich kein Wort davon, dass Parzival, wie bisher, glaubt, helfen zu können. Der Schluss, den ich aus (147) diesem Verzicht auf tätige Hilfe ziehen möchte: dass Parzival aufgrund der Erfahrung eigenen Leids Sigunes Leid mit anderen Augen betrachtet, dass er erkannt hat, dass er Sigune nicht helfen kann, dass er also wissender geworden ist, wird durch folgende Beobachtung bestätigt: Da er Sigunes Leid nun in seiner ganzen Tiefe erkannt hat, hofft er, Sigune könne ihm raten in seinem Leid. Sigunes Antwort setzt voraus, dass sie glaubt, der Mensch lerne durch Leid; denn als sie erkennt, wie sehr Parzival leidet, weiß sie, dass Parzival, nun nicht mehr tump, sondern, durch Leid wissender geworden, der Erkenntnis, die auf der Gralsburg gefordert wird, näher gekommen ist. Das Gespräch zwischen Parzival und Sigune zeigt dies deutlich:
niftel Sigûn, du tuost gewalt,
sît du min kumber manecvalt
erkennest, daz du vêhest mich.’
diu maget sprach ‚al mîn gerich
sol ûf dich, neve, sîn verkorn (441,15-19); (413b)
und an Parzivals Leid erkennend, dass er für die Frage reifer geworden ist, weist sie ihn auf den Weg, auf dem er mit Gottes Hilfe den Gral finden soll:
si sprach ‚nu helfe dir des hant,
dem aller kumber ist bekant;
ob dir sô wol gelinge,
daz dich ein slâ dar bringe,
aldâ du Munsalvaesche sihst,
dâ du mir dîner freuden gihst (442,9-14).(413c)


b) Die zwei Stufen der Erkenntnis


Parzival ist also auf seinem Leidensweg wissender geworden, er weiß jetzt um die Nichtigkeit des Menschen, so dass der Erzähler bestätigen kann, dass Parzival nun vor Anfortas das reine Mitleid hätte zeigen können:
ich waene er het gevrâget baz (443,2),sagt er von Parzival, als dieser sich aufmacht, um nach der Weisung Sigunes den Gral zu suchen. Er bekräftigt seine Ansicht mit den Worten:
hin rîtet Herzeloyde fruht.
dem riet sîn manlîchiu zuht(!)
kiusch unt erbarmunge:
sît Herzeloyd diu junge
in het ûf gerbet triuwe,
sich huop sîns herzen riuwe.
alrêrste er dô gedâhte,
wer al die werlt volbrâhte,
an sînen schepfaere,
wie gewaltec der waere (451,3-12).
(413d)(148) Aus der Erfahrung seiner Ohnmacht erinnert sich Parzival zum ersten Mal wieder an die Allmacht Gottes, und es beginnt ihn zu schmerzen (riuwe), dass er diese Allmacht verkannt hat, so dass im zeitlichen Nacheinander zwei Stufen des Reifens sichtbar werden: Die erste Stufe ist die der Selbsterkenntnis, der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht; dieses Wissen besitzt er schon bei der dritten Begegnung mit Sigune. Auf der zweiten Stufe gewinnt Parzival die reine Erkenntnis Gottes. Sie endet in der völligen Hingabe an Gott, in dem Aufgeben jedes Rechtens mit diesem Gott, der den Unschuldigen leiden lässt. Erst dann ist Parzival vollends reif zur rechten Frage.

Der Beginn dieses Reifeprozesses liegt freilich wieder nicht beim Menschen, denn dieser hat keine Möglichkeit, seine Situation zu durchschauen, wenn Gott ihn verlassen hat (vgl. o. S. 130). Darum muss Gott zu Beginn dieses Prozesses dem Menschen die Sicht wiedergeben, damit er die Erfahrung des Leids auch deuten kann, damit diese Erfahrung für ihn fruchtbar wird. So weist der Erzähler am Anfang des Lernens ausdrücklich darauf hin, dass Gott sich Parzival wieder zuwendet.
sîn wolte got dô ruochen (435,12).(413e)
Gott legt in Parzival den Funken der Erkenntnis, dessen Entfaltung zu einem beständigen hellen Licht als Prozess des Lemens und Reifens gedeutet werden darf(414).

c) Parzival vor Trevrizent


Es gehört zum Sinn des tragischen Geschehens, dass der Betroffene das tragische Geschick tapfer besteht, was ohne Wissen um dieses Geschick nicht denkbar ist. „Der Träger des tragischen Geschehens, der in einen ausweglosen Konflikt Verstrickte muss all das in sein Bewusstsein gehoben haben
und es wissend durchleiden. Wo ein willenloses Opfer dumpf und stumpf zur Schlachtbank geführt wird, bleibt tragische Wirkung aus.
(415) Denn hier, im Akt des Auf-sich-nehmens der Schuld, der ein einsichtiges Jasagen zum Menschenwesen bedeutet, liegt die Leistung des Helden der griechischen Tragödie; hier kann er seine Freiheit bestätigen, die ihm beim Schuldigwerden fehlte (vgl. o. S. 16 f.).

In christlicher Sicht ist auch noch dieser Akt Ereignis der Gnade Gottes. Der Prozess des Reifens wird also nicht nur durch die Erfahrung des Leids bewirkt, sondern auch durch die von Gott ermöglichte Erkenntnis des leidvollen Geschicks. Parzival muss sich Rechenschaft ablegen über sein Leben in einer Rückerinnerung an das, was durch ihn infolge seiner Nichtigkeit,
tumpheit geschehen ist. Dieses Rechenschaft-ablegen geschieht im 9. Buch ineins mit einer Deutung des Grals als des Zeichens der Gegenwart Gottes.

Durch die Erfahrung seines Leids ist Parzival aufgeschlossen zur demütigen Anerkennung dessen, was durch seine Schuld an Verfehltem geschehen ist. (149) Darum steht am Beginn seines Bemühens, sich über sein Tun Rechenschaft zu geben, das Bekenntnis:
ich bin ein man der sünde hât (456,30; vgl. 783,7).

Er leidet darunter, dass durch ihn, auch wenn er es nicht so wollte, Leid in die Welt gekommen ist, dass die Ritterschaft auf der Gralsburg seinetwegen nicht erlöst wurde (vgl. Anm. 395). Er leidet auch darunter, dass er sich gegen die Regeln der
zuht vergangen, die ritterliche Ethik verletzt hat, als er den rêroup genam (475,5), auch wenn er, an den witzen toup (475,6), nicht wusste, was er tat. Und vollends erkennt er den Abgrund, der ihm durch sein Menschsein droht, als er von Trevrizent erfährt, dass Ither sein Verwandter war und dass seine Mutter seinetwegen durch Leid umkam. Im Gespräch mit Trevrizent erfährt Parzival also von der Gegenwart der Größe und Güte Gottes unter den Menschen und von des Menschen Nichtigkeit und Endlichkeit, aufgrund derer er unwissentlich jene Verfehlungen beging, aufgrund derer Anfortas der Übermacht der minne erlag.

d) Parzivals Demut als Ziel seines Lernens


Der eigentliche Sinn des Gesprächs liegt für Parzival darin, dass er zur Selbsterkenntnis kommt. Die zweite Stufe seines Reifeprozesses, die Erkenntnis Gottes, hat er, während er bei Trevrizent weilt, noch nicht ganz erreicht, obwohl er nun über den Gral belehrt ist; darum ist der Weg seines Leidens noch nicht beendet. Denn Parzival denkt, obwohl er über den Abgrund, der sich vor ihm aufgetan hat, entsetzt ist, immer noch verzweifelt daran, dass er an diesen Verfehlungen nicht schuld ist (vgl. o. S. 93-98; S. 145). Am Ende seines Weges aber spricht Parzival aus völlig anderer Haltung heraus; sein schuldec ich mich geben wil (688,28) klingt nun anders als das ich bin ein man der sünde hât, das er vor Trevrizent spricht. Zwar wird er nie Trevrizent recht geben können, der von Parzival ein Bekenntnis seiner Schuld als zurechenbarer Sünde erwartet; doch betont er nun nicht mehr seine Unschuld, sondern nur noch seine Schuldhaftigkeit, durch die er teilhat an der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit, der ursprünglichen Schuldhaftigkeit des Menschengeschlechts. Er hat erkannt, dass er als Mensch nicht mit Gott rechten kann, weil Gott im Vergleich zur Nichtigkeit des Menschen so hoch über den Menschen erhaben ist, dass der Mensch Gottes Tun nie begreifen kann.

Indem Parzival noch auf Gottes Güte hofft, obwohl er sich - schuldlos - für immer im Leid glaubt (vgl. o. S. 103 f.), indem er also auf jedes Begreifen verzichtet, hat er mit der Gnade Gottes erreicht, was er lernen soll. In einer solchen Demut hat die Anerkennung der eigenen Nichtigkeit und der Unbedingtheit Gottes eine Radikalität erreicht, die nicht mehr übertroffen werden kann.

(150) Durch diese Haltung ist er auch seinem Vor-bild, Sigune, gleichgeworden, denn auch diese hat nicht aufbegehrt angesichts des Leids, das ihr aus ihrer Menschennatur entstanden ist, sondern sich ganz in den Willen Gottes ergeben; sie hat ihr Leid demütig angenommen, voller Vertrauen in den Sinn des Waltens Gottes, durch den aus Leid noch Trost kommen kann.

In der gereinigten Haltung Parzivals findet auch der unverzaget mannes muot seine Erfüllung. Er zeigt sich nun als die Tapferkeit, die Parzival in der vollen Erkenntnis und Anerkennung der menschlichen Nichtigkeit ausharren lässt, so dass er nicht in Verzweiflung fällt, sondern Gelassenheit gewinnt. Durch diese Gelassenheit erfährt er im Leid die Gegenwart Gottes als des Unbegreiflichen; in der Gottesferne anerkennt er Gott als den Fernen und stellt sich ganz unter seinen Willen(416). Indem er vollkommen resigniert (vgl. o. S. 103) und dennoch tapfer ausharrt, erweist sich die Vollendung seines Glaubens, der glaubt, dass Gott dennoch seine Verheißungen erfüllen wird.

Aus dieser Haltung heraus kann er nun die Zeichen, die ihm auf der Gralsburg im Leid des Anfortas und in den Wundern des Grals gegeben worden waren, in rechter Weise deuten, und er kann wirksam fragen. Denn Gott antwortet auf diese Haltung mit der Erlösung aus der Nichtigkeit: Anfortas wird vom Leid befreit; Parzival wird Gralskönig. So erfährt Gottes Handeln von diesem Ende her seine Rechtfertigung.

Es sind vor allem drei Ereignisse, in denen sich Parzivals neue Haltung zeigt: der Kampf mit Gawan, der mit Feirefiz und die zweite Begegnung mit Cundrie. In den Kämpfen mit Gawan und Feirefiz gerät Parzival in die Gefahr, ein zweites Mal Brudermord zu begehen; beinahe hätte er wieder, ohne es zu wollen und zu wissen (umb unscbulde; 737,24), diesen großen Fehl begangen. Doch Gott, im Zufall (vgl. o. S. 8; S. 25) und in der zuht (vgl. o. S. 26) wirkend, bewahrt ihn davor:
hiest krumbiu tumpheit worden sleht (689,26); (416a)
im Kampf mit Feirefiz, bei dem der Erzähler den Gral um Hilfe fleht (740,19; vgl. 737,25-27; 744,24), zerbricht Gott das Ither-Schwert (744, 14-16).

Als Parzival entdeckt, dass er gegen Gawan gekämpft, in welcher Gefahr er sich also befunden hat - wênc gewunnen, vil verlorn / hât zwer behaldet dâ (in diesem Kampf) den prîs: / der klagtz doch immer, ist er wîs (680, 4-6) (416a) - (417), zeigt sich die eine Seite des neuen Verhältnisses zu Gott: der mannes muot, der ihm die Kraft gibt, in absoluter Resignation seine Nichtigkeit anzunehmen und ihre Folgen auf sich zu nehmen und nicht sich gegen Gott aufzulehnen. In einer ergreifenden Klage bekennt Parzival seine Nichtigkeit:

(151)‚unsaelec unde unwert
bin ich’, sprach der weinde gast.
‚aller saelden mir gebrast,
daz mîner gunêrten hant,
dirre strît ie wart bekant.
des was mit unfuoge ir ze vil.
schuldec ich mich geben wil.
hie trat mîn ungelücke für
unt schiet mich von der saelden kür.
Sus sint diu alten wâpen mîn
ê dicke und aber worden schîn.
daz ich gein dem werden Gâwân
alhie mîn strîten hân getân!
ich hân mich selben überstriten
und ungelückes hie erbiten.
do des strîtes wart begunnen,
dô was mir saelde entrunnen’ (688,22-689,8).(417a)

Auch wenn die tragische Schuld durch die Gnade vermieden ist, wird die Gefährdung des Menschen, die aus seinem Wesen kommt, offenbar (vgl. o. S. 25); und Parzival erkennt auch in dieser Situation, in der er vor den Folgen seiner tumpheit bewahrt wird, das Gesetz, unter dem sein Leben stand:
Sus sint diu alten wâpen mîn
ê dicke und aber worden schîn (689,1/2).

Im Feirefiz-Kampf, dessen Sieger wie im Kampf mit Gawan nur herzen riwe (742,26) davontragen würde, zeigt sich die andere Seite der neuen Haltung: Parzival erweist sein Gottvertrauen: der getoufte wol getrûwet gote (741,26).

Und als Gott das Unheil abgewendet hat und Parzival die Gefährdung erkennt, vor der ihn Gott bewahrt hat, klagt er nun nicht mehr, da er sich Gott ganz anheimgegeben hat.

Schließlich beweist Parzival seine Demut auch Cundrie gegenüber. Sie, die im Auftrag Gottes Parzival verflucht hatte, bittet um Verzeihung, da sie ihn wegen einer Schuld verflucht hat, die sie ihm nicht zurechnen kann (vgl. Anm. 393). Parzival verzeiht ihr, nicht weil er glaubt, dass er subjektiv schuldig sei, wohl aber, weil er weiß, dass er das Leid des Anfortas und der übrigen Gralsritter verschuldet hat, wenn auch ohne Wissen und Wollen. Er bekennt vor ihr, dass er objektiv missetân (783,13) hat, nimmt also diese Schuld auf sich. Darum begehrt er nicht mehr gegen die Verfluchung durch Cundrie auf, wenn er auch nicht verstehen kann, dass er für eine Verfehlung, die er ohne Wissen und Wollen beging, so leiden muss. Doch nimmt er, indem er Cundrie verzeiht, das Unbegreifliche an, als das sich Gottes Taten erweisen. (152)

Die Frage nach dem Sinn der Zuordnung von Artus- und Gralsrittertum


Von Parzivals Schuld auf der Gralsburg wurde immer unter der Voraussetzung gesprochen, dass die Tauglichkeiten, die Parzival besitzt, nicht abgewertet werden dürfen (vgl. o. S. 137), dass also Parzival nicht deswegen versagt, weil die zuht etwas Schlechtes sei. Diese Voraussetzung schließt zugleich mit ein, dass aus dem Versagen der zuht nicht ein Versagen und eine Verschuldung des ganzen Artusrittertums, für das Parzival stellvertretend steht, konstruiert werden darf (vgl. o. S. 30; S. 51), so als repräsentierten die Artusritter die sündige, darum gnadenlose Menschheit. Die Haltung der zuht, die dieses Artusrittertum auszeichnet, hat - dies ist im 2. Kapitel belegt worden - nichts Negatives an sich. Denn wäre diese Haltung wertlos und das Artusrittertum der sündige Teil der Menschheit, so wäre nicht zu verstehen, dass Parzival, bevor er Gralskönig wird, wieder in die Gemeinschaft der Artusrunde aufgenommen wird; es wäre auch nicht einzusehen, warum Parzival die Werte dieser Ethik, etwa den der êre, auch nach der Verfluchung noch schätzt, den Verlust von êre und prîs tief bedauert und, nachdem er die Demut gewonnen hat, sich um êre und prîs wieder bemüht, und zwar in der gleichen Weise um die gleichen Werte wie vor dem Weg seines Leidens und Reifens. Die Werte des Artusrittertums bleiben also trotz Parzivals Versagen gültig. Indem die Artusritter nach diesen Werten, die in der
triuwe wurzeln (vgl. o. S. 56 f.), leben, wird sichtbar, dass sie das rechte Verhältnis zu sich und Gott besitzen (vgl. o. S. 51 ff.), so dass man sagen muss: Wenn Parzival versagt, so versagt nicht in ihm die ganze ritterliche Welt (vgl. o. S. 51), sondern nur er selbst, so wie auch nicht diese ganze Welt des Artusrittertums in Leid fällt, sondern nur Parzival.

Was bedeutet diese Sonderstellung Parzivals? Erst wenn diese Frage beantwortet ist, hat die Interpretation die These, das Leid des Unschuldigen sei als Bevorzugung zu deuten, ganz eingeholt. Mit der Interpretation von Parzivals Reifeprozess als Katharsis, als deren Ziel die Gewinnung einer gereinigten, vertieften Haltung sich selbst und Gott gegenüber angesehen wurde, ist schon ein erster Schritt zur Deutung dieser Sonderstellung getan. Darum muss gezeigt werden, welchen Sinn es hat, von einer Reinigung, Vertiefung zu sprechen.


Gegen eine solche Deutung gibt es einen gewichtigen Einwand: Wenn die Haltung der Artusritter ohne Tadel ist und damit auch die Parzivals in der Zeit vor dem Versagen auf der Gralsburg, so ist der Handlungsverlauf des Romans zunächst nicht zu verstehen. Denn wozu soll es gut sein, dass jemand sich in einem Lernprozess aneignet, was er vorweg schon besaß und was die anderen immer besitzen, ohne dass sie es sich in einem solchen Lernprozess neu zu gewinnen brauchen? Die Rede vom ‚vertieften’ Wissen lässt folgende Antwort auf diese Frage vermuten: Könnte nicht dieser Lern(153)prozess den Sinn haben, dass auf diesem Weg die Haltung, aus der der Artusritter lebt, einsichtiger, durchsichtiger wird, so dass der Grund sichtbar wird, aus dem diese Haltung hervorgeht? Diese Antwort würde sich insofern dem bisher Dargelegten gut einfügen, als die Haltung, die auf ihren Grund hin erhellt wird, dadurch keine Abwertung erfährt (vgl. Anm. 434).

Die Notwendigkeit eines solchen Geschehens, dass das Sein der Artusritter auf seinen Grund hin durchsichtig gemacht wird, ist aus sich heraus nicht zu begründen, und auch nicht durch eine Analyse des Verhaltens der Artusritter; denn dieses Verhalten zeigt keinen Mangel, der den Anstoß dazu geben könnte, seinen Grund sichtbar zu machen. Ausschließlich aus dem Handlungsverlauf, aus den Darstellungsmitteln des Romans lässt sich ableiten, dass Wolfram eine solche Notwendigkeit sah, dem rechten Leben, so wie es die Artusritter repräsentieren, etwas zur Seite zu stellen, das dieses Leben auf seinen Grund hin erhellt. Denn aufgrund dieses Nebeneinanders kann verständlich gemacht werden, dass Wolfram nicht nur einen Artusroman schreibt, sondern der Handlung des Artusromans das Geschehen um den Gral zuordnet, durch das Parzival im Leid zu tieferer Erkenntnis kommt. Dem Sinn, den die Zuordnung von Artusrittertum und Gralsrittertum hat, muss, da das Nebeneinander von Artus und Gral den Roman wesentlich bestimmt, weiter nachgefragt werden; es muss verdeutlicht werden, was es bedeutet, dass durch das Geschehen um den Gral der Grund aufgezeigt wird, in den sich die Haltung der Artusritter gründet, welchen Sinn also der oben häufig zu Erkenntnis, Wissen, Erfahrung gesetzte Komparativ ‚tiefer’ hat, welchen Sinn es hat, dass jemand, indem er dieses tiefere Wissen gewinnt, über die Norm herausgehoben wird (vgl. o. S. 122).

Die Eigenart des Artusrittertums und des Gralsrittertums


Damit der Sinn dieser Zuordnung deutlicher wird, soll zunächst die Eigenart der beiden Menschengruppen, die einander zugeordnet sind, charakterisiert werden. Offenbar werden die Menschen in Wolframs Roman unterschieden in solche, die aus einem selbstverständlichen Wissen um das Rechte handeln, und solche, die dieses rechte Wissen bis auf den Grund durchdringen.

Das zunächst Befremdliche dieser Unterscheidung kann etwas vertrauter gemacht werden durch einen Hinweis auf die Tradition, in der Wolfram bzw. Chrestien mit einer solchen Aufteilung der Menschen in zwei Gruppen stehen. Ich denke an die Tradition der Elitevorstellung (vgl. Anm. 432), die unter ‚Elite’ jene Menschen versteht, die die Mehrheit geistig führt. So spricht Heraklit von Schlafenden und Wachenden, Plato vom Philosophen, der zugleich auch politisch der Herrschende sein soll. Im Höhlengleichnis weist er darauf hin, dass diejenigen, die der Wahrheit näher kommen als die übrigen, zugleich gefährdeter sind. Auch das Christusgleichnis vom Salz der Erde, vom Sauerteig und dem Licht der Welt gehört in diesen Zusammenhang ebenso wie die Augustinische Unterscheidung in (154) Berufene und Verdammte. Wie im Politischen vom Elitegedanken her der Anspruch auf Herrschaft über Menschen gerechtfertigt wird, so im Geistigen der Anspruch auf Menschenführung.

Dass Wolfram in ähnlicher Weise die Menschen unterscheidet, belegt der Prolog. Dort scheidet er sein Publikum in tumbe und wîse und stellt sich mit viel Selbstbewusstsein als Präzeptor der wîsen vor (vgl. o. S. 116). Darum ist es nicht abwegig, die Unterscheidung in Artusritter und Gralsritter in diese Tradition hineinzustellen(418). (418a)

a) Das Verbindende zwischen Artus- und Gralsrittertum


Die entscheidende Frage, die jetzt an Wolframs Roman gestellt werden muss, lautet: Wie weit geht diese Unterscheidung? Ist mit dem Gedanken der Elite für Wolfram zugleich eine Abwertung derer verbunden, die nicht zu ihr gehören, also der Artusritter? Ist dieser Unterschied als Wesensunterschied, wie es oft dargestellt wird (419), oder nur als „ein gradmäßiger Unterschied"(420) zu denken?

Dass eine wesensmäßige Unterscheidung nicht der Absicht Wolframs entspricht, ist nachgewiesen worden. Es kommt Wolfram nicht in den Sinn, das Ethos der Artusritter in irgendeiner Weise zu kritisieren, auch nicht in der Weise, dass er, wie gemeint wurde, das Leben der Artusritter als allzu freundlich, allzu meienbaere (281,16), allzu problemlos darstelle, so dass dem Leser dieses Leben im Vergleich zur Wirklichkeit als verlogen erscheinen müsse. Dagegen spricht die Bemerkung des Erzählers, dass die Artusritter prîs mit arbeit holten (652,12; vgl. o. S. 43). Ironisch abwertend kann gleichfalls nicht das Modische gemeint sein, das von diesem Rittertum mit Eifer gepflegt wird, denn es ist auch auf der Gralsburg zu finden (z. B. 228,7-12; vgl. o. S. 142). Es zeugt lediglich von einer Vorliebe für dieses Modische, die Wolfram mit seinen Zuhörern teilt. Und dass schließlich die zuht dieser Artusritter im allgemeinen und Parzivals im besonderen als der Inbegriff ihres Ethos in keiner Weise Ursache einer Abwertung und damit Zeichen des Gegensatzes zum Gralsrittertum sein kann, wird schon dadurch deutlich, dass sie in gleicher Weise das Leben auf der Gralsburg bestimmt (vgl. o. S. 77 f.).

Vor allem an Gawan als dem eigentlichen Repräsentanten des Artusrittertums zeigt Wolfram, dass zwischen Artus- und Gralsrittertum kein Gegensatz besteht. Indem er Gawans Haltung und Handeln als untadelig und von der Gnade Gottes erfüllt ansieht (vgl. o. S. 24 ff.), gibt er eine Bewertung, die einer wesensmäßigen Verschiedenheit widerspricht. Den Hinweis, dass eine solche Verschiedenheit nicht vorliegt, sondern dass trotz der Unterschiede letztlich Artus- und Gralsrittertum als Einheit zu denken sind, gibt er im Bild der Freundschaft zwischen Gawan und Parzival: Wie Gawan und Parzival eine Einheit sind (690,1; 689,5), so gehören auch die beiden Welten wesensmäßig zusammen.

(155) Bestünde zwischen Artus- und Gralswelt ein grundsätzlicher Gegensatz, so bliebe auch unverständlich, dass zwischen beiden Welten enge Beziehungen bestehen: Die am Gralshof erzogenen Ritter und Jungfrauen heiraten nicht unter sich - auf der Gralsburg gilt das Gebot der Keuschheit -, sondern werden in die Artuswelt hinausgesandt, damit sie dort heilsam wirken; sie gebent . . . gewin (494,4). Sie gehen dorthin, woher sie gekommen sind; denn sie sind durch das Epitaph ausgewählt aus der Welt (471,5-9; 494,5/6), in die sie wieder zurückgesandt werden. Von einer in sich abgeschlossenen Gemeinschaft, die sich in ihrer Andersartigkeit gegen die übrige Welt absetzen, möglicherweise sie sogar überwinden und ablösen könnte, kann also nicht gesprochen werden(421).

b) Der Unterschied zwischen Grals- und Artusrittertum


Andererseits sind aber auch Grenzen gezogen: Wer als Unberufener diese Grenze überschreitet, wird von den Gralsrittern zu einem Kampf auf Leben und Tod gezwungen (426,3-6); darum verbietet König Artus seinen Rittern jeden Kampf, als sie in die Nähe der Gralsburg kommen. Der durch die Grenze festgelegte Unterschied muss nun gedeutet werden; der Hinblick auf die Beziehungen, die zwischen den Bereichen bestehen und sie zur Einheit zusammenbinden, darf dabei nicht verlorengehen.

Parzival und Gawan verweisen nicht nur aufgrund ihrer Freundschaft auf die Einheit von Gralswelt und Artuswelt, sondern aufgrund der Unterschiede in ihrem Lebenslauf auch auf die Verschiedenheit der beiden Welten. „Gawans und Parzivals Wege stehn unter entgegengesetzten Zeichen."(422) Während Gawan durch Gottes Gnade alles gelingt (vgl. o. S. 24 f.; S. 27) und er mit einem selbstverständlichen Gottvertrauen sich als der Erlöste in dieser Gnade geborgen weiß(423) (Vgl. o. S. 25; S. 52 f.), muss Parzival durch tragische Schuld und tragisches Leid die Gottverlassenheit und somit seine Nichtigkeit erfahren, um durch diese Erfahrung zu erkennen, was es bedeutet, sich im Vertrauen auf Gottes Güte dieser ganz hinzugeben, auch und gerade im Leid. Parzival aber repräsentiert das Geschick aller Gralsritter, das an Anfortas, dem Gralskönig, exemplarisch sichtbar wird. Das ganze Tun der Gralsritter geschieht im Bewusstsein ihrer Sünd- und Schuldhaftigkeit (468,29/30).

Verallgemeinernd kann man über den Unterschied von Grals- und Artusritter sagen: In den Gralsrittern werden die Menschen dargestellt, die durch Erfahrung eines tragischen Geschicks ihrer Nichtigkeit vertiefter innewerden als andere, die vor einer solchen Erfahrung bewahrt werden. Diese, durch die Artusritter repräsentiert, brauchen nicht um die Probleme des Lebens zu ringen, denn ihnen wird das Leben nicht zum Problem, da sie sich sicher fühlen in der Konvention ihrer Sitte und Gesittung und aus dieser Sicherheit heraus ganz selbstverständlich Heil und Unheil ihres Lebens bestehen. (156) Meist sind sie auch nur von außen her und vorübergehend gefährdet; vor tiefem Leid, das aus ihnen selbst, aus ihrer Un-vernunft kommen könnte, bewahrt sie ihr Geschick. Doch wirken diese Menschen darum nicht oberflächlich im gewöhnlichen Sinne. Ihre Oberfläche ist liebenswert, hell, schön; sie ist geprägt von Huld und Freundlichkeit und von strahlender Diesseitsfreude: Abglanz der Huld und Freundlichkeit Gottes und der himmlischen Freude. Ihr Leben kann uneingeschränkt christlich genannt werden, wenn auch diese strahlende Oberfläche nicht getrübt wird durch „die Erfahrung des Wechsels von Gottnähe und Gottferne"
(424). So wird Gawan durch seine in ungebrochenem Gottvertrauen wurzelnde „Lebenssicherheit"(424) und Frömmigkeit zum Vorbild für all die, die zwar nicht zum Gral erwählt, aber keinesfalls verworfen sind. Für sie gelten ganz selbstverständlich die programmatischen Verse des Schlusses:
swes lebn sich sô verendet,
daz got niht wirt gepfendet
der sêle durch des lîbes schulde,
und der doch der werlde hulde
behalten kan mit werdekeit,
daz ist ein nütziu arbeit (827,19-24) (425).(425a)

Die Gralsritter dagegen vertreten den Menschentyp, der grüblerisch um den Sinn des Lebens ringen, der es in seiner abgründigen Tiefe begreifen muss und der darum ein tieferes Wissen um das Menschenschicksal besitzt.

Keine der beiden Menschengruppen aber kann gegen die andere ausgespielt werden, jede hat ihre Berechtigung und ihre eigene Würde; „beide Bereiche haben nach Wolframs Meinung ihre sinnvolle Funktion in der Menschenwelt"(426).

Das Leid des Unschuldigen als Zeichen der Erinnerung


Es muss nun die Frage beantwortet werden, wie die Funktion der Gralsritter und ihres Geschicks verdeutlicht werden kann - oben wurde sie vorläufig als ein Sichtbarmachen des Grundes interpretiert, aus dem die Artusritter leben (vgl. o. S. 152 f.). Denn dass Wolfram nicht dabei stehenbleibt, zwei Menschengruppen verschiedener, in gewissem Sinne sogar gegensätzlicher Art nebeneinander darzustellen, beweisen die Verbindungen, die zwischen den beiden Gruppen bestehen: Der Gralskönig herrscht als Verwalter des Kosmos (252,5-8; 782,18-21) über die ganze Welt bis zu den Sternen; die Jungfrauen und Ritter der Gralsgemeinschaft werden in die ritterlich-höfische Welt entlassen (vgl. o. S. 155).

Diese Beziehungen sprechen auch gegen die Deutung, diese Trennung in zwei Arten von Menschen sei die symbolische Darstellung zweier in jedem Menschen angelegten Pole(427), sei ein Auseinanderfalten dessen, was in (157) jedem Menschen mit verschiedener Akzentuierung vorhanden sei. Zwar liegt eine solche Deutung nahe und ist nicht ganz von der Hand zu weisen; durch die Parzival-Gawan-Einheit wird sie gestützt. Doch liegt es näher, dass Wolfram tatsächlich an zwei Gruppen von Menschen gedacht hat, deren Einheit darin besteht, dass sie die beiden Pole der einen Menschheit bilden, und dass er diese Polarität in einer Reinheit auseinandergelegt hat, wie sie in der Wirklichkeit, wo immer nur von einem Mehr oder Weniger gesprochen werden kann, nicht zu finden ist.

Es muss also aufgrund der Zuordnung von Artus- und Gralsbereich gefragt werden: Welchen Sinn hat das tiefere Wissen, das Einzelne durch die Erfahrung von Schuld und Leid gewonnen haben, für die anderen, die nicht betroffen sind? Welchen Sinn hat also das Leid des Unschuldigen, nun nicht für sich - dies ist dargestellt -, sondern für die anderen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben und dennoch aus dem rechten Wissen leben?

Soll die Zuordnung von Artusrittertum und Gralsrittertum, von selbstverständlichem Leben aus dem rechten Wissen und dem Erringen dieses Wissens durch Leid einen Sinn haben, so nur den, dass die einen so selbstverständlich im rechten Wissen leben können, weil die anderen für sie, in Stellvertretung gleichsam, durch ihr leidvolles Geschick offenbar machen, wo dieses Leben seinen Grund hat, und sie so immer wieder neu daran erinnern, dass sie im Grunde nichtig sind und nur durch die Gnade leben.

Diese Vorstellung, dass einige stellvertretend für die vielen leiden, damit diesen zu ihrem Heil ein Zeichen gegeben wird, ist von dem Gedanken der Nachfolge Christi her zu begreifen (vgl. o. S. 122 f.), denn Christi Opfertod wird als „Plan" Gottes verstanden, dass Christus „durch seine Erkenntnis . . . den Vielen Gerechtigkeit schaffen wird"(428). Paulus weist im Brief an die Kolosser auf diese Vorstellung hin: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an den Trübsalen Christi, seinem Leibe zugut, welcher ist die Gemeinde."(429) Und auch der Satz Kierkegaards kann auf den Gedanken der Imitatio zurückgeführt werden: „Sehr weit reicht in meiner Erinnerung der Gedanke zurück, dass in jeder Generation zwei oder drei sind, die an die andern geopfert werden, um in schrecklichen Leiden zu entdecken, was den andern zugut kommt."(430)
Dass dieses Leid gerade darum fruchtbar wird für das Heil der vielen, weil der Leidende unschuldig ist an seinem Leid, auch dafür steht das Vorbild Christi gut; nicht als Strafe für eigene Schuld ist es gedacht, sondern als Heil für die vielen. Und ebenfalls von Christus leitet sich her, dass ein solches stellvertretendes Leiden ein Müssen ist, dessen Notwendigkeit nicht weiter ableitbar ist, dass es also keinen anderen Weg zum Heil für die vielen gibt als eben diesen.

Diese Deutung der Funktion des Gralsrittertums ermöglicht eine endgültige Interpretation des tragischen Leidens aus christlicher Sicht und damit die (158) Interpretation von Parzivals und der Gralsritter Geschick: „Als ein von Gott Gezeichneter, unmittelbar von ihm Berührter, ein aus der Zahl der Menschen Herausgenommener ist der tragische Held ein Ausnahmefall, an dem Exemplarisches geschieht. An ihm lässt Gott daher auch das Bedingte aller menschlichen Begriffe und Einrichtungen offenbar werden, - nicht um sie überflüssig zu machen, sondern um den Vielen wieder das Wesentliche und Notwendige zu zeigen. Auch wenn er in den Augen der Welt untergeht, ist er Sieger und Träger neuen Lebens . . . Tragisches Schicksal kann für den Gläubigen ein Zeichen der Auserwählung zu Größerem werden, zu einem Opfer, dessen Sinn sich vielleicht im Diesseits nie oder erst viel später enthüllt."(431)
Parzival ist als der zukünftige Gralskönig der von Gott Gezeichnete, der Auserwählte, ûz erkorne (619,14). Als solcher ist er in seiner Erniedrigung und in seiner Erhöhung den vielen ein Zeichen für die Nichtigkeit des Menschen und die Herrlichkeit Gottes und seiner Gnade, so dass sie, durch dieses Zeichen an das Wesen des Menschen und Gottes erinnert, in der Demut und in dem Vertrauen, das aus dem rechten Wissen kommt, das heißt zu Gott im rechten Verhältnis, mit Gott ausgesöhnt leben. Dass die Menschheit nur dann, wenn sie in diesem Wissen lebt, mit Gott versöhnt und erlöst ist, wird durch den Handlungsverlauf des Romans veranschaulicht, indem die Frage Parzivals als das Zeugnis des rechten Wissens zur Voraussetzung der Erlösung der Gralsritter gemacht wird. Denn dieses Wissen um die eigene Nichtigkeit und die Gnade Gottes und diese Demut, die Anerkennung dieser Nichtigkeit und der Notwendigkeit der Gnade, sind der einzige Grund, aus dem heraus der Mensch sicher leben kann, weil er den Bund mit Gott sichert. Indem Parzival und die Gralsritter Zeichen dieses Bundes sind, werden sie zum Zeichen der Versöhung (vgl. 2. Kor 5,18) von Gott und Mensch und zum Maßstab des rechten Lebens.

Nun wird auch deutlich, dass nicht von einem Wesensunterschied zwischen Artuswelt und Gralswelt gesprochen werden kann. Beide Bereiche, Grund und Begründetes, Formendes und Geformtes, bilden eine Einheit; es ist im Grunde e i n e Gesellschaft, in deren Mitte erneuernd und heilend der Gral und seine Ritter wirken(432). Während die Gralsritter das alles durchdringende Ferment ständiger Erneuerung sind, repräsentieren die Artusritter die so gestaltete schöne Form, die, weil sie ihre Schönheit aus ihrem formenden Grund hat, auch in diesem selbst gegeben sein muss.

So stehen der glänzende Gawan und der grübelnde, leiderfahrene Parzival in gleichem Wert nebeneinander (388,9; 398,1-5):
diu (die âventiure) prüevet manegen âne haz
derneben oder für in baz
dan des maeres hêrren Parzivâl (338,5-7),
sagt Wolfram sehr bestimmt, um eine Überbewertung Parzivals zu unterbinden. Und Parzival braucht nicht, wenn er Gralskönig wird, ausdrück(159)lich das Artusrittertum zu verlassen; er soll es aufheben in den Grund, aus dem es lebt. G. Keferstein hat dieses Verhältnis von Artus- und Gralsrittertum sehr genau formuliert: „Man darf aber die Persönlichkeit Parzivals mit ihrer tieferen Seinsschicht nicht neben und gegen die höfische Welt stellen, sondern muss erkennen, dass Wolfram in der Gestalt Parzivals die höfische Gesellschaft zwar vor das Gewissen einer tieferen Seinsschicht stellt, aber nicht, um die höfische Gesellschaft zu verurteilen und zu zerstören, sondern um sie aus ihrer eigenen, an ihrer Oberfläche kaum sichtbaren substantiellen Tiefe heraus zu bestätigen."(433) Diese tiefere Seinsschicht (434) wird im „Tragischen der menschlichen Existenz"(435), das heißt in der Vertiefung des Wissens um „die Eitelkeit alles menschlichen Strebens"(435)erfahren; und auch Simson meint, dass Wolfram „zwischen dieser Einsicht und dem sittlichen Ideal der höfischen Kultur . . . keinen Gegensatz (habe) schaffen wollen". Denn die höfische Gesellschaft, die in den Artusrittern repräsentiert ist, lebt ganz selbstverständlich aus jener ‚substantiellen Tiefe heraus’, aus der Einsicht in das Wesen des Menschen und in das Verhältnis Gottes zu den Menschen, ohne diese Einsicht selbst zu bedenken, während die Gralsritter aus der Erfahrung des Leids darüber nachzudenken lernen und darum, wenn den Artusrittern ihre Selbstverständlichkeit verloren zu gehen droht, ihnen helfen können, ihre Einsicht zu bewahren.

In dieser Funktion also erfüllt sich das Geschick Parzivals: Er muss das Geschick des Menschen unmittelbar erfahren, er muss unmittelbar seiner Nichtigkeit und ineins damit Gott in seiner Absolutheit begegnen, um das Wissen über das Geschick des Menschen und über das Wesen Gottes den anderen vermitteln zu können, um zum Mittler zu werden zwischen deren Ethos und dem Grund, in dem dieses Ethos wurzelt, zum Vermittler der Einsicht in die wahre Gott-Mensch-Beziehung, in der Gott alles und der Mensch nichts ist, und zum Vermittler der Demut, die gläubig sich Gott hingibt, ohne je an Gottes Güte zu zweifeln.

Damit Wolfram Parzivals Durchbruch zur tieferen Erkenntnis episch gestalten kann, stellt er ihn zunächst als den Artusritter vor, dem das Wissen von Gott das Selbstverständlichste und Nächste ist, der den Satz der Mutter
sîn triwe der werlde ie helfe bôt (119,24) in seinem Leben bestätigt findet(436). Dann muss Parzival eine zweite Stufe der Vollkommenheit erringen: Gott führt ihn in die Situation, in der er gezwungen wird, das, was ihm das Nächste ist, von Grund auf zu bedenken (vgl. o. S. 144), seinen Glauben in vertiefter Weise neu zu gewinnen. Parzival musste also sterben, um, wieder auferstanden, zu wissen, was es heißt, in Gott zu leben, in seiner
triuwe geborgen zu sein, und was es heißt, dass Gott sich der Menschen erbarmt. So wird er zum Gralskönig, zur krône menschen heiles (781,14), zum Zeichen, das das Gedächtnis wachhält an die unendliche Liebe Gottes, durch die der Mensch aus seiner Nichtigkeit erlöst wird.

(160)
Der unbegreifliche Anspruch Gottes


Dass der Gralsritter nicht für sich allein, zu seinem eigenen Heil nur, Erkenntnis gewinnt, sondern stellvertretend für die vielen, belegen die Verbindungen, die zwischen Artuswelt und Gralswelt bestehen. Andererseits ist auch eine Grenze zwischen beide Bereiche gesetzt, die der Mensch aus eigener Kraft nicht überwinden kann; nur der, der von Gott berufen ist, hat Zutritt zur Gralswelt. Diese Grenze wurde oben (S. 155 f.) als Zeichen des Unterschieds zwischen zwei Arten von Menschen verstanden. Nun muss gefragt werden, warum diese Grenze, die ja nur einen graduellen Unterschied bezeichnet, dennoch für den Menschen unüberwindbar ist. Der Sinn dieses Symbols kann verdeutlicht werden, wenn man bedenkt, dass die Artusritter die Schuld Parzivals auf der Gralsburg nie begreifen, dass diese Schuld also von einer christlichen Ethik her nicht zu verstehen ist.

Bevor Parzival auf die Gralsburg gekommen war, hatte er mehrmals sich gegen die Gebote der zuht vergangen. Seine Verfehlungen machten ihn also objektiv schuldig. Diese Schuld war messbar an den Vorstellungen der christlich-ritterlichen Ethik. Dann lernte Parzival bei Gurnemanz die zuht, die nun verhinderte, dass er aus tumpheit den Menschen Leid brachte. Er wurde zum - im Sinne christlich-ritterlicher Ethik - vollkommenen Ritter.

Parzivals neues Vergehen, das aufgrund des Gewichts, das ihm von der Handlungsführung zukommt (vgl. Anm. 395), als seine schlimmste Verfehlung bezeichnet werden muss, entspringt ebenfalls einem Nichtwissen (vgl. o. S. 139 f.). Er hat sich noch nicht in seiner Nichtigkeit und Gott noch nicht als den Unbegreiflichen erfahren. Doch seine tumpheit wird nicht deshalb wirksam, weil er keine zuht hat, die die tumpheit überwinden könnte, sondern gerade deshalb, weil er sich auf die zuht beruft. Darum kann er diese seine schwerste Verfehlung nicht begreifen.

Mit diesem Gedanken, dass Parzivals Schuld auf der Gralsburg die ethischen Vorstellungen transzendiert und so in eine neue Dimension weist, ist zugleich auch das erklärt, was Artusbereich und Gralsbereich so unüberwindbar trennt: Parzivals Versagen auf der Gralsburg wird vom Handlungsverlauf her - die Verfluchung und ihre Folgen - als Verfehlung ausgewiesen; Parzival ist, objektiv wenigstens, schuldig. Es muss einen Maßstab geben, an dem Parzivals Handeln gemessen wurde. Nach menschlichen Maßstäben ist Parzival ohne Schuld. Da nun Parzival im Auftrag Gottes verflucht wird, muss der Maßstab, an dem gemessen Parzivals Versagen objektiv als Schuld zu bezeichnen ist, in Gott liegen. Und zwar wird Parzival hier nicht einem solchen Anspruch nicht gerecht, den Gott durch die Gebote der
zuht aufstellt - dann könnten sein Vergehen und seine Verfluchung verstanden werden -, sondern einem unbegreiflichen Anspruch, durch den Gott sich als der erweist, der über den menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse steht.

(161) Weil aber dieser Anspruch unbegreiflich ist, kann auch die Haltung, aus der heraus er erfüllt werden kann, nicht mehr von Menschen gelehrt werden. Parzival wird also nun nicht mehr wie bisher von Menschen erzogen, sondern durch Gott, indem dieser sich ihm entzieht und ihn seiner Nichtigkeit überlässt. Parzival wird durch Gott von einer tumpheit befreit, von der menschliche Erziehung nicht befreien kann, weil Menschen sie nicht als tumpheit erkennen können. Der Erzähler, der ganz aus der Perspektive derer erzählt, die Parzivals Versagen nicht begreifen und ihn darum verteidigen, bezeichnet darum Parzival, nachdem dieser durch Gurnemanz erzogen ist, nicht mehr als tump.

H. Rupp weist in seiner Untersuchung über das Wort tump in Wolframs ,Parzival’ (437) nach, dass dieser Begriff vierundzwanzigmal dem Helden zugesprochen wird, davon siebzehnmal im 3. Buch, weil Parzival noch nicht die zuht besitzt, fünfmal im 9. Buch wegen seines Versagens vor Anfortas. Danach wird er noch zweimal tump genannt, als er unwissend in eine tragische Situation gerät (Kampf mit Feirefiz und Gawan), Gott ihn aber vor den Folgen dieser tumpheit bewahrt. Im 3. Buch nennt der Erzähler den Helden tump; dann wird dieses Urteil nur noch von Trevrizent und von Parzival selbst ausgesprochen. Rupp schreibt dazu: „Diese Taten (das Versagen auf der Gralsburg und die „Absage an Gott„) als tump zu bezeichnen, gehört nicht mehr in die Zuständigkeit eines Mannes, der vom menschlich-weltlichen Standpunkt aus urteilt, und auch nicht mehr in die Zuständigkeit der höfischen Gesellschaft . . . diese Taten zu beurteilen ist anderen Instanzen vorbehalten: dem geistlichen Berater Trevrizent und der Selbsterkenntnis des Helden . . . "(438), also dem, der um die Geheimnisse des Grals weiß, und dem, der durch Leid zu vertieftem Wissen gekommen ist.

Dass Parzival sich durch sein Verhalten auf der Gralsburg in irgendeiner Weise, subjektiv oder objektiv, schuldig gemacht habe, dass überhaupt von Verfehlung gesprochen werden kann, bleibt aus der Sicht der Artusritter und des Erzählers unbegreiflich. An ihrem, dem einzig fassbaren Maßstab(439) gemessen, war Parzivals Verhalten richtig. Von Verfehlung und somit objektiv von Schuld kann nur gesprochen werden, wenn man Parzivals Verhalten am Anspruch Gottes misst, wenn man bedenkt, dass von Parzival mehr gefordert ist, dass Parzival vor einem höheren Anspruch steht. Das Besondere dieses Anspruchs erklärt auch das Gewicht, das Parzivals Verfehlung zugemessen wird.

Doch da der Anspruch Gottes nicht begreifbar, nicht messbar ist (got vil tougen hât; 797,23), kann Parzivals Verhalten nicht beurteilt, kann Parzival vom menschlichen Standort her nicht schuldig gesprochen werden. Aus der Perspektive der Artusritter wird Parzival also verflucht, o b w o h l er die zuht hat, in der die Gnade Gottes wirkt, obwohl er triuwe, (162) schame, mâze besitzt, also in der durch erbarmende Nächstenliebe lebendigen Wertordnung der höfischen Welt lebt. Aus der Perspektive des höheren Anspruchs versagt Parzival, w e i l er wie alle Artusritter an der zuht festhält, weil er also dem Anspruch, sich bedingungslos Gott hinzugeben, nicht entsprechen kann.

Die unüberbrückbare Grenze zwischen Artuswelt und Gralswelt ist also dadurch errichtet, dass in jener vom Menschen nicht mehr gefordert wird, als er begreifen kann, in dieser aber sich Gott als der Unbegreifliche zeigt, so dass hier nicht mehr menschlich verständliche Gesetze gelten, sondern das Unverständliche, das Gott in seiner Willkür bestimmt; der Gral ist gekennzeichnet durch verholenbaeriu tougen (454,20; vgl. 452,30).

Was durch die Berufung zur Gralswelt geschehen ist: dass jemand erwählt ist zum Zeichen für viele und so durch sein Leid mitwirkt am Heilswerk Gottes, kann nicht weiter abgeleitet werden; es kann nicht begriffen werden, warum Gott keinen anderen Weg zur Erfüllung seiner Verheißungen wählt als den durch das Leid Einzelner, indem sie aus der Dunkelheit der Gottverlassenheit die Helle Gottes schauen müssen, in der die anderen fraglos leben. Es kann auch nicht begriffen werden, warum nur Einzelne und warum gerade diese und nicht andere in dieser Weise bevorzugt werden (vgl. o. S. 27 f.) (440).

Durch das Unbegreifliche dieser Gnadenwahl Gottes wird nun auch vollends deutlich, dass Parzival zwar vom Anspruch Gottes her objektiv, aber keinesfalls subjektiv schuldig ist. Parzival kann seine Berufung nicht begreifen; er kann nicht ganz ausmessen, was es bedeutet, Gralskönig zu sein, warum Gott den Menschen das Heil durch Leid (441) und Erhöhung Einzelner vermittelt. Darum wird sein Leid ihm immer ein verholnbaerez wunder (700, 20) bleiben(442). So konnte er die Erwartungen, die Gott an ihn stellte, von sich aus nicht erfüllen - dazu bedarf es eines Glaubens, der allein aus der Gnade kommt - und kann darum für sein Versagen nicht verantwortlich gemacht werden. Parzivals Versagen ist also nicht wie bei Chrestien als Strafe für eine vergangene Schuld zu deuten (vgl. o. S. 20), sondern als eine besondere Bevorzugung(443), die sich zum erstenmal zeigt, als er unwizzende die Gralsburg findet.

Dieser Eigenart der Gralswelt, in der Gott sich als der zeigt, der außerhalb jedes menschlichen Begreifens steht, entspricht die neue Haltung Parzivals, aufgrund deren er Gralskönig wird und die zu besitzen er berufen ist: Parzival kann nie ganz begreifen, was es heißt, zum Gralsrittertum berufen zu sein, warum also er unschuldig leiden muss, andere aber nicht, und wie sich der Widerspruch zwischen Gottes Heimsuchung und Gottes Güte lösen lässt. Wenn er sich dennoch in den Willen Gottes fügt, erweist er sich als der Mensch, dessen Selbsterkenntnis und Erkenntnis Gottes so weit gereift sind, dass er in Demut, ohne begreifen zu wollen, darauf vertraut, dass der (163) Widerspruch zwischen der erfahrenen Wirklichkeit und Gottes Verheißungen, zwischen den Absichten des Menschen und denen Gottes in Gott gelöst ist (vgl. o. S. 104). In diesem Vertrauen tut der Mensch mit ganzer Kraft das, was er als das Rechte erkannt hat(444) (Parzival fragt nicht), und verzweifelt nicht, wenn Gott sein Handeln scheitern lässt, wenn Gottes Pläne ihm nicht erkennbar sind.

Gott gibt auf die Frage Parzivals waz ist got? (119,17) keine klare Antwort; die einzige Selbstoffenbarung Gottes, die Parzival auf seine Frage hin vom gnädigen Gott erfährt, ist die, dass Gott erkennen lässt: er ist zu groß, als dass der Mensch ihn befragen könnte. Gott gibt also keine Antwort auf die Frage nach Gott, sondern gibt weitere Rätsel auf, so wie Gott Hiob nur mit Naturrätseln antwortet (Kap. 38). Während Gott, im Wettersturm sprechend, das
mysterium tremendum bleibt, wird er später, als er Hiob den Reichtum doppelt zurückgibt, zum mysterium fascinosum. Ebenso für Parzival: Zum mysterium tremendum wird ihm Gott, als er absolut resigniert. Doch das Sich-verbergen Gottes, das er hier erfährt, wird ergänzt durch die Epiphanie der Gnade; Parzival wird Gralskönig, er hat Erlösung gefunden in der Gegenwart der Gnade Gottes (vgl. o. S. 104 f.).

Gottes Tun bleibt rätselhaft, Gottes Wege sind unerforschlich (445); mit dieser Erkenntnis Parzivals und auch Trevrizents muss sich der Leser begnügen. Auf die Frage, warum gerade Parzival dazu erwählt ist, für andere stellvertretend zu leiden und ihnen in diesem Leid Zeichen zur Erkenntnis zu sein, und nicht irgendein anderer, gibt es als Antwort nur den Hinweis auf Gottes willkürliche Gnadenwahl (vgl. o. S. 117), den Wolfram in der Bibel finden konnte: et miserebor cui voluero, et clemens ero in quem mihi placuerit, (445a) spricht Gott zu Moses (2. Mose 33,19), und Paulus greift dieses Wort auf (Miserebor cujus misereor, et misericordiam praestabo cujus miserebor; Röm 9,15) (445b) und kommentiert: Ergo cujus vult miseretur, et quem vult indurat (Röm 9,18)(445c) (446). Gleichsam schicksalhaft, dem Menschen nicht verständlich, weil nicht von ihm verschuldet, kommen also Schuld und Leid über ihn, so dass in der Art, wie das Geschick den Menschen befällt, kein Unterschied besteht zwischen den Vorstellungen der griechischen Tragödie und denen Wolframs.

Dass Anfortas nicht Gralskönig bleibt (484,8), sondern von Parzival abgelöst wird, muss als Zeichen solcher Willkür interpretiert werden. Denn Parzival hat vor Anfortas kein Verdienst voraus; beiden wird in gleicher Weise hôchvart vorgeworfen (Anfortas: 472,26); bei beiden war tumpheit die Ursache ihrer Verfehlung (vgl. o. S. 6); und Anfortas anerkennt seine Schuld, für die er nicht verantwortlich ist, in gleicher Weise wie Parzival. Und nachdem Anfortas erlöst ist, strahlt er in herrlicherem Glanz als Parzival (796,5; vgl. 796,14-16). So bleib es rätselhaft, warum Anfortas wegen seiner Schuld die Gralskrone verliert (819,19) und Parzival sie gewinnt. (164)

Teleologisches Weltbild


Auch die zweite Frage: warum Gott den Menschen in dieser Weise erzieht, dass ihm im Leid seine Nichtigkeit und Sündhaftigkeit offenbar wird, bleibt letztlich ohne Antwort. Da der Mensch, dem immer alles gelingt, in der Gefahr steht, hochmütig zu werden, ist ein solcher Gedanke psychologisch verständlich, nicht jedoch theologisch. Es müsste beantwortet werden, warum mit dem Menschsein nach dem Schöpfungswillen Gottes wesenhaft die Nichtigkeit verbunden ist, warum Gott Leid schickt, damit die Erinnerung an diese Nichtigkeit wachgehalten wird und der Mensch Gott wohlgefällig lebt. Denn der Frage kann nicht mit der Argumentation ausgewichen werden, Gott müsse so handeln, Gott selbst handle unter dem Zwang eines unpersönlichen Gesetzes, etwa diesem, dass der Mensch nur im Verlust ganz erfahre, was er besessen hat, dass ihm das Glück der Begnadung erst durch das Leid, die Güte und Herrlichkeit Gottes erst durch den Entzug Gottes offenbar werde. Denn eben dies, dass das Geschick des Menschen, das von Gott kommt, nicht ein notwendiges Geschick ist, da Gott absolut frei ist und auch hätte anders handeln können, unterscheidet die theologischen Vorstellungen, die Wolframs Roman zugrunde liegen, von denen der griechischen Tragödie (vgl. o. S. 85).

Doch diese Warum-Fragen, die aufgrund des christlichen Gottesbegriffs gestellt werden können, sind nicht der eigentliche Impuls von Wolframs Dichtung gewesen. Der Erzähler erzählt aus dem Wissen heraus, dass Parzivals Weg gut enden wird (vgl. o. S. 17). Dieses Wissen gründet in dem Glauben, dass das Leid des Menschen und die Güte Gottes nicht im Widerspruch zueinander stehen. Aus dieser Haltung heraus fragt der Erzähler nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wozu des Leids, das als Heimsuchung Gottes verstanden wird. Das Leid wird in die Absicht Gottes hineingenommen und diese Absicht dann als Ursache des Leids angesehen (Finalgrund).

Dass Wolfram ganz selbstverständlich immer aus dieser Haltung heraus gedacht hat, setzt meine Interpretation voraus und ist bis in die Einzelinterpretation hinein nachweisbar. Würde man zum Beispiel bei der Gralsprämisse ungewarnet (vgl. o. S. 124 f.) nicht dieses teleologische Denken voraussetzen und nur ‚warum?’ fragen, so müsste man im Sinne der oben dargelegten Interpretation der Gralsfrage antworten: Parzival versagt, w e i l er die Erfahrung des Leids noch nicht ganz in seine Person aufgenommen hat, also noch nicht aus eigenem Wissen fragen kann. Bei dieser Interpretation hätte die Bedingung aber nur Sinn, wenn sie bis zum Ende gültig bliebe, so dass sich bei der letzten Frage Parzivals eigene Leiderfahrung bezeugt. Ähnlich interpretiert ein großer Teil der Forschung. Dem widerspricht, dass Parzival auf den Sinn der Frage hingewiesen wird. Will man also Wolfram nicht einen Fehler bei der Auswahl seiner Darstellungs(165)mittel unterstellen, muss man anders fragen; nicht: warum, sondern: wozu hat nach Wolframs Darstellungsabsicht Gott diese Bedingung gesetzt? Die Antwort lautet dann: d a m i t Parzival versagt und nach dem Erweis dieses Versagens von Gott den Weg der Heimsuchung geführt wird. Hat sich die Absicht Gottes erfüllt, so ist das Mittel überflüssig geworden.

Wolfram setzt also eine andere Denkrichtung voraus als die, die möglicherweise der heutige Leser gewöhnt ist, eine Richtung, in die der Nachdenkende durch den Glauben gewiesen ist. Wer Wolframs Roman liest, muss diese Art des Denkens, das vom Glauben geleitet ist, nachvollziehen, damit ihm sich die Einsicht in das Verhältnis von Gott und Mensch, die Wolfram vermitteln will, ganz erschließt.



Dissertation 3. Kapitel / Dissertation 1. Kapitel neu

HaftungsausschlussImpressum