1. Klausur Lk 11.2 am 12. März 1996 Zeit: 3 Unterrichtsstunden
Thema: Wedekind ‘Frühlings Erwachen’
Stellen Sie dar, welches Bild Wedekind in seiner ‘Kindertragödie’ von den Eltern zeichnet! Ein Schwerpunkt der Interpretation soll dabei die Szene III,3 sein. Versuchen Sie auch, sprachliche Besonderheiten des Textes zur Interpretation heranzuziehen! Belegen Sie sorgfältig Ihre wesentlichen Thesen!
Lösungsvorschlag
Einleitung (Autor, Titel, Gattung, Entstehungszeit, Thema) Wedekind schreibt in seiner ‘Kindertragödie’ ‘Frühlings Erwachen’ aus dem Jahr 1890 eine Tragödie über Jugendliche, die in einer repressiven Gesellschaft großwerden und von denen manche an dieser Gesellschaft zugrunde gehen.
Hauptteil 1. situativer Kontext Repressiv ist diese Gesellschaft, weil sie hierarchisch angelegt ist und Schule und Familie als Abbild dieser Gesellschaft dazu beitragen sollen, die hierarchische Struktur abzusichern. Erwachsenwerden mit einer befreiten Sexualität würde z. B. für die Erwachsenenwelt ein Angriff auf diese Struktur bedeuten, so dass diese Gesellschaft alles tut, das Erwachsenwerden hinauszuzögern und die Sexualität zu tabuisieren. Als weiteres Merkmal des Bürgertums jener Zeit gilt, dass dieses Bürgertum sich gegenüber dem Adel über sich und dem Proletariat unter sich behaupten muss und sein Selbstbewusstsein und seine Sicherheit aus einem rigorosen Leistungsethos herleitet. Ein Teil des Bürgertums ist auch beeinflusst durch seine Entstehung aus einer gegenüber der Industrie an Einfluss verlierenden und darum unsicher werdenden Handwerkerschicht und hat deren moralische Enge übernommen (Kleinbürgertum). Diese Unsicherheit führt auch dazu, dass die Menschen ständig nur mit Blick auf das Urteil der anderen leben und keinen Raum haben für individuelle Entscheidungen.
2. Überblick über die Hauptpersonen des Dramas Diese Komponenten (Verzögern des Erwachsenwerdens, Tabuisierung der Sexualität, Leistungsethos, kleinbürgerliche Enge) prägen die Erziehungsziele und Erziehungsstile der Eltern jener Gesellschaft, die Wedekind in seinem Drama vorstellt. Repräsentiert werden in diesem Drama die Eltern durch Frau Bergmann, die Mutter eines 15-jährigen Mädchens, das unehelich ein Kind erwartet und an der von der Mutter veranlassten Abtreibung stirbt, durch die Eltern Marthas, einer Freundin Wendlas, durch Herrn und Frau Gabor, die Eltern des begabten und relativ eigenständigen Schülers Melchior, der Wendla geschwängert hat, und durch den Vater von Moritz, einen Freund Melchiors, der das Leben und vor allem die Schule nicht ertragen kann und sich umbringt.
3. Die Eltern Den krassesten Erziehungsstil vertreten die Eltern Marthas und der Vater von Moritz. Sie sind wahrscheinlich Vertreter der besonders engstirnigen und engherzigen kleinbürgerlichen Schicht mit einem extrem starren Weltbild, das sich auf eine pharisäerhafte Frömmigkeit, auf dem Ideal von Bescheidenheit und Gehorsam und auf strengste Zucht stützt. Den Vater von Moritz charakterisiert ein herzloses Festhalten am Leistungsethos seiner Epoche. Er ist der Kleinbürger, der sein Selbstwertgefühl ausschließlich aus der Anerkennung durch die Gesellschaft zieht und es darum nur retten kann, indem er sich von dem Sohn distanziert, der den Anforderungen jener Gesellschaft nicht gerecht geworden ist, der die Tabus der Sexualität verletzt hat, dem Leistungsethos nicht entsprechen konnte und der ihm schließlich noch die Schande macht, der Vater eines Selbstmörders zu sein. Die Eltern von Martha setzen ihre Autorität sogar durch körperliche Züchtigung durch.
Der Erziehungsstil der Mutter Wendlas ist dagegen nicht durch Strenge und Härte, sondern durch liebevolle Zuneigung geprägt. Auch Frau Bergmann ist eher der kleinbürgerlichen Schicht zuzuordnen, zumindest gelingt ihr keine intellektuelle Durchdringung ihres Standorts. Ihre Sprache ist emotional bedingt (z. B. II,2: Aber das ist ja zum Närrischwerden! - Komm, Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir alles ... (!) O du grundgütige Allmacht!), sie ist völlig hilflos den repressiven Vorstellungen ihrer Umwelt ausgesetzt und hat sie völlig in sich aufgenommen, vor allem die Tabus im Bereich der Sexualität. Bei allem guten Willen, ihrer Tochter zu helfen und sie aufzuklären, bringt sie kein befreiendes Wort über die Lippen und ist schuld am Tod ihrer Tochter, weil Wendla ihrer Erklärung, man müsse, um ein Kind zu bekommen, ... den Mann - mit dem man verheiratet ist ... (!) lieben, folgt und mit Melchior schläft im Glauben, sie bekomme kein Kind, weil sie ihn nicht liebt und nicht mit ihm verheiratet ist. Doch Frau Bergmann ist so sehr eingebunden in die Normvorstellungen ihrer Umwelt, dass sie eine Schuld bei sich selbst nicht finden kann; sie fühlt sich als Opfer, nicht als Täter: Oh, warum hast du mir das angetan! (60) sagt sie zu Wendla, als sie erfährt, dass diese schwanger ist. Auch indem Frau Bergmann die Abtreibung veranlasst, beugt sie sich ohne jedes Zögern den Ansprüchen der Gesellschaft, die ein außereheliches Kind nicht akzeptiert.
Die Eltern von Melchior Gabor repräsentieren eher die großbürgerliche Schicht. Die Sprache der beiden zeugt von hohem intellektuellen Niveau, das z. B. durch den ausgefeilten Briefstil Frau Gabors, durch die Wortwahl Herrn Gabors (u.a. eine Häufung von Fremdwörtern) und durch dessen Ironie deutlich wird. Der Unterschied zwischen den beiden ist, dass Herr Gabor sich in seiner Sprache als ein Mensch charakterisiert, der die Welt nach starren, unabänderlichen Gesetzen geordnet sieht (er ist Jurist; Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption, die wir Juristen mit dem Ausdruck ’moralischen Irrsinn’ bezeichnen; III,3), während im Denken und Fühlen und in der Sprache Frau Gabors am ehesten etwas von dem deutlich wird, was der Titel andeutet: das Erwachen einer neuen Zeit, die Tabus und starre Regeln beseitigt, damit das individuelle Leben sich entfalten kann, auf dessen Entfaltung man nicht so viel Einfluss nehmen muss, weil man auf den guten Kern im Menschen vertraut, darauf vertraut, dass der Mensch sich des rechten Weges wohl bewusst ist bei allem Irren: Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln setzen. (II,1) So stehen sich die beiden Eltern zunächst unversöhnlich gegenüber, als es darum geht, welche Art von Erziehung für den Sohn die beste ist. Herr Gabor hat feste Prinzipien, nach denen er Gut und Böse beurteilt; er hält diese Prinzipien für unbedingt gültig und will sie mit eherner Disziplin und Zwang auf seinen Sohn übertragen. Wegen der Aufklärungsschrift seines Sohnes bezeichnet er diesen als im innersten Kern seines Wesens angefault. Diese Schrift sei Vorsatz und zeige den Hang zum Unmoralischen, zur geistigen Korruption, zum moralischen Irrsinn. Hinter der Härte seiner moralischen Prinzipien steht die Vorstellung (resultierend aus der gefährdeten Stellung des Bürgertums zwischen Adel und Proletariat), dass nur der Starke (hier der moralisch Starke) überlebt: Wer zu schwach für den Marsch ist, bleibt am Wege. Der Hinweis auf christliche Denk- und Empfindungsweise zeugt dabei von Missverständnis über das, was christlich ist, so dass er die Haltung seines Sohnes, der für seine Handlungsweise einstehen und Wendla helfen will, gar nicht würdigen kann (Er tut es als unsinniges Gewäsch ab.) und sein Christentum als pharisäerhaft bezeichnet werden muss, das lediglich zum äußeren Schein gesellschaftlich anerkannter Wohlanständigkeit dazugehört. Als ‘Schein von Wohlanständigkeit’, auch als Zeichen von Intellektueller Überlegenheit können auch die wenig ernstzunehmenden Stellen zu verstehen sein, in denen Herr Gabor zugibt, Erziehungsfehler gemacht zu haben - wobei er vornehmlich dann doch seine Frau meint. Ähnlich zu werten ist das Zugeständnis Wir sind alle keine Heiligen; es geht ihm mehr um sein fleckenloses Gewissen als um Selbstlosigkeit dem Sohn gegenüber, die er von seiner Frau fordert. Darin sind der Großbürger und der Kleinbürger sich gleich: sie handeln nicht aufgrund eines echten Christentums, zu dem auch Verstehen und Verzeihen gehört, sondern aufgrund von Engstirnigkeit und Härte. Frau Gabor, die sich als gewissenhaft und besonnen bezeichnet, empfindet zunächst die Haltung ihres Mannes als Verblendung durch tote Buchstaben, sie bezeichnet ihn als entseelten Bürokraten, da er Menschen aufgrund seiner Prinzipien - dazu noch sehr zweifelhafter - beurteilt und darum Melchior verurteilt. Sie urteilt nicht nach starren Prinzipien, sondern respektiert ihren Sohn als Individuum, an dessen Harmlosigkeit, rechtlichen Charakter und edle Denkungsweise sie glaubt. Ihre Erziehung geht dahin, das positiv Angelegte zu wecken und sich entwickeln zu lassen - wie eine Pflanze. Fehltritte ergeben sich nicht aus einem solchen Charakter, sondern sind dumme Zufälle. Zudem ist sie so liberal, dass sie Verständnis aufbringt für die Schrift Melchiors; sie ist ihr sogar Beweis für seine kindliche Unberührtheit. Sie ist die einzige Erwachsene, die Verständnis aufbringt für die Jugendlichen, auch für Moritz; sie akzeptiert sie möglichst so, wie sie sind, weil sie an das Gute in ihnen glaubt. Aber auch Frau Gabor bleibt Kind ihrer Zeit. Sie ist nicht mehr liberal genug, auch zu akzeptieren, dass Melchior Wendla geschwängert hat, obwohl die Art, wie er die Folgen auf sich nehmen will, doch das Positive bestätigt, das Frau Gabor in ihm gesehen hat. Sie kann offenbar nicht akzeptieren, dass ihr Sohn, dem sie als Kind alle möglichen Fehler gerne nachsieht, sich als erwachsener, eigenständiger Mensch gezeigt, seine Kindlichkeit abgelegt hat.
|