Das Zweite Buch
Die Schilderung Utopias im Zweiten Buch ist ein durchgehender Bericht, der von den Zuhörern des Hythlodäus nicht unterbrochen wird. Hythlodäus beschreibt die Lage und Gestalt der Insel, ihre Befestigung, ihre Städte, die Landwirtschaft, die Hauptstadt Amaurotum, den Arbeitsmarkt, die politische und soziale Struktur der Utopier, ihre Bildung, ihre Ethik des Glücklichseins, die Herkunft und die Arten der Sklaven, die Behandlung der Kranken, speziell der Unheilbaren, die Geschlechtsmoral und das Eherecht, die Einstellung zu Strafen und Gesetzen, ihre Bündnispolitik, ihre Verteidigungspolitik und schließlich ihre religiösen Überzeugungen und Gebräuche und ihre Toleranz.
Namensgebung Die Insel heißt Utopia nach ‚Utopos’, der die Insel vor 1760 Jahren erobert hatte „und der das rohe und wilde Volk zu der Gesittung und Bildung heranzog, durch die es jetzt fast alle Menschen übertrifft“49).
Städte, Land und Landwirtschaft Auf der Insel Utopia gibt es vierundfünfzig in Anlage und Aussehen gleiche und „in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollständig übereinstimmende“50) Städte. Diese schicken jährlich "je drei ältere, erfahrene Bürger“51) in die zentral gelegene Hauptstadt Amaurotum52), „um über gemeinsame Angelegenheiten der Insel zu beraten“53). Die Bürger der Städte müssen für zwei Jahre auf das Land ziehen und die harte Arbeit der Landwirtschaft übernehmen54). Die Haushaltungen dort sind nicht weniger als vierzig Männer und Frauen groß. Jährlich ziehen etwa zwanzig Menschen eines Haushalts wieder in die Stadt und entsprechend viele kommen neu aus der Stadt. Es ist auch möglich, länger als zwei Jahre zu bleiben. Bei der Erntezeit kommen aus der Stadt genügend Erntehelfer.
Die Stadt Amaurotum Die Stadt Amaurotum liegt am Fluss Anydrus55). Sie ist vorbildlich angelegt; jedes Haus hat einen Nutz- und Ziergarten, und die Amaurotaner wetteifern, wer der schönste der Gärten ist. Die Türen sind nicht verschlossen und „lassen einen jeden ein: so gibt es keinerlei Privatbereich“56). .
Die politische Struktur An der Spitze von je dreißig Haushaltungen steht ein jährlich gewählter ‚Phylarch‘57) (älterer Ausdruck: Syphogrant); an der Spitze von 10 Phylarchen der auch jeweils für ein Jahr gewählte Protophylarch. Auch die übrigen Ämter werden jeweils für ein Jahr besetzt. Die 200 Phylarchen wählen aus vier vom Volk benannten Männern das Staatsoberhaupt (princeps), das das Amt auf Lebenszeit innehat, aber nur „solange nicht der Verdacht aufkommt, der Inhaber dieses Amts strebe nach Gewaltherrschaft“57a). Die Protophylarchen und das Staatsoberhaupt erledigen die Staatsangelegenheiten (Senat, in den täglich wechselnd auch 2 Phylarchen gerufen werden, sozusagen als Vertreter der Volksversammlung; an einer anderen Stelle heißt es, dass der Senat in Amauretum tagt und dass „jährlich je drei Vertreter aus jeder Stadt dorthin zusammenkommen“58).). Den Beamten werden wie allen Utopiern freundliche Umgangsformen attestiert; „sie sind weder überheblich noch grob.“59) „Außerhalb des Senats oder der Volksversammlung über Angelegenheit der Gemeinschaft Beschlüsse zu fassen, wird für Hochverrat gehalten.“60) So werden Verschwörungen, geheime Absprachen und Korruption innerhalb der politisch Mächtigen vermieden. Ein weiteres Mittel der Kontrolle ist das Plebiszit: (Beschluss der ganzen Insel - totius insulae consilium). Institutionell wird dafür gesorgt, dass die Beratungen im Senat besonnen und zum Wohl der Gemeinschaft verlaufen.
Das Gewerbe Alle, Männer wie Frauen, arbeiten in der Landwirtschaft. Zusätzlich erlernt jeder noch ein besonderes Handwerk. Es gibt einige definierte Gewerbe, die gewöhnlich in der Familie bleiben, jedoch nicht unbedingt: Tuchmacherei, Leineweberei, Maurer-, Schmied-, Schlosser- und Zimmermannsgewerbe. Frauen sind von der Erwerbsarbeit nicht ausgeschlossen, jedoch beschränkt sich ihre Tätigkeit auf das leichtere Stoffgewerbe. Man darf nach seiner Lehrzeit auch ein zweites Handwerk lernen und dann wählen, welches man ausüben will; jedoch kann der Staat im Falle eines Notstandes über die Vorliebe des Einzelnen hinweg bestimmen. Die Phylarchen haben die Aufgabe, sicherzustellen, dass „jeder fleißig sein Gewerbe betreibt, aber nicht erschöpft wie ein Lasttier in ununterbrochener Arbeit vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein.“61)
Der Tagesablauf der Utopier Die Utopier arbeiten nur sechs Stunden am Tag; die übrige Zeit ist Freizeit; jeder „soll diese nach eigenem Gutdünken zu irgendeiner nützlichen Beschäftigung verwenden“62) . Die meisten nützen die Freizeit zur „geistigen Weiterbildung“63). Den Abend verbringen sie mit Spielen (keine verderblichen wie Würfel), Musik oder Gesprächen.
Arbeitsverteilung, Kleidung und Wohlstand Diese sechs Stunden Arbeit „reichen nicht nur zum Vorrat an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig.“64) Der Überschuss wird an die Nachbarn abgegeben. Das liege daran, meint Hythlodäus, dass in Utopia nur sehr wenige von der Arbeit befreit sind, während bei anderen Völkern allzu viele sich aus Faulheit dem Arbeitsprozess entziehen; er nennt u. a. Ordensbrüder, die Oberschicht und ihre Bediensteten, die Bettler, die arbeitsfähig, aber zu faul zur Arbeit sind. Und wenn die Anzahl der im Arbeitsprozess Stehenden „ausschließlich auf die wenigen Gewerbe verteilt sei, die ein zweckmäßiger natürlicher Bedarf fordert“65) (dazu gehören auch „natürliche und echte Vergnügungen“66)) und nicht auch auf solche, die „Dienerinnen von Verschwendung und Genusssucht“67)sind, wenn man die Ersparnis durch sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen und durch Bescheidenheit bei der Kleidung, die schön und bequem und bei allen gleich ist, dazunimmt, so würde ein Produktionsüberschuss entstehen und damit ein Preisverfall, wenn nicht die Produktionszeit dieser „nützlichen Arbeit“ eingeschränkt würde. Wenn nötig, verkünden die Behörden noch weitere Kürzungen der Arbeitszeit. "Denn die Behörden plagen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, da ja die Verfassung dieses Staates vor allem nur das eine Ziel vor Augen hat, dass allen Bürgern befreit von der körperlichen Fron möglichst viel Zeit für die Freiheit und Pflege des Geistes zugesprochen wird, soweit es bei den notwendigen Ansprüchen des Staates erlaubt ist. Darin liegt nämlich nach ihrer Meinung das Glück des Lebens."68) Freigestellt von der Arbeit im Gewerbe und in der Landwirtschaft sind die Phylarchen; aber trotz gesetzlicher Freistellung nehmen diese, um ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden, am Erwerbsleben teil. Freigestellt ist durch geheime Abstimmung der Phylarchen auch derjenige, der studieren soll. Hat er beim Studium keinen Erfolg, „wird er wieder zu den Handwerkern versetzt“69). Ein Handwerker, der seine Freizeit erfolgreich zum Studium benutzt hat, wird „in die Klasse der Wissenschaftler befördert“70). Aus dem Stand der wissenschaftlich Gebildeten werden die Gesandten, die Priester, die Protophylarchen und das Staatsoberhaupt gewählt.
Sozialordnung und Bevölkerungspolitik Eine Überbevölkerung vermeiden die Utopier durch Koloniengründung auf dem „nächstgelegenen Festland, wo die Eingeborenen Überfluss an Ackerland haben und es nicht bebauen“71). Mit den Ureinwohnern, die ihre Sitten annehmen, vermischen sie sich, falls diese es wollen. "Diejenigen aber, die sich weigern, nach ihren Gesetzen zu leben, vertreiben sie aus diesen Gebieten, die sie sich selbst aneignen. Gegen Widerstrebende wenden sie Waffengewalt an. Denn sie halten es für einen durchaus gerechtfertigten Kriegsgrund, wenn irgendein Volk Nutzung und Besitz des Bodens, den es selbst nicht nutzt, sondern gleichsam ohne Sinn und Zweck besitzt, dennoch anderen, die nach dem Naturrecht daraus ihre Nahrung holen müssten, untersagt."72) Es bleibt eine Unklarheit im Text: Einmal heißt es, es sei Ackerland im Überfluss vorhanden; später heißt es: das Land sei knapp und reiche nur aufgrund der Einrichtungen nach dem Vorbild Utopias. Völlig unklar bleibt die Frage, ob die Vertreibung geschieht, weil die Ureinwohner nicht nach den Gesetzen Utopias leben wollen - dem widersprechen die Grundüberzeugungen Utopias - oder weil sie fruchtbaren Boden brach liegen lassen.
Versorgung der Bevölkerung und die Einstellung zum Geld Die Frauen sind den Männern, die Jüngeren den Älteren unterstellt. Auf einem Markt werden die Erzeugnisse aller Familien zusammengebracht, und jede Familie kann nach ihrem Bedürfnis73) von dort holen, was sie braucht. "Von diesen Erzeugnissen verlangt jeder beliebige Familienvater, was er selbst und die Seinen nötig haben, und ohne Geld, völlig ohne Gegenleistung trägt er fort, was er verlangt hat. Warum nämlich sollte irgendetwas verweigert werden, da doch im Überfluss genügend von allen Dingen vorhanden ist und keine Furcht besteht, dass irgendeiner mehr fordern möchte, als nötig ist. Denn warum könnte man von dem glauben, dass er Überflüssiges verlangen wird, der die Gewissheit hat, dass ihm niemals etwas fehlen wird. Denn allerdings macht entweder die Furcht vor Entbehrung begierig und räuberisch bei jeder Art von Lebewesen oder beim Menschen allein der Hochmut/das Überlegenheitsgefühl, das es für rühmlich hält, durch überflüssiges Prunken mit den Dingen andere zu übertrumpfen; diese Art Fehler hat bei den Einrichtungen der Utopier überhaupt keinen Platz."74) siehe Textsammlung Vieh wird nur von Sklaven geschlachtet. „Sie dulden nämlich nicht, dass sich die Bürger an das Schlachten von Tieren gewöhnen, weil sie glauben, dass dadurch das Mitleid, die menschlichste Empfindung unserer Natur, sich allmählich verliere.“75)
In der Stadt werden anders als auf dem Land die Mahlzeiten in großen Hallen für 30 Familien gemeinsam eingenommen. „Wenn es auch keinem verboten ist, zu Hause zu speisen, so tut es doch niemand gern, da es nicht für anständig gilt und zudem töricht wäre, sich die Mühe der Zubereitung eines schlechten Essens zu machen, während ein gutes und reichliches in der so nahen Halle bereitsteht.“ 76)
Die Älteren werden zuerst bedient und bekommen das Beste. Vor dem Essen wird eine moralische Abhandlung vorgelesen, und zwar eine kurze, „damit kein Überdruss entsteht“77) . Beim Abendessen gibt es Musik und Nachtisch, nach dem Essen Räucherwerk und Riechwasser.
Eine Stadt hat vier Krankenhäuser. Diese „sind so gut eingerichtet und mit allem, wa zur Heilung dient, so reichlich versehen, die Pflege wird so rücksichtsvoll und gewissenhaft ausgeübt, die erfahrendsten Ärzte sind ständig so eifrig bei der Sache, dass es in der ganzen Stadt kaum jemanden gibt, der es im Falle der Erkrankung nicht vorzöge, dort zu liegen statt zu Hause, obgleich niemand gegen seinen Willen dort eingeliefert wird.“78)
Reisen ist erlaubt, aber nur mit Genehmigung der Behörden. Die Reisenden brauchen auf ihrer Reise nichts mitzunehmen, „denn sie sind überall daheim“79); bleiben sie an einem Ort länger als einen Tag, üben sie ihr Handwerk aus. Es gibt auf Utopia "keine Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: keine Weinstube, keine Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung ... Vor aller Augen muss man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen."80)
Überschüssige Waren führen sie aus; den siebten Teil davon schenken sie an die Armen des Exportlandes; das übrige Exportgut verkaufen sie „zu mäßigem Preis“. Diesen Betrag fordern sie meist nicht ein, „denn sie halten es für unbillig, etwas, wofür sie keine Verwendung haben, solchen Leuten wegzunehmen, denen es Nutzen bringt“. Sie bestehen auf Zahlung, wenn sie einem anderen Volk Geld leihen wollen oder wenn Krieg droht. Mit ihrem riesigen Staatsvermögen bezahlen sie Söldner oder sie kaufen sich die Feinde bzw. ermuntern Teile der Feinde zum Verrat oder zur „offenen Entzweiung“.
"Weil sie selber kein Geld brauchen, ... pflegen sie sich so zu verhalten, dass Gold und Silber, aus denen Geld gemacht wird, von keinem höher geschätzt wird, als sie es ihrer Natur nach verdienen. Wer sieht etwa nicht, wie weit sie unter dem Eisen stehen. Wie denn könnten die Menschen ohne das Eisen leben - nicht besser als ohne Feuer und Wasser, während die Natur dem Gold und dem Silber keinen Nutzen zugeteilt hat, den wir nicht leicht entbehren könnten, wenn nicht die Torheit der Menschen für die Seltenheit einen Preis festgesetzt hätte. Ja vielmehr hat die Natur wie eine überaus gütige Mutter gerade das Beste leicht zugänglich gemacht wie die Luft, das Wasser, den Ackerboden selbst, am weitesten entrückt aber das Nichtige und völlig Unnütze." Um möglichem Missbrauch der Edelmetalle zu begegnen, haben die Utopier Folgendes eingerichtet: "Während sie aus sehr geschmackvollem, aber billigem Ton- und Glasgeschirr essen und trinken, stellen sie aus Gold und Silber ... überall Nachttöpfe und gerade die schmutzigsten Gefäße her."85) Weitere Beispiele für ähnlichen Gebrauch der Edelmetalle werden erwähnt: die Ketten der Sklaven sind aus Gold, Gold tragen nur die Verbrecher. "So sorgen sie auf jede Art und Weise dafür, dass bei ihnen Gold und Silber in Verruf stehen."86) Und sie verstehen nicht, „dass irgendein Dickschädel (bei Morus: Bleischädel), der nicht mehr Geist besitzt als ein Holzklotz und ebenso schlecht wie dumm ist, dennoch viele kluge und wackere Männer in seinem Dienst haben kann, nur deshalb, weil er zufällig einen großen Haufen goldener Münzen besitzt.“87) Ähnlich verhalten sie sich bei Edelsteinen; sie werden Kindern angelegt, bis diese erwachsen werden und von allein die Steine ablegen, und sie wundern sich, „dass es irgendeinen Menschen gibt, dem das trübe Gefunkel eines armseligen Brillanten oder Edelsteinchens Freude macht, wo er doch jeden Stern und sogar die Sonne selbst betrachten kann.“88)
Bildung der Utopier „Diese und ähnliche Ansichten haben die Utopier zum Teil aus ihrer Erziehung gewonnen ..., teilweise aus Wissenschaft und Literatur.“89) Zwar können sich nur die Begabtesten ausschließlich den Studien widmen, „doch werden alle Kinder mit den Studien vertraut gemacht“90), und als Erwachsene beschäftigen sie sich ihr ganzes Leben lang in der Freizeit mit ihnen.
Zu den Studien gehört auch die Astronomie. „Indessen fällt ihnen nicht einmal im Traume etwas ein von freundlichen und feindlichen Einflüssen der Planeten sowie überhaupt von jenem ganzen Schwindel der Wahrsagerei aus den Sternen.“91) Im Kapitel über die Religion bestätigt Hythlodäus diese Ablehnung des Aberglaubens: „Auf Vorzeichen und sonstige Ahnungen eitlen Aberglaubens ... geben sie ganz und gar nichts.“92) Wohl aber glauben sie an Wunder „als Taten und Zeugnisse der gegenwärtigen Gottheit.“93)
Lehre vom Glücklichsein und vom Vergnügen Hythlodäus nennt die Lebensgrundsätze der Utopier eine „sinnenfrohe Lehre“94). Die Utopier sehen nämlich im Vergnügen95) die entscheidende Grundlage für das Glücklichsein96), das als höchstes Ziel des menschlichen Lebens gilt. Dieses Ziel entnehmen sie Grundsätzen der Religion, die die auf Vernunft sich stützende Philosophie ergänzt. „Diese Grundsätze lauten: die Seele ist unsterblich und durch Gottes Güte zum Glücklichsein geschaffen.“97) Das Vergnügen, das zum Glück führt, müsste freilich „rechtschaffen und ehrbar“98) sein. Dazu verhelfe die Tugend, die durch Gottes Schöpfungsakt der Natur des Menschen entspreche und durch die Vernunft erkennbar sei. „Von Natur aus angenehm ist alles, was man nicht unrechtmäßig begehrt, wofür man nicht etwas noch Angenehmeres aufgibt und worauf keine Beschwernis folgt.“99) Unvernünftig sei also, ein Glück zu erstreben, das unrechtmäßig zustande kommt und Missvergnügen mit sich führt. Unvernünftig sei, ein Vergnügen zu erstreben, das wider die Natur des Menschen sei, den Menschen sich selbst entfremde. Die Vernunft aber „mahnt und spornt uns dazu an, selbst unser Leben möglichst sorglos und fröhlich zu führen, uns allen übrigen Menschen aber zum gleichen Zweck als Helfer zu erweisen, entsprechend unserer natürlichen Zusammengehörigkeit. ... Wenn aber die eigentliche Menschlichkeit ... darin besteht, die Not anderer zu lindern, ihren Kummer zu beheben und dadurch ihrem Leben wieder Freude zu geben, warum sollte dann die Natur nicht einen jeden dazu antreiben, sich selbst den gleichen Dienst zu leisten. ... Die Natur selbst also, so meinen die Utopier, schreibe uns ein angenehmes Leben, also das Vergnügen, gleichsam als Zweck aller unserer Handlungen vor; nach ihrer Vorschrift zu leben, nennen sie Tugend. Wie aber die Natur die Menschen einlädt, sich gegenseitig zu einem fröhlicheren Leben zu verhelfen ..., so verlangt dieselbe natürlich von dir auch immer und immer wieder, darauf zu sehen, dass du deinen eigenen Vorteil nicht in einer solchen Weise verfolgst, dass du den Schaden anderer verschuldest.“100) Es wird hier auch im Zusammenhang mit der Ethik des Glücklichseins noch einmal die Idee des Gemeinguts gerechtfertigt: Die Natur bevorzugt niemanden und umsorgt a l l e in gleicher Weise. Deshalb sei es notwendig, dass auch die staatlichen Gesetze "über die Verteilung der Lebensgüter, das heißt also die Grundlagen des Wohlergehens"101), beachtet werden. "Ohne Verstoß gegen diese Gesetze für deinen Vorteil zu sorgen, ist Klugheit, darüber hinaus für das Wohl der Allgemeinheit: Nächstenliebe (Pflichtbewusstsein). Aber anderer Freude zu stören, um die eigene zu erlangen, das ist gewiss Unrecht. Umgekehrt: dir selbst etwas zu versagen, um es anderen zukommen zu lassen, ist schließlich die Pflicht der Menschlichkeit und Güte, die dir nicht so viel von deinem Vorteil nimmt, wie sie dir einbringt. Denn es wird (später) durch die Gegenleistung anderer Wohltaten aufgewogen, und das bloße Bewusstsein einer guten Tat und der Gedanke an die Liebe und Anhänglichkeit derer, denen du Gutes erwiesen hast, verschafft deinem Herzen mehr Freude, als der Körper von jener Freude gehabt hätte, auf die du verzichtet hast."102) Hythlodäus hatte seine Darstellung über das Vergnügen mit einer Einschränkung begonnen (Mehr als billig103) würden sie in ihm den entscheidenden Grund für das Glücklichsein sehen); nun aber lässt er zumindest die Utopier bekräftigen: „Auf diese Weise also glauben sie, nachdem sie die Sache eifrig geprüft und durchdacht haben, dass alle unsere Handlungen und darunter sogar auch die tugendhaften zuletzt auf das Vergnügen als den Endzweck und das eigentliche Glücklichsein zielten.“104)
Die unechten Vergnügungen Nach einer Definition von ‚Vergnügen’ („’Vergnügen’ nennen sie jede Bewegung und jeden Zustand des Leibes und der Seele, in dem unter Leitung der Natur zu verweilen Lust verschafft.“105)) legt Hythlodäus nun im Einzelnen dar, was „von Natur aus angenehm“106) bzw. naturwidrig ist und damit einer „falschen Auffassung des Vergnügens“107) entspringt. Ein „falsches Vergnügen“108) ist z. B. die Lust, aufgrund ‚besserer’ Kleidung als etwas Besseres zu scheinen. Ebenfalls ein unechtes Vergnügen ist die Sucht, „mit eitlen und nutzlosen Ehrenbezeichnungen versehen zu werden"109). "Denn was an natürlicher und wahrer Freude gewährt der entblößte Scheitel oder das gebeugte Knie eines anderen? Heilt es den Schmerz in deinen Knien oder mildert es den Wahn deines Hirns? Es ist erstaunlich, mit welchem Behagen (wie angenehm) diejenigen in diesem Bild eines gefälschten Vergnügens närrisch sind, die aufgrund ihrer Einbildung von Adel sich schmeicheln und applaudieren, weil zufälligerweise sie von Vorfahren dieser Art abstammen, deren lange Reihe für reich gehalten worden ist - und nichts anderes ist ja Adel.“110). Falscher Wahn ist auch das Vergnügen an Diamanten, die unbedingt echt sein müssen, auch wenn sie von künstlichen Steinen nicht zu unterscheiden sind, und an Gold, das man aus Angst, dass es geraubt wird, vergräbt. Törichte Vergnügen sind auch das Würfelspiel und die Jagd, auf die sich Hythlodäus näher einlässt: "Welches Vergnügen kann es geben (sein) und nicht eher Widerwillen beim Anhören vom Gekläff und Geheul der Hunde! Oder welch größeres Gefühl des Vergnügens ist es, wenn ein Hund den Hasen verfolgt als wenn ein Hund einen Hund verfolgt. Offenbar wird in beiden Fällen dasselbe getan: es wird nämlich gerannt, falls dich das Rennen vergnügt. Aber wenn dich die Hoffnung auf Morden, die Erwartung, dass unter deinen Augen das Zerfleischen ausgeführt wird (des Ausführens von Zerfleischen unter deinen Augen), fesselt, muss es nicht eher dein Mitleid erregen zu sehen, dass das Häschen vom Hund, das Schwache vom Stärkeren, das Flüchtige und Furchtsame vom Wilden, schließlich das Unschuldige vom Grausamen zerrissen wird. Deshalb haben die Utopier diese ganze Verrichtung des Jagens – wie eine der Freien unwürdige Sache – an die Fleischer verwiesen – wir haben oben gesagt, dass sie dieses Handwerk durch Sklaven ausführen lassen. Sie setzen fest, dass die Jagd dessen niedrigste Stufe ist, dass die übrigen Stufen sowohl nützlicher als auch ehrenvoller sind, da diese ja sowohl viel mehr nützen als auch die Tiere nur aus Notwendigkeit töten, während der Jäger durch das Morden und Zerfleischen eines armen Tierchens nur sein Vergnügen sucht."111) Solche ‚Vergnügungen’ würden zwar „die Sinne angenehm erregen“112), seien aber keine echten Vergnügungen, da nicht die Natur die Ursache für jenes Wohlbefinden sei, sondern die „irregeführte Gewohnheit“113) der Menschen.
Die echten Vergnügungen Die Utopier unterscheiden bei den echten Vergnügungen zwischen denen der Seele und denen des Körpers, wobei sie denen der Seele den Vorrang geben. Zu den Vergnügungen des Körpers gehört, was dem Körper angenehm ist, vor allem Gesundheit als „die Grundlage und Voraussetzung aller Freuden“114) und all das, was der Gesundheit förderlich ist. „Sie halten es für äußerst töricht“115), "die Gesundheit zu untergraben und überhaupt die natürlichen Freuden zu verschmähen, es sei denn, einer vernachlässige nur deshalb seinen eigenen Vorteil, um desto eifriger dem anderer oder dem des Staates zu dienen; im Wechsel für diese Mühe erwartet er von Gott noch größere Freude."116)
Über die Sklaven Sklaverei ist bei den Utopiern nicht erblich, sondern als Sklaven haben sie nur solche, die bei ihnen wegen eines Verbrechens zur Sklaverei verurteilt wurden und in der Mehrzahl solche, die im Ausland zum Tode verurteilt wurden. Sie müssen in Ketten Arbeitsdienst verrichten, "die eigenen Landsleute aber härter, weil sie diese für umso verworfener ... halten, da sie trotz einer so hervorragenden Erziehung zur Rechtschaffenheit sich dennoch nicht von Verbrechen zurückhalten ließen."117) Zum Stand der Sklaven zählen auch arme Tagelöhner aus dem Ausland, die freiwillig bei den Utopiern als Sklaven arbeiten.
Über die Kranken Jede Stadt besitzt vier großzügig angelegte und hervorragend eingerichtete Krankenhäuser mit rücksichtsvollen, gewissenhaften Pflegern und erfahrenen Ärzten. Die Utopier "pflegen die Kranken mit großer Hingabe und sie übergehen ganz und gar nichts, wodurch sie diesen die Gesundheit entweder durch Beobachtung der Medizin oder der Nahrung zurückgeben. Ja sogar trösten sie die an einer unheilbaren Krankheit Leidenden, indem sie bei ihnen sitzen, mit ihnen reden und schließlich alle Linderungsmittel, die möglich sind, anwenden. Wenn im übrigen eine Krankheit nicht nur unheilbar sein könnte, sondern auch ständig quälen und peinigen könnte, dann machen die Priester und die politisch Verantwortlichen dem Kranken Mut, da er ja - allen Aufgaben des Lebens nicht (mehr) gewachsen, den anderen zur Last und sich selber unerträglich - seinen Tod schon überlebt hat, dass er nicht für sich selbst entscheidet, die furchtbare Krankheit länger zu nähren, und dass er nicht, wenn das Leben ihm eine Qual ist, zu sterben zögert; er möge sogar, im Vertrauen auf die gute Hoffnung (auf das ewige Leben), entweder sich aus jenem bitteren Leben wie aus einem Kerker und wie von einer Folterbank selbst befreien oder zulassen, dass er mit seinem Einverständnis von anderen herausgerissen wird.118) Jener werde, weil er ja dabei sei nicht das Angenehme, sondern die Marter durch den Tod abzukürzen, dabei klug handeln; weil er aber dabei sei, in dieser Sache den Ratschlägen der Priester, das heißt der Deuter Gottes, zu gehorchen, werde er auf ehrfürchtige und fromme Weise handeln. Welche davon überzeugt sind, beenden entweder ihr Leben freiwillig durch Hungern oder sie werden, nachdem sie eingeschläfert worden sind, ohne das Empfinden des Todes (ohne den Tod zu empfinden) erlöst. Gegen seinen Willen aber töten sie niemanden und vermindern nicht irgend etwas an Pflicht ihm gegenüber. Dass die von dieser Übereinkunft Überzeugten ihr Leben beenden, ist ehrenvoll. Ansonsten halten sie (die Utopier) den, der für sich, ohne dass der Grund von Priestern und Obrigkeit gebilligt worden ist, den Tod beschlossen hat, nicht der Erde noch des Feuers für würdig, sondern er wird unbestattet auf schändliche Weise in irgendeinen Sumpf geworfen.“119) Respekt vor den Schwachen erwarten die Utopier auch bei den Behinderten: "Einen Missgestalteten oder Krüppel auszulachen gilt als schimpflich und hässlich, nicht für den Verspotteten, sondern für den Spötter, der in seiner Torheit einem Menschen etwas als Fehler vorwirft, das zu vermeiden gar nicht in dessen Macht stand."120)
Über Ehe und Treue Vorehelicher Geschlechtsverkehr wird streng bestraft, weil man Sorge hat, dass niemand die Ehe eingehen werde, „bei der sie sehen, dass man sein ganzes Leben mit einem Partner verbringen und obendrein die mit dem Ehestand verbundenen Beschwerlichkeiten ertragen muss, wenn man dem freien Zusammenleben nicht sorgsam wehrte“121). Vor einer Verbindung betrachten sich die beiden Partner unter sorgfältiger Aufsicht nackt, damit sie nicht über die körperliche Beschaffenheit des Partners getäuscht werden. „Denn keineswegs sind alle so vernünftig, dass sie bloß auf den Charakter sehen; und auch in den Ehen der vernünftigen Menschen fügen sie die körperliche Mitgift als eine nicht unwesentliche Zugabe den Vorzügen des Geistes hinzu.“122) Etwas später heißt es, dass die Frauen ihre natürliche Schönheit123) zwar pflegen sollen, dass aber nicht zur Schminke Zuflucht genommen werden soll. Die Utopier, so Hythlodäus, „wissen nämlich aus Erfahrung, in welchem Grade ein körperlicher Reiz die Frauen ihren Männern so wenig empfiehlt wie Rechtschaffenheit und achtungsvolle Rücksicht. Denn wenn auch manche von der Schönheit allein gefangen werden, so wird doch ohne Tugendhaftigkeit und Hingabe auf die Dauer keiner gefesselt.“124) Ehebruch oder „unerträglicher Charakterfehler“125) können Ursache für Ehescheidung sein. „Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei bestraft“126). Der Betrogene kann sich wieder verheiraten; verzeiht er seinem Partner, kann er „dem zur Zwangsarbeit Verurteilten folgen“127). „Gelegentlich kommt es vor, dass die Reue des einen und die dienstwillige Aufopferung des anderen - das Mitleid des Staatsoberhaupts erweckend - ihm wieder die Freiheit erwirken.“128) Trennung unter gegenseitigem und des Senats Einverständnis ist dann möglich, „wenn die Charaktere der Eheleute nicht recht zueinander passen und beide einen anderen Menschen gefunden haben, mit dem sie glücklicher zusammenzuleben hoffen“129). Die Senatoren geben nicht leicht ihre Zustimmung, „da sie wissen, dass die Sache der Festigung der ehelichen Liebe keineswegs zuträglich ist, wenn die Aussicht einer neuen Eheschließung ohne weiteres gegeben ist.“130) Treue in der Ehe ist den Utopiern sehr wichtig, zumal dann, wenn ein Partner „körperlichen Schaden erlitten hat. Denn sie halten es für grausam, dass jemand gerade dann im Stich gelassen wird, wenn er am meisten des Trostes bedarf, und dass, da das Alter ja Krankheiten mit sich bringt und schon an sich eine Krankheit ist, dem alternden Ehepartner gegenüber die Treue unzuverlässig und schwach ist.“131)
Über das Rechtsempfinden Todesstrafe kennen die Utopier nur in seltenen, äußerst extremen Fällen; ansonsten halten sie die Bestrafung durch Zwangsarbeit für dem Staat nützlicher und auch für abschreckender, weil die Strafe länger vor Augen ist.
„Sie haben sehr wenige Gesetze; denn in einem Staat mit einer solchen Verfassung lebenden Menschen (den so Eingerichteten) reichen nämlich sehr wenige aus. Sie tadeln ja sogar vor allem dies bei anderen Völkern, dass (diesen) zahllose Bände von Gesetzen und Kommentatoren nicht ausreichen. Sie selbst aber schätzen es als höchst ungerecht ein, dass irgendwelche Menschen durch solche Gesetze verpflichtet werden, die entweder zu zahlreich sind, als dass sie gelesen werden könnten, oder zu unklar, als dass sie von jedem beliebigen verstanden werden könnten. Fernerhin schließen sie alle Anwälte, die Prozesse verschlagen führen und die Gesetze spitzfindig auslegen, völlig aus. Sie meinen nämlich, dass es nützlich sei, dass jeder seinen Prozess persönlich führt und dasselbe dem Richter berichtet, was er im Begriff gewesen war, dem Anwalt zu erzählen.“132) Es geht den Uopiern darum, dass der Richter die Wahrheit erfährt und dass nicht verschlagene Anwälte ihren Klienten zu mehr Recht verhelfen, vor allem „bei einer so großen Unmasse höchstverwickelter Gesetze“133), wie es sie bei anderen Völkern gibt. Auch von der Auslegung der Gesetze erwarten die Utopier gerade im Interesse der einfachen Leute, denen das Bemühen um den Lebensunterhalt134) für das Studium der Gesetze keine Zeit lässt, dass sie verständlich ist und dem Sinn des Gesetzes entspricht.
Aufgrund der hervorragenden Qualitäten bei der Organisation von Utopia lassen benachbarte Völker für ein Jahr oder für fünf Jahre Beamte aus Utopia ihren Staat führen135). Diese Beamte sind vor Bestechlichkeit gefeit, weil ihnen Geld nichts nützt, wenn sie wieder nach Utopia kommen; und weil ihnen die Einwohner des Nachbarstaates fremd sind, sind sie auch nicht voreingenommen. So werden „die beiden Übel, das der Parteilichkeit und der Habgier"136), die "alle Gerechtigkeit, den Lebensnerv eines Staatswesens, zersetzen“137), vermieden.
Über Bündnisse Die Utopier gehen keine Bündnisse ein, weil Bündnisse anderswo „mit allzu geringer Treue gehalten werden“138) und weil „die Natur Mensch mit Mensch zur Genüge verbindet“139). Hythlodäus meint ironisch, dass in christlichen Ländern Bündnistreue heilig sei; anderswo – fährt er mit seiner Ironie fort - erwarte man zwar vom kleinen Mann, dass er Verträge nicht breche, der ‚Tugend’ der Fürsten aber sei alles erlaubt, was ihnen gefällt 140).
Bündnisse werden dort eingegangen, wo Menschen sich „gegenseitig für geborene Feinde und Widersacher halten“141) und glauben, nur Bündnisse könnten sie vor der gegenseitigen Vernichtung bewahren. Die Utopier glauben dagegen, „die natürliche Zusammengehörigkeit der Menschen ersetze ein Bündnis, und die Menschen binde Verträglichkeit besser und wirksamer als Verträge, Gesinnung fester als Worte.“142)
Über die Einstellung zum Krieg „Den Krieg verabscheuen sie aufs höchste als eine völlig bestialische Angelegenheit – und doch ist keine Art der wilden Tiere (ihn) so gewohnt wie der Mensch. Entgegen der moralischen Vorstellung fast aller Völker halten sie nichts in gleicher Weise für unrühmlich wie den aus Krieg erworbenen Ruhm. Und deshalb greifen sie, wie sehr sie auch ständig sich an festgesetzten Tagen durch militärische Übung ausbilden – und dies nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen -, damit sie nicht untauglich zum Krieg sind, wenn der Bedarf es fordert, doch nicht unüberlegt zu den Waffen, außer um entweder ihre Grenzen zu schützen oder die in die Länder der Freunde eingedrungenen Feinde zu vertreiben oder irgendein tyrannisch unterdrücktes Volk aus Mitleid (es bemitleidend), - was sie aus Menschlichkeit machen – mit ihren Kräften vom Joch und der Knechtschaft des Tyrannen zu befreien.“143) Sie helfen befreundeten Völkern auch bei Vergeltungskriegen, beispielsweise wenn den Kaufleuten in einem fremden Land Unrecht geschieht. Bei Unrecht an eigenen Kaufleuten verfahren die Utopier großzügiger, da es sich ja nicht um das private Vermögen und persönliche Existenzgrundlage, sondern um Staatsvermögen handelt und weil auch nur ausgeführt wird, wovon die Utopier im Überfluss haben. Wenn dagegen ein Utopier im Ausland misshandelt oder getötet wird, erklären sie dem Land den Krieg, wenn der Schuldige nicht ausgeliefert wird. (Weiterer Kriegsgrund siehe oben: ‚Sozialordnung und Bevölkerungspolitik’) „Ein blutiger Sieg ist ihnen nicht nur zuwider, sondern sie schämen sich seiner sogar“144), weil der Einsatz ihnen zu hoch ist. Stolz sind sie, wenn sie einen Sieg durch listige Verhandlungen errungen haben, weil „sie so gesiegt haben, wie es kein Lebewesen außer dem Menschen kann, nämlich mit geistigen Waffen“145). Das einzige Ziel ihrer Kriegsführung ist, Grundlagen zu schaffen, die den Frieden sichern, im Notfall auch durch Abschreckung. Zur raschen Beendigung eines Kriegs setzen sie ungeheuer hohe Belohnungen aus für die Ermordung oder Gefangennahme des gegnerischen Fürsten oder dessen kriegstreiberischen Ratgebern, denen sie Straffreiheit zusichern, wenn sie selber den Fürsten oder ihre Genossen verraten. „Dieser Brauch, den Feind öffentlich auszubieten und zu verkaufen, bei anderen Völkern als grausame Untat eines entarteten Geistes missbilligt, rechnen sie sich als höchst löblich an, gleichsam wie Kluge, die auf diese Weise mit den größten Kriegen ohne jede Schlacht unverzüglich fertig werden, wie humane und barmherzige Menschen, die mit dem Tode weniger Schuldiger das Leben zahlreicher Unschuldiger erkaufen, die sonst im Kampfe umgekommen wären, teils aus dem eigenen Volk, teils von den Feinden, deren einfaches Volk sie kaum weniger bedauern als ihre eigenen Leute, wissend, dass sie nicht freiwillig den Krieg angefangen haben, sondern durch den Wahnsinn ihrer Führer dazu getrieben wurden.“146) Ein weiteres probates Mittel der Kriegsführung: dass sie Zwietracht sähen innerhalb des befeindeten Volks oder dass sie die Nachbarn gegen dieses aufwiegeln. Weil den Utopiern für den Krieg das Leben der eigenen Leute zu teuer ist, werben sie mit dem Gold, das sie selbst ja nicht brauchen, - vor allem aus dem Volk der Zapoleten - Söldner an, die immer zu dem überwechseln, der gerade mehr bezahlt. Und die Utopier bezahlen am besten. Sie glauben, dass sie sich um die Menschheit verdient machen, wenn die Söldner, „jener völlige Abschaum des so abscheulichen und verbrecherischen Volks“147), sich in ihrem Dienst zugrunderichten. Für Kriege außerhalb des Landes nehmen die Utopier, wenn überhaupt aus dem eigenen Volk, nur Freiwillige, für Krieg im eigenen Land werden auch die verpflichtet, die zum Kämpfen zu feige sind, und dort eingesetzt, wo sie nicht fliehen können. Tapferkeit und Zähigkeit im Krieg wird dadurch gesteigert, dass sie – freiwillig - in Familienverbänden kämpfen und dass sie wissen, dass die Angehörigen, die zu Hause geblieben sind, bei ihrem Tod vom Staat gut versorgt werden. Sie sind zu einer Haltung (virtus) erzogen worden, „durch die sie ihr Leben weder so gering schätzen, dass sie es leichtsinnig wegwerfen, noch so maßlos hoch, dass sie sich, wenn die Ehre befiehlt, es aufs Spiel zu setzen, in schmählicher Gier daran klammern“148). „Einen mit den Feinden geschlossenen Waffenstillstand halten sie so heilig, dass sie ihn nicht einmal verletzen, wenn sie gereizt werden. Das feindliche Land verwüsten sie nicht, brennen auch nicht die Saaten nieder, sondern sorgen im Gegenteil nach Möglichkeit dafür, dass diese nicht von Menschen und Pferden niedergetreten werden, weil sie sich sagen, das Korn wachse zu ihrem eigenen Nutzen. Einem Wehrlosen tun sie nichts zuleide, es sei denn, es handle sich um einen Spion. Städte, die sich ergeben haben, verschonen sie; aber auch mit Gewalt eroberte plündern sie nicht, sondern töten diejenigen, die die Übergabe verhinderten, und machen die übrigen Verteidiger zu Sklaven. Die gesamte Zivilbevölkerung bleibt ungeschoren. Erfahren sie, dass einige zur Übergabe geraten haben, so überlassen sie diesen einen Teil von dem Besitz der Verurteilten, mit dem Rest beschenken sie die Hilfstruppen; denn von ihren eigenen Leuten will keiner etwas von der Beute.“149) Als Entschädigung fordern sie von den Besiegten Geld oder Grundbesitz, der von Quästoren aus Utopia verwaltet wird, „die dort in Glanz und Pracht leben und als Rolle den großen Herrn vor sich hertragen“150).
Über die Religion und Toleranz Eine Minderheit der Utopier verehrt Sonne oder Mond, einen Planeten oder auch einen Menschen, der sich durch besondere Tüchtigkeit ausgezeichnet hatte, als höchstes Wesen, „dem man die Erschaffung des Weltalls und die Vorsehung verdankt“151). „Der bei weitem größte und vernünftigste Teil“152) glaubt "an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen“153), das „sich als wirkende Kraft, nicht als Stoff, über die ganze Welt ausdehnt“154). Alle, auch jene Minderheit, „wenden sich allmählich von der Vielfalt abergläubischen Vorstellungen ab und gehen auf in jene eine Religion, die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint“155). „Alle, wenn auch verschiedenen und mannigfaltigen Formen der Religion laufen hinaus auf die Verehrung des göttlichen Wesens wie auf ein einziges Ziel auf unterschiedlichem Weg“156), berichtet Hythlodäus im Kapitel über den Gottesdienst. Angst vor der Rache der Gottheit, deren Verehrung die Minderheiten nun aufgeben möchten, verzögert jedoch den Prozess der Einigung. Als die Utopier von Hythlodäus und seinen Gefährten vom Christentum hörten, schlossen sie sich sehr bereitwillig dieser Religion an, weil "eben diese jener Glaubenslehre am nächsten zu stehen schien, die bei ihnen die vorherrschende ist. Indessen möchte ich annehmen – so kommentiert Hythlodäus –, dass auch der Umstand von nicht geringer Bedeutung war, dass sie gehört hatten, die Lebensführung der Seinen, bei der allen alles gemeinsam ist, habe Christus gefallen und sei heute noch in den Konventen (Klöstern) der echtesten Christen üblich."157) Da die Utopier aber keinen Priester haben, erwägen sie „ohne Auftrag des christlichen Papstes“158) selber einen Priester zu wählen. Viele Utopier hatten sich von Hythlodäus taufen lassen. Die übrigen Utopier behelligten keinen der Getauften, „außer dass einer - so berichtet Hythlodäus - von unserer Gemeinschaft in meiner Gegenwart gestraft worden ist. Als dieser, frisch getauft, über die Verehrung Christi mit größerem Eifer als mit Klugheit predigte, während wir davon ab- (dagegen) rieten, begann er so sehr in Feuer zu geraten, dass er nicht nur unsere Religion den übrigen Religionen vorzog, sondern alle übrigen beständig verdammte, diese selbst als schändlich, ihre Verehrer als gottlos und verrucht, als solche, die im ewigen Feuer bestraft werden müssten, bezeichnete. Sie ergreifen ihn, der solches lange predigte, und klagen (ihn) an und verurteilen den Angeklagten nicht wegen Verachtung der Religion, sondern wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (wegen des im Volk erregten Aufruhrs); den Verurteilten bestrafen sie mit Exil. Denn das zählen sie zu ihren ältesten Grundrechten, dass nicht jemandem seine Religion zum Nachteil gereicht.“159) Am Anfang der Geschichte Utopias hatte nämlich dessen Gründer Utopos „verfügt, dass jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren dürfe er nur insoweit versuchen, dass er seine Anschauung freundlich und ohne Anmaßung auf Vernunftgründen aufbaue, nicht aber die fremden Meinungen gehässig zerpflücke; wenn er durch Zureden nicht überzeugen könne, dürfe er keine Gewalt anwenden, und Schmähungen solle er unterdrücken. Geht daher einer allzu rücksichtslos vor, so bestrafen sie ihn mit Verbannung oder Zwangsarbeit. Dies setzte Utopos nicht nur mit Rücksicht auf den Frieden fest, der, wie er sah, durch andauernden Streit und unversöhnlichen Hass vollständig untergraben wird, sondern weil er der Ansicht war, dass es im Interesse der Religion selbst sei, dass so entschieden würde. Daher wagte er es nicht, über sie leichthin etwas Endgültiges festzusetzen, gleichsam für unsicher haltend, ob Gott nicht vielleicht gerade eine mannigfache und vielfältige Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke. Mit Gewalt und Drohungen zu erzwingen, dass das, was einer für wahr hält, allen als wahr erscheine, hielt er in jeden Fall (certe) für anmaßend und töricht, Wenn aber wirklich nur eine einzige Religion wahr, jede andere aber falsch sein sollte, so sah er leicht voraus, dass es am Ende so sein werde, dass die Kraft der Wahrheit durch sich selbst sichtbar und offenbar werde, sofern die Sache vernünftig und maßvoll betrieben werde.“ 160)Zwei Glaubenssätze aber wollte Utopos nicht angetastet wissen, den von der Unsterblichkeit der Seele und den, dass eine Vorsehung jedes Einzelne bestimme. Den Glauben an Strafe und Belohnung nach dem Tode halten die Utopier nämlich für eine Garantie moralischen Verhaltens. Die Utopier sind so sehr von einem Leben und einer ewigen Seligkeit nach dem Tod überzeugt, dass sie erwarten, man solle „frohgemut und voll guter Hoffnung“161) sterben. Todesfurcht dagegen „halten sie für ein sehr übles Anzeichen, gleich als ob eine hoffnungslose und schuldbewusste Seele in irgendeiner dunkler Vorahnung drohender Strafe vor dem Tod zurückschaudere.“162) Im übrigen meint eine nicht kleine Zahl von Utopiern, dass auch Tiere eine unsterbliche Seele hätten, eine Vorstellung, die als „nicht gänzlich unvernünftig“163), aber doch als irrig bezeichnet wird. Auch glauben die Utopier, die in der ewigen Seligkeit Weilenden würden als eine Art Schutzgeister unter ihren Lieben auf Erden wandeln, ein Glaube, der sie zu guten Taten ermuntert und sie vor schlechten zurückschrecken lässt. Einem Menschen, der diese Überzeugungen nicht mit ihnen teilt, begegnen die Utopier mit größtmöglicher Toleranz: „Sie bestrafen ihn nicht, weil sie überzeugt sind, daß es niemand in der Hand hat, zu glauben, was ihm beliebt; sie zwingen ihn aber auch nicht durch irgendwelche Drohungen, seine Gesinnung zu verheimlichen, und lassen auch keine Verstellung und Lüge zu, die ihnen als nächste Verwandte des Betruges überaus verhasst sind. Dagegen hindern sie ihn, seine Meinung öffentlich zu vertreten, aber auch das nur vor der breiten Masse. Denn anderswo, vor den Priestern und gesetzten Männern in abgesondertem Zirkel, gestatten sie es nicht nur, sondern fordern ihn sogar dazu auf, im festen Vertrauen, sein Wahn werde endlich der Vernunft weichen.“164) Immer wieder betont Hythlodäus, dass es nur wenige Priester gibt, darunter auch einige Frauen (hochbetagte Witwen). Diese kleine Zahl sei die Garantie, dass die Priester integer seien. Die männlichen Priester sind verheiratet. "Gewählt werden sie vom Volk ... Die Gewählten werden von ihren Amtsgenossen geweiht. Sie überwachen das religiöse Leben, kümmern sich um die Gottesdienste und sind eine Art Sittenrichter."165) Sie sind auch die Erzieher der Kinder in sittlicher und in wissenschaftlicher Hinsicht. Im Krieg beten sie um den Sieg, „aber nur um einen für keine Partei blutigen“166). Auch „halten sie die zurück, die gegen die Geschlagenen wüten“167). Vornehmlich aber bemühen sie sich um Frieden und humane Konventionen. Bei den öffentlichen Gottesdiensten „sieht und hört man nichts, was nicht für alle Religionsformen gemeinhin passend schiene. Wenn irgendetwas Verehrungswürdiges an einer einzelnen Kultusgemeinschaft besonders ist, kümmert sich darum jeder einzelne innerhalb der vier Wände seines Hauses. Den öffentlichen Kult dagegen verrichten sie in einer solcher Form, die keiner von den besonderen Kultusgemeinschaften ganz und gar etwas wegnimmt.“168) Darum gibt es in den Kirchen kein Bild und keinen besonderen Namen einer Gottheit. Die Utopier gehen nicht zum Gottesdienst, bevor sie nicht Hass und Zorn gegenüber anderen abgelegt haben. Im Gottesdienst dankt jeder auch dafür, „dass er durch Gottes Gnade in dieses glücklichste aller Gemeinwesen hineingeboren wurde und dass er die Religion erlangt hat, die, wie er hofft, die meiste Wahrheit besitzt“169). Täusche er sich, möge Gott ihn zu etwas Besserem führen; habe er recht, möge Gott „die übrigen Menschen zu derselben Lebensweise, zu derselben Gottesanschauung führen, wenn es nicht in seinem unerforschlichen Willen liege, sich an dieser Mannigfaltigkeit der Religionen zu erfreuen.“170)
Epilog
Über Gemeineigentum Zum Abschluss seines Vortrags betont Raphael Hythlodaeus nochmals, dass er die Gestalt des Gemeinwesens (formam rei publicae), wie er sie in Utopia kennengelernt hat, nicht nur für die beste hält, sondern auch für die einzige, "die für sich mit gutem Recht den Namen eines Gemeinwesens beanspruchen könnte. Denn die, die anderswo über den öffentlichen Nutzen reden, kümmern sich doch überall (nur) um den persönlichen Nutzen. Hier, wo es kein persönliches Eigentum gibt, betreiben sie ernsthaft das öffentliche Interesse; sicherlich handeln sie hier wie da aus gutem Grund. Denn wer wüsste anderswo nicht, dass er, mag der Staat noch so sehr in Blüte stehen, dennoch Hungers sterben wird, wenn er nicht irgendeine Vorsorge ausschließlich für sich trifft. Und dahin drängt die Notwendigkeit, dass er meint, eher auf sich als auf das Volk, das heißt auf andere, Rücksicht nehmen zu müssen. Hier dagegen, wo alles Eigentum aller ist (wo alles allen gehört), zweifelt niemand (es möge nur dafür gesorgt werden, dass die öffentlichen Speicher voll sind), dass in keiner Weise irgend etwas Persönliches irgend jemandem fehlen wird. Dort gibt es nämlich weder eine ungerechte Verteilung der Güter noch ist irgendeiner mittellos noch bettelarm. Und obwohl niemand etwas hat, sind dennoch alle reich. Denn was kann reicher sein als, da jede Sorge ganz und gar genommen ist, mit frohem und ruhigem Herzen zu leben, nicht in Unruhe wegen seines Lebensunterhalts... Ja sogar ist nicht weniger für die gesorgt, die jetzt arbeitsunfähig sind, einst aber gearbeitet haben, als für die, die jetzt arbeiten“.171)
Ausbeutung und Klassenjustiz Hythlodäus ist überzeugt, dass Utopia der einzige Staat ist, der Gerechtigkeit und Gleichheit172) verwirklicht hat. Gerechtigkeit kann nicht sein, wo Menschen, die nichts tun oder jedenfalls nichts, was für das Gemeinwesen nützlich und nötig ist (z. B. Adlige) ein glänzendes Leben führen, während Menschen mit schwerer und unablässiger Arbeit, „ohne die kein Gemeinwesen auch nur ein Jahr lang bestehen könnte“173), erbärmlicher leben als das Vieh. "Diese Menschen peinigt eine unergiebige und ertraglose Arbeit in der Gegenwart und quält der Gedanke an ein elendes Alter. Da für sie ihr täglicher Verdienst zu gering ist, als dass er für denselben Tag ausreichen könnte, ist man weit entfernt davon, dass irgendetwas an Mehrwert herauskommt (herauswächst) und übrig bleibt, das täglich für den Gebrauch im Alter zurückgelegt werden könnte. Oder ist dies etwa nicht ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das den Edelleuten, wie man sie nennt (sogenannten Edelleuten), den Nichtstuern und Schmarotzern solch große Vergünstigungen verschwenderisch zukommen lässt? Für die Bauern dagegen, die Köhler, Tagelöhner, Fuhrleute und Handwerker, ohne die (überhaupt kein Gemeinwesen wäre) der Staat überhaupt nicht existierte, trifft er in keiner Weise ordentlich Fürsorge, sondern er belohnt, die Arbeit von deren blühendem Alter ausgebeutet habend (nachdem er ... ausgebeutet hat), die schließlich durch die Jahre und Krankheit Niedergedrückten, aller Dinge Bedürftigen höchst undankbar mit einem schrecklich erbärmlichen Tod. Ja sogar rauben sich die Reichen von dem täglichen Verdienst der Armen irgendetwas (irgendeinen Anteil) täglich nicht nur durch persönlichen Betrug, sondern auch durch staatliche Gesetze. Was vorher/früher als ungerecht angesehen wurde: die, die sich am besten um das Gemeinwesen verdient gemacht haben, mit schlimmstem Dank zu belohnen, dieses Unrecht erklärten diese da dann, nachdem ein Gesetz veröffentlicht worden war, sogar noch als ‚Gerechtigkeit‘."174) Die Reichen beuten die Armen also nicht nur durch Betrug, sondern auch (sogar) durch „staatliche Gesetze“175) aus‚ z. B. durch Steuergesetze. Die Reichen rauben per Gesetzgebung den Armen das, was sie sich über den reinen Erhalt ihres Lebens hinaus erarbeitet haben (den Mehrwert) und machen im Sinne einer Klassenjustiz „im Namen und mit dem Rechtstitel des Staates“176) Unrecht zu Recht durch Verkündigung von Gesetzen177). "Deshalb zeigt sich mir, der ich alle diese Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte und prüfe, nichts anderes als eine Art Verschwörung der Reichen, die im Namen und mit dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen. Sie ersinnen und erfinden alle möglichen Methoden und Kniffe, damit sie zunächst durch diese das, was sie durch üble Schliche selbst zusammengetragen haben, ohne Furcht vor Verlust behalten, damit sie dann Arbeit und Mühe aller Armen möglichst billig sich aneignen und diese ausbeuten. Sobald die Reichen im Namen der Allgemeinheit, das heißt auch der Armen, einmal beschlossen haben, dass diese Machenschaften angewendet werden, werden sie schon zu Gesetzen."178)
Das Überlegenheitsgefühl als Wurzel des Übels Hythlodaeus weist im weiteren darauf hin, dass es in Utopia keine Gier nach Geld gibt, eben weil es kein Geld gibt; und wo es dies nicht gebe, finde man auch nicht die Übel, die zur Beschaffung von Geld eingesetzt würden wie Betrug, Diebstahl usw. Das Vorhandene werde gleichmäßig verteilt, anstatt dass Wenige mit Hilfe des Geldes alles an sich reißen; also gebe es auch keine Armut. Hätte man z. B. bei einer durch ein unfruchtbares Jahr drohenden Hungersnot die Speicher der Reichen geöffnet und deren Getreide unter den Armen verteilt, so hätte man die Hungersnot vermieden. "So leicht könnte der Lebensunterhalt beschafft werden, wenn nicht das liebe Geld, das doch selbstverständlich ganz offenbar erfunden worden ist, um uns die lebensnotwendigen Güter zugänglich zu machen, uns ganz allein den Weg dazu versperrte. Das merken zweifellos auch die Reichen. Sie wissen sehr wohl, wie viel besser jener Zustand wäre, nichts Notwendiges zu entbehren, als Überfluss an vielem Überflüssigem zu haben ... Ich denke freilich nicht daran zu zweifeln, dass entweder die vernünftige Einsicht jedes Einzelnen in seinen Vorteil oder das Vorbild des Erlösers Christus den ganzen Erdkreis leicht zu den Gesetzen dieses Staates schon längst bekehrt hätte, wenn nicht nur ein einziges Ungeheuer, Ausgang und Ursprung aller Pest, das Überlegenheitsgefühl (die Hoffart), sich widersetzen würde. Diese misst ihr Glück nicht an ihrem Vorteil, sondern an fremdem Schaden. Diese möchte nicht einmal eine Göttin werden, wenn keine Armen übriggeblieben sind, mit deren Armut verglichen das sich selbst verschaffte (eigene) Glück erglänzen könnte." 179) Hythlodäus schließt seinen Bericht mit der Überzeugung, dass dem Staat Utopia ewige Dauer beschieden ist, „denn nachdem er bei sich neben sonstigen Lastern die Ehrsucht und die Zwietracht mit der Wurzel ausgerottet hat, droht keine Gefahr, dass er von inneren Zwistigkeiten bedrängt wird, wodurch allein schon die wohlgesicherte Macht vieler Städte zugrunde gerichtet wurde.“180)
Schlussbemerkung des Thomas Morus "Als Raphael so erzählt hatte, kam mir vielerlei in den Sinn, welche Einrichtungen mir an den Sitten und Gesetzen jenes Volkes überaus sonderbar erschienen: nicht nur in der Methode ihrer Kriegsführung, im Gottesdienst, in der Religion und noch anderen ihrer Einrichtungen, sondern vor allem auch in dem, was die eigentliche Grundlage ihrer ganzen Verfassung ist; nämlich in ihrem gemeinschaftlichen Leben und der gemeinschaftlichen Beschaffung des Lebensunterhaltes ohne allen Geldverkehr. Wird doch allein schon durch diese eine Verfassungsbestimmung aller Adel, alle Pracht, aller Glanz, alle Würde und Majestät, also nach der landläufigen Ansicht alle wahre Zierde und aller Schmuck des staatlichen Lebens von Grund auf umgestürzt."181) Abweichende Ansichten will Morus nicht entgegenhalten, weil er glaubt, Hythlodäus sei „vom Erzählen ermüdet“182) Bei einer anderen Gelegenheit will er mit ihm, den er für einen „ebenso gebildeten wie welterfahrenen Menschen“183) hält, ausführlich diskutieren. "Bis dahin kann ich gewiss nicht allem zustimmen, was er sagte ..., jedoch gestehe ich gerne, dass es im Staat der Utopier vieles gibt, was ich in unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann."184)
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