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Vortrag

Thomas Morus und seine ‚Utopia’

Meine Damen und Herren!

Ich freue mich sehr über Ihr Interesse an Thomas Morus, an seiner Zeit und an seiner Utopie; ich denke auch, dass es wichtig ist, etwas über die ‚Utopia’ des Thomas Morus und ihren Verfasser zu erfahren, z. B. mit Blick auf die Fragen:
Braucht eine Gesellschaft Utopien, etwa als Richtwert und Ansporn?
Und kann die Utopie des Thomas Morus beim Entwurf eines wünschenswerten Gesellschaftssystems behilflich sein?
Ich werde für meinen Vortrag etwa eine Stunde brauchen und bin gespannt auf die anschließende Diskussion.
Unterbrechen möchte ich in der Mitte den Vortrag für eine 10-minütige Sequenz - zur Entspannung sozusagen - aus einem oskar-gekrönten Spiel-Film über Thomas Morus.

Das Leben

Zunächst also: Wer war Thomas Morus, der auf Englisch Thomas More heißt, seit 1519 Sir Thomas More und seit 1935 heiliger Thomas Morus?

Geboren ist er in London 1478 als Sohn eines angesehenen Juristen. Der gestrenge Vater gehörte zum aufstrebenden Bürgertum, das zunehmend politischen Einfluss bekam. Der kleine Thomas besuchte die Lateinschule; und mit 12 Jahren kam er zur weiteren Ausbildung an den Hof von John Morton. Der war Erzbischof von Canterbury und Kanzler Englands unter Heinrich VII.. Morton war und blieb für Morus das große Vorbild; in seinem Buch ‚Utopia’ und in seiner gleichzeitig entstandenen ‚Geschichte König Richards III.’ hat er ihm ein würdiges Denkmal gesetzt.
Morton bedrängte den zögernden Vater, den Jungen auf die Universität von Oxford zu schicken - da war Thomas 14 Jahre alt. Dort begeisterte er sich für die neu aufkommenden Studien der Antike und für die Ideale des Humanismus.

Ich möchte an dieser Stelle in Kurzform erklären, was unter ‚Humanismus’ zu verstehen ist.
Abgeleitet ist der Begriff von ‚humanus’ – menschlich. Es ging den Humanisten um Menschlichkeit, um Humanität, um Menschenwürde und freie Persönlichkeitsentfaltung. Es ging um die Bildung eines humanen Menschen. Vorbild und Lehrer einer solchen menschenwürdigen Lebensgestaltung waren die Philosophen und Künstler der griechischen und römischen Antike; die Wiedergeburt - Renaissance - dieser Antike sollte den Menschen von allem befreien, was der Entfaltung seiner Würde im Weg stand.

Am meisten im Weg stand eine Kirche, deren geistige und politische Macht den Menschen engste Fesseln auferlegte. Und eines der Anliegen der Humanisten war eine grundlegende Reform, eine Reform durch die Trennung von der römisch-katholischen Kirche – so z. B. der Weg Melanchthons - oder eine Reform innerhalb der römischen Kirche, wie sie Thomas Morus wollte oder auch Erasmus von Rotterdam, der seit 1498 mit Thomas Morus – Morus war 20 Jahre alt – in einer einzigartigen Freundschaft verbunden war.

Eigenartig ist, dass Thomas More jene Befreiung und Erweiterung des Menschlichen mit dem Eifer eines Mönchs betrieb, nicht nur wie ein Mönch, sondern am liebsten als Mönch mit all der Askese, die mit dem Mönchtum verbunden war. Auch ein Humanist kann das Mittelalter nicht so ohne weiteres abschütteln. Zum Mönchtum gehört u. a. auch der Verzicht auf privates Eigentum – ich komme darauf zurück.

Der Vater verlangt den Abbruch der Studien in Oxford; Gelehrsamkeit als Selbstzweck ist für ihn brotlose Kunst. Thomas More muss Jura studieren und arbeitet ab 1499 als Anwalt, spezialisiert vor allem auf Außenhandelsfragen. Er gewinnt rasch Anerkennung, wird Londons Star-Anwalt, aber ein gerechter und unbestechlicher, einer, dem es nicht ums Geld, sondern um die Hilfe für seine Klienten geht. Er betreut als Justitiar die mächtigen Händler-Innungen, lebt aber weiter wie ein Mönch, bis er 1504 heiratet.

Zu dieser Zeit wird er auch Mitglied des Parlaments und erfährt dort zum ersten Mal den Konflikt zwischen Gewissensentscheidung und staatlicher Macht. Er plädiert dafür, dem König eine übergroße Mitgift für die Verheiratung seiner Tochter mit dem König von Schottland zu verweigern – diese Belastung von rund 100000 Pfund Sterling, die durch zusätzliche Steuern erbracht werden sollten, sei für die Bürger nicht tragbar. Thomas More setzt sich durch, und der König rächt sich - es war damals Heinrich VII. -, indem er Mores Vater einkerkern lässt – der Sohn hatte kein Vermögen, das hätte konfisziert werden können. Erst nach einer Zahlung der damals sehr hohen Geldsumme von 100 Pfund kommt der Vater wieder frei. Thomas trägt sich mit dem Gedanken auszuwandern; aber das erste Kind ist schon unterwegs, und so enthält er sich weiterer politischer Aktivitäten.

Der despotische Heinrich VII. stirbt 1509, Nachfolger wird dessen vielversprechender Sohn Heinrich VIII.. Er war die Hoffnung seiner Zeit, und Morus pries den Tag seiner Krönung: „Dieser Tag ist das Ende der Knechtschaft, er ist die Geburt der Freiheit.“ Nichts deutete zunächst darauf hin, dass diese Hoffnung des Volks, aber auch der Künstler und Wissenschaftler von ganz Europa sich zu einem machtsüchtigen und gewalttätigen Tyrannen entwickeln würde.

Morus hatte wohl eine Ahnung davon, dass Macht den Menschen korrumpiert; die Frage, ob die Mächtigen gutem Rat zugänglich seien, ist ein wesentliches Thema in der ‚Utopia’.

Als der König Morus um Mithilfe bei der Regierung bittet, gibt er trotz großer Skepsis dessen Drängen nach: „Sehr gegen meinen Willen bin ich an den Hof gekommen“, schreibt er an seinen Freund John Fisher, Bischof von Rochester. In der ‚Utopia’ heißt es: Der Philosoph dürfe „nicht den Staat im Stich lassen und im Sturm das Schiff aufgeben, weil man den Winden nicht wehren kann“. Auch der Philosoph müsse sich an der politischen Wirklichkeit orientieren und zufrieden sein, wenn er auf diplomatischem Weg überhaupt etwas Positives erreiche, selbst wenn dies nur darin bestehe, das Schlimmste zu vereiteln.

Er wird Berater, Mitglied des Kronrats ab 1518 – er ist nun 40 Jahre alt- , engster Vertrauter des Königs, Chef-Diplomat, schließlich, 11 Jahre später, 1529, Lordkanzler - das mächtigste Amt nach dem des Königs.

Drei Jahre später legt er dieses Amt nieder. Er wird auf Veranlassung des Königs in einem Scheinprozess wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und am 6. Juli 1535 enthauptet – ein klassischer Justizmord. Da war Morus 57 Jahre alt. Seine letzten Worte: „Des Königs guter Diener, aber Gottes zuerst.“ In der Apostelgeschichte (5,29) heißt es: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Heinrich VIII. und das Supremat 1)
Was war geschehen?
Heinrich VIII. war verheiratet mit Katharina von Aragonien, der Witwe seines älteren Bruders Arthur; der war 15jährig mit jener Katharina, einer Tochter des Königs von Spanien, verheiratet worden und mit 16 Jahren Opfer einer Epidemie geworden – die Ehe sollte England und Spanien gegen Frankreich verbünden. Nach Kirchenrecht war eine Ehe mit der Witwe des Bruders nicht erlaubt, Heinrich brauchte eine Ausnahmegenehmigung des Papstes, eine sogenannte Dispens, die er auch erhielt, weil Katharina ausgesagt hatte, dass die Ehe mit Arthur nicht vollzogen worden sei.
Aus der 1509 geschlossenen Ehe mit Katharina gingen zwei Söhne hervor, die nur wenige Tage alt wurden, und eine Tochter, Maria, die später Königin wurde.
Da die Thronfolge gesicherter war, wenn der König einen Sohn als Nachfolger hatte, wollte Heinrich sich scheiden lassen und eine Frau heiraten, von der er sich einen gesunden Sohn erhoffte – eine geregelte Thronfolge war für den inneren Frieden Englands unerlässlich. Auch brauchte er Spanien nicht mehr, da Frankreich mittlerweile geschwächt war.

Der Papst verweigerte auf Druck von Kaiser Karl V. 2), einem Neffen jener Katharina von Aragonien, die Nichtigkeitserklärung der Ehe.
So kam es zum Bruch mit dem Papst und zur Loslösung der englischen Kirche von Rom. Heinrich machte sich selbst zum Oberhaupt der Kirche von England, und wer nicht den Eid leistete, ihn als Oberhaupt anzuerkennen, dem drohte die Todesstrafe wegen Hochverrats 3).
Thomas More glaubte, die Loslösung von Rom nicht mit seinem Gewissen vereinbaren zu können, und gab lieber sein Leben hin, als sich gegen sein Gewissen zu entscheiden.

Darin sieht man heute die Größe des Menschen Thomas Morus, dass er seine Überzeugung nicht der Fürstenwillkür opferte; und so gilt er als Vorbild für Widerstand gegen die Gewalt der Machthaber.

Aber es stellt sich ja nicht nur die Frage, dass man und wogegen man widersteht, sondern auch die, wofür man sich entscheidet. Bei Thomas Morus war es die römisch-katholische Kirche. Und dies hatte keine theologischen Gründe, denn die neue englische Kirche unterschied sich in den Anfängen theologisch und liturgisch kaum von der katholischen. Lediglich das Oberhaupt war ein anderes.

Aber das war eben das Problem: Morus wollte die Macht der Fürsten begrenzt sehen, damit nicht aus guten Fürsten verschwenderische Tyrannen wurden, die gierig waren nach dem Besitz der eigenen Leute und der auswärtigen Nationen. Der Papst sollte die Instanz sein, die die Fürsten leitete 4), aber auch er nicht als absolute Instanz, sondern unterworfen einem dem Humanismus verpflichteten Konzil, das den Papst auch absetzen konnte - was angesichts der skrupellosen Päpste seiner Zeit dringend nötig gewesen wäre. Durch eine reformierte katholische Kirche wäre die Einheit des Christentums und die des Abendlands gesichert.

Die Staats-Verfassung von Utopia, dem idealen Staat, den ich Ihnen nahebringen möchte, hat er sich übrigens in derselben Weise vorgestellt: Das Oberhaupt des Staates wird demokratisch gewählt, und zwar auf Lebenszeit; er regiert aber nur „solange nicht der Verdacht aufkommt, er strebe nach Gewaltherrschaft“. Zudem gibt es das Plebiszit als Mittel, die Herrschenden zu kontrollieren.

Ein weiterer Grund, sich für die katholische Kirche einzusetzen, war bis zum Ende der Bauernaufstände des Thomas Morus Sorge, dass die Reformation eine nicht zu kontrollierende Volksbewegung wurde. Dies entsprach nicht seinen ordnungspolitischen Vorstellungen, die - jedenfalls nach der Entstehung von ‚Utopia‘ - mit dem Schlagwort ‚Alles für das Volk, nichts durch das Volk’ charakterisiert werden können. Es war eben nicht die Zeit einer selbstbewussten Arbeiterbewegung wie im ausgehenden 19. Jahrhundert und auch nicht die Zeit eines wirksamen Demokratieprozesses. Eine Revolution, die die Verwirklichung der utopischen Ideen hätte anstreben können, hätte nach der Einschätzung des Thomas Morus nur eine Revolution von oben sein können – durch einen guten, vom Humanismus geleiteten Fürsten. Und es ist die Tragik des
Thomas More, dass es einen solchen Fürsten in ganz Europa nicht gab.

Auch England hätte dringend eine Verfassung gebraucht, durch die eine moralische Instanz die Macht Heinrichs VIII. beschränkte. Dass Heinrich sich von Katharina scheiden ließ – ohne Zustimmung des Papstes - und 1533 Ann Boleyn heiratete, hat Morus noch erlebt; nicht mehr erlebt hat er, dass Heinrich sie drei Jahre später hinrichten ließ, auch sie hatte ihm nur ein Mädchen zur Welt gebracht, Elisabeth, jene berühmte Elisabeth, die als Englands Königin Maria Stuart hinrichten ließ. Die dritte Frau schenkte ihm einen Sohn, Eduard, den direkten Nachfolger Heinrichs auf dem Thron, sie starb dann im Kindbett. Die vierte Frau war eine Deutsche, die er nicht leiden konnte und von der er sich noch im Jahr der Hochzeit, 1540, trennte. Die fünfte ließ er 1542 enthaupten, angeblich wegen Untreue, was er auch Ann Boleyn vorgeworfen hatte. 1543 heiratete er seine sechste und letzte Frau, die nicht von ihm umgebracht wurde, weil er zuvor, 1547, selber starb – er hatte sich – so vermutet man - überfressen 8).

1515 war von den krankhaften Absonderlichkeiten des Königs noch nichts zu merken. In diesem Jahr erhielt Thomas More von ihm auf Drängen der Londoner Kaufleute einen seiner ersten Aufträge, eine diplomatisch-wirtschaftliche Mission, die ihn nach Brügge führte 9).
Die Verhandlungen verzögerten sich, Morus musste sich 6 Monate in Flandern aufhalten, hatte genügend Muße und schrieb dort und etwas später in London seine Utopie von der besten Staatsform, jenes große Werk, dessen Deutung immer umstritten war. Morus war 37/38 Jahre alt, als er dieses Werk schrieb, also aus der Zeit des jugendlichen Überschwangs hinaus, ein Mann, der mit beiden Füßen fest auf der Erde stand.

Er hat sein Werk in zwei Teile eingeteilt, die nach dem Brauch jener Zeit als ‚Bücher’ bezeichnet werden. Das erste Buch ist eine genaue, hellsichtige, scharfsinnige, anklagende Analyse der bestehenden Wirklichkeit in Europa – einer Wirklichkeit, der er im zweiten Buch seinen Entwurf einer zukünftigen, wünschenswerten, hoffnungsfrohen Möglichkeit, einer möglichen besseren Welt entgegenstellt.
Diesen Entwurf einer Utopie hatte er als erstes geschrieben. Und er spürt: Diese Darstellung reiche nicht aus. Es könnte sein, dass sie in dieser Art nicht ernst genug genommen wird; und er schreibt ein Buch über einen misslungenen, pervertierten Staat als Gegenbild zum besten Staat und setzt dieses Buch dem über den besten Staat voran.

‚Utopia’ – als Roman
Thomas Morus hat sich selbst zu einer der beiden Hauptfiguren in seinem Werk ‚Utopia’ gemacht, und als Ich-Erzähler berichtet er: Er sei in Antwerpen bekannt gemacht worden mit dem Seefahrer und Entdecker Raphael Hythlodäus. Dieser Hythlodäus habe mit Amerigo Vespucci die Küsten Brasiliens erkundet,
sich dann aber von ihm getrennt und sei auf die Insel Utopia gestoßen. Fünf Jahre habe er dort gelebt und auf Utopia den besten aller Staaten kennen gelernt. Hythlodäus habe ihm, Thomas Morus, über diese beste aller Staatsformen 10) ausführlich berichtet und sie in Gegensatz gestellt zum England seiner Zeit, einem höchst ungerechten und grausamen Staat. Zu Letzterem passt der sprechende Name des Hythlodäus; er bedeutet: Feind des Unsinnigen 11)oder auch: einer, der das Unsinnige durchschaut hat.

Warum aber spricht Thomas Morus nicht geradeheraus von den Missständen in England und von seinen Vorstellungen über den idealen Staat, sondern führt den von ihm erfundenen Raphael Hythlodäus als den eigentlichen Erzähler der Utopie ein 12)?

Die übliche Fragestellung bei dichterischen Werken, ob alles, was in ihnen zu lesen ist,
auch als Meinung ihres Autors gelten darf - ist z. B. die Gedankenwelt Mephistos auch die Goethes? -, stellt sich ebenfalls bei der ‚Utopia‘: Ist die Position des Hythlodäus auch die des Autors Thomas Morus?
Bei Goethe lesen wir, dass ein Autor mindestens zwei Seelen in seiner Brust hat, und bei Thomas Morus können wir voraussetzen, dass die Positionen des Hythlodäus auch Teil der Überzeugungen ihres Autors sind, der sich bis zum Ende nicht für die eine oder andere Position entscheiden kann 13). Aufgrund dieser Offenheit bleibt dem Leser die Freiheit, ohne gegängelt zu sein von vorgefassten Meinungen sich selbst seine Gedanken über die beste aller Staatsverfassungen zu machen.

Ein Gedankenspiel ist dieser Text, ein manchmal heiteres, manchmal humorvoll-ironisches; ein Spaß ist z. B. des Hythlodäus Hinweis, dass man auf Utopia, bevor man heiratet, sich zunächst einmal nackt sehen sollte, um nicht die Katze bzw. den Kater im Sack zu kaufen – die Humanisten haben viel gelacht, die neue Zeit hatte ihnen die Freiheit gegeben, sich über alles und jedes lustig zu machen.

Meist ist das Gedankenspiel ernst und immer ist es ernst zu nehmen, ein experimentierendes Spiel, das von der Freiheit des Geistes seines Verfassers und seiner gelehrten Leser zeugt, wie sie nur in der Zeit des Humanismus möglich war.

So verstanden, kann man den auf Latein geschriebenen Text als Roman auffassen, nicht als einen Roman, der vor allem durch Handlung bestimmt ist wie etwa ein Kriminalroman, sondern als einen, in dem der Autor seine Gedanken auf unterschiedliche, miteinander verwobene Personen verteilt.
Die Wahrheit, die ein Autor mitteilen will, ist ja nichts Eindimensionales, sondern ein Prozess vielfältiger Themen 14). Die Romanfiguren Morus und Hythlodäus werden mit ihren Besonderheiten durch das, was sie sagen und wie sie es sagen, recht anschaulich: Hythlodäus ist der Radikalere, Thomas Morus der Skeptischere.

Utopia - Begriffserklärung
Über diesen Roman möchte ich nun ein wenig berichten.
Zunächst einmal die Erklärung des Begriffs: ‚Utopia’ ist der Titel des Werks von 1516 und der Name jener Insel, die in diesem Werk vorgestellt wird. Den Begriff ‚Utopie’ mit seinem Eigenschaftswort ‚utopisch’ hat Thomas More erfunden und in die Sprache und in das Nachdenken über Staat und Gesellschaft eingeführt.

Aber Thomas Morus hat nicht nur den Begriff erfunden, sondern er hat diesen Begriff auch mit Inhalt gefüllt, hat eine Utopie eines aus seiner Sicht gelungenen Zusammenlebens geschaffen, mit der man sich auseinandersetzen sollte – wie wir es ja jetzt und hier tun wollen.

Utopia, der Name jener Insel, kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet ‚Nirgend-Land‘. Die Topographie dieses Nirgendwo hat Ähnlichkeiten mit der Englands, so dass von daher schon vermutet werden darf, dass für Thomas Morus dieses Nirgendwo irgendwann irgendwo Realität werden könnte. Morus war ja kein Spinner und Träumer, ein skeptischer Realist eher als ein Optimist und zudem der kompetenteste Kenner der ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit. Seine utopischen Ideen sind so konzipiert, dass eine Realisierung nicht völlig abwegig erscheint.Für ihn ist Utopia kein idealer Staat, wohl aber der beste, mit durchaus realistischen Zügen – pragmatisch-vernünftig beispielsweise im Kapitel über den Krieg, der mit ausländischen Mächten geführt wird -allzu realpolitisch in diesem Fall, um noch so recht zur Utopie zu passen.
Realistisch gesehen ist auch die Tatsache, dass es in Utopia entwürdigende Arbeit gibt,
die getan werden muss – in der Form von Arbeitsdienst als Strafe für Schwerverbrechen, etwa statt der Todesstrafe, die Morus vom Grundsatz her ablehnt.
Utopia ist also kein Wolkenkuckucksheim, kein Schlaraffenland und auch kein Garten Eden.

Das vergnügliche Leben auf der Insel Utopia
In englischer Aussprache ist ‚u-topia‘ – Nirgend-Land - gleichklingend mit ‚eu-topia‘;
das bedeutet ‚Glückliches Land‘.

Und wie sieht das Leben auf dieser Insel aus; ist es wirklich ein glückliches Leben?

Jedenfalls gibt es in diesem besten aller Staaten Gepflogenheiten, Vorschriften, die mir nicht passen würden. Beispielsweise, dass man seine Tür nicht hinter sich verschließen kann und es keinen Privatbereich gibt, in den man sich zurückziehen kann. Oder würde Ihnen Folgendes passen?:
Es gibt auf Utopia – so schreibt Morus – „keine Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: keine Weinstube, keine Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung ... Vor aller Augen muss man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen.“
Auch das ist freilich nicht jedermanns Geschmack.
Doch diese Gesellschaft auf Utopia ist ein durchdachtes, planvolles Gebilde; und Einschränkungen, die einem nicht passen mögen, sind zur Zeit und aus der Sicht des Thomas Morus notwendig, damit aus der geglückten Gemeinschaft nicht ein Chaos entsteht.

Dazu gehört z. B. die Kontrolle des Arbeitseinsatzes: Die Phylarchen – das sind gewählte Volksvertreter - haben die Aufgabe, sicherzustellen, dass „jeder fleißig sein Gewerbe betreibt, aber nicht erschöpft wie ein Lasttier in ununterbrochener Arbeit vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein.“

Ich zitiere weiter: „Die Behörden plagen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, da ja die Verfassung dieses Staates vor allem nur das eine Ziel vor Augen hat, dass allen Bürgern befreit von der körperlichen Fron möglichst viel Zeit für die Freiheit und Pflege des Geistes zugesprochen wird. ....Darin liegt nämlich nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ Und dies gilt für Männer und Frauen in gleicher Weise – bei seiner Tochter Margarethe hat Morus diese Utopie einer Emanzipation der Frau schon in Ansätzen umgesetzt, wie Sie in dem Filmausschnitt gleich sehen werden.

Um diese Freiheit zu gewinnen, soll auf Utopia nicht länger als sechs Stunden am Tag gearbeitet werden – eine erstaunliche Forderung, gemessen an der Diskussion der Gegenwart und gemessen an der Produktionsweise jener Zeit, also ohne Maschinen 15).
Möglich wird diese Verkürzung der Arbeitszeit durch vernünftige Organisation der Erwerbsarbeit: So werden in Utopia nur sehr wenige von der Arbeit befreit, während bei anderen Völkern allzu viele sich aus Faulheit dem Arbeitsprozess entziehen; Morus nennt u. a. Ordensbrüder, die Oberschicht und ihre Bediensteten, die Bettler, die arbeitsfähig, aber zu faul zur Arbeit sind. Auf Utopia müssen sich alle am Arbeitsprozess beteiligen, Männer wie Frauen. Menschen, die von der Arbeit anderer leben, darf es hier nicht geben.
Gearbeitet wird ausschließlich in den wenigen Gewerben, „die ein zweckmäßiger natürlicher Bedarf fordert“, z. B. die Eisenschmiede, und nicht auch in solchen, die „Dienerinnen von Verschwendung und Genusssucht“ sind z. B. die Goldschmiedearbeit.
Hinzu kommt die Ersparnis durch sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen und durch Bescheidenheit in der Lebenshaltung – sicherlich ein kluger Weg, die Arbeitszeit zu verkürzen.

Ganz so schlimm kann es mit den Beschränkungen der Bedürfnisse nicht sein, denn Hythlodäus nennt die Lebensgrundsätze der Utopier eine „sinnenfrohe Lehre“ 16). Die Utopier sehen nämlich im Vergnügen die entscheidende Grundlage für das Glücklichsein; und Glücklich-Sein gilt, wie schon angedeutet, als höchstes Ziel des menschlichen Lebens; der Mensch ist „durch Gottes Güte zum Glücklichsein geschaffen.“
Dieses Vergnügen ist freilich ein vernünftiges Vergnügen. Die Vernunft - ich zitiere - „mahnt und spornt uns dazu an, selbst unser Leben möglichst sorglos und fröhlich zu führen, allen übrigen Menschen aber dazu behilflich zu sein ... Wenn aber die eigentliche Menschlichkeit ... darin besteht, die Not anderer zu lindern, ihren Kummer zu beheben und dadurch ihrem Leben wieder Freude ... zu geben, warum sollte dann die Natur nicht einen jeden dazu antreiben, sich selbst den gleichen Dienst zu leisten.“ Vergnügen, das nicht rechtmäßig zustande gekommen ist oder das Missvergnügen nach sich zieht, beispielsweise den Kater nach einer durchzechten Nacht, ist unnatürlich, weil unvernünftig.

Einheitliche Kleidung
Ein „falsches, ein unechtes Vergnügen“ 17) ist z. B. die Lust, aufgrund ‚besserer’ Kleidung als etwas Besseres zu erscheinen.
An diesem Thema möchte ich zeigen, wie aktuell die Utopie von Thomas Morus sein kann: Vor einigen Jahren wollten Schüler einer Realschule in der Nähe einheitliche Schulkleidung; sie wollten so den Druck vermeiden, der sich durch das Tragen von Markenklamotten ergibt. Der Versuch ist fehlgeschlagen. War er utopisch? Mittlerweile gibt es sogar ein Gesetz in NRW, das das Tragen einheitlicher Kleidung in Schulen gestattet.
Auf Utopia jedenfalls trägt man praktische und hübsche, aber einheitliche Kleidung; das macht die Produktion billiger und verführt auch nicht dazu, sich durch Kleidung über andere zu erheben – wir werden später von der ‚superbia‘, der Überheblichkeit, als Ursache allen Übels hören. Wenn man Bilder aus der Zeit des Thomas Morus sieht – und Sie werden ja gleich ein wenig davon sehen -, versteht man diese Kleiderordnung in Thomas Mores Roman: Sie war auch ein Protest gegen Prunk und Protz der Reichen, gegen Verschwendung, gegen die Betonung der Unterschiede von Arm und Reich.

Eine Diskussion, zu der das Lesen von ‚Utopia’ anregt: Was ist sinnvoller: die bunte Vielfalt, bei der man sich von den anderen abhebt, bei der man seiner Individualität nachkommen kann, oder aber der Gedanke, dass sich freie Persönlichkeitsentfaltung nicht unbedingt durch Kleidung ausdrücken muss, dass Einheitskleidung nicht das Individuelle beseitigt, wohl aber Ressourcen spart und Eifersüchteleien verhindert?

Jedenfalls verstehen wir an diesem Beispiel auch, wie wir mit Utopien umgehen könnten: Erstens: Man muss sie aus ihrer Zeit heraus verstehen; und jede Zeit muss sich ihre eigene Utopie entwerfen, wenn man schon der Meinung ist, man brauche eine solche als Richtschnur und Ansporn 18) für eine gelungene Lebensgestaltung. Und zweitens: Man muss Utopien nicht sozusagen 1 zu 1 verwirklichen wollen, sondern sie sollen die Diskussion über das richtige Leben in Gang setzen.

Um in Ansätzen einen optischen Einblick in die Zeit des Thomas Morus zu geben, soll hier ein kleiner Ausschnitt aus einem mit 6 Oscars 19)ausgezeichneten Spielfilm über unseren Autor gezeigt werden. Er hat den Titel ‚Ein Mann zu jeder Jahreszeit’ und wurde 1966 von Fred Zinnemann gedreht, dem Regisseur so berühmter Filme wie ‚High noon’ oder ‚Verdammt in alle Ewigkeit’.
Die Situation: Thomas More ist als Nachfolger von Kardinal Wolsey, der in Ungnade gefallen war, Lordkanzler geworden; der König besucht ihn
- es wird so getan, als sei der Besuch spontan und zufällig -
und er erwartet von seinem Kanzler die Zustimmung zur Scheidung.

Zurück zu ‚Utopia’, die ja 13 Jahre vor dem Datum des Filmszene entstand:

Nächstenliebe und Politik
Morus war ein Fanatiker der Gerechtigkeit und hat für die Durchsetzung dieser Idee gelebt, als Anwalt, als Richter, als Politiker; und auch als Privatmann kümmerte er sich darum, dass es in seinem Wirkungskreis gerecht zuging. Und die Ungleichheit zwischen den Menschen war für ihn ein großes Ärgernis.

Nun mag Ungleichheit etwa in der Kleidung noch etwas Positives sein; Die Wurzeln des Zusammenlebens aber betrifft es, wenn es um Ungleichheit zwischen reich und arm, mächtig und ohnmächtig geht.

Die Ursache, warum für Thomas Morus die Ungleichheit der Menschen ein großes Ärgernis war, ist ausgeprägtes Mitleid mit den Zu-kurz-Gekommenen – „die menschlichste Empfindung unserer Natur“ nennt Morus das Mitleid. Ich zitiere einen Ausschnitt eines langen Briefs, den 1519 Erasmus von Rotterdam an Ulrich von Hutten schrieb: „Man möchte sagen, Morus sei der oberste Schutzpatron aller Armen im Reiche. Er freut sich, als hätte er den größten Gewinn gemacht, wenn es ihm gelang, einem Unterdrückten zu helfen. ... Niemand übt lieber Wohltaten, niemand verlangt weniger Dankbarkeit.“

Ein Beispiel für sein Mitleid mit den Zu-kurz-Gekommenen - ich zitiere aus ‚Utopia‘ -: „Einen Missgestalteten oder Krüppel auszulachen gilt als schimpflich und hässlich, nicht für den Verspotteten, sondern für den Spötter, der in seiner Torheit einem Menschen etwas als Fehler vorwirft, das zu vermeiden gar nicht in dessen Macht stand.“

So dachten die Menschen auf Utopia; eigentlich ist ein solches Denken keine Utopie, sondern eine Selbstverständlichkeit. Zur Zeit des Thomas Morus aber war es eine utopische Forderung. Wenn wir heute so denken und fühlen wie die Menschen auf Utopia, dann wäre Utopie etwas, das 500 Jahre braucht, um verwirklicht zu werden.

Das Mitleid mit den Schwachen findet sich in jedem Bereich des Zusammenlebens auf Utopia, etwa in der Ehe: Zwar gibt es die Möglichkeit der Ehescheidung auf Utopia 20) - bei gegenseitigem Einverständnis und Zustimmung des Senats -, „wenn die Charaktere der Eheleute nicht recht zueinander passen und beide einen anderen Menschen gefunden haben, mit dem sie glücklicher zusammenzuleben hoffen“. Treue in der Ehe aber ist den Utopiern sehr wichtig, zumal dann, wenn ein Partner „körperlichen Schaden erlitten hat.
Denn sie halten es für grausam“ - so Thomas Morus -, „dass jemand gerade dann im Stich gelassen wird, wenn er am meisten des Trostes bedarf;“ „da das Alter ja Krankheiten mit sich bringt und schon an sich eine Krankheit ist“, sei es unmenschlich, „wenn dem alternden Ehepartner gegenüber die Treue unzuverlässig und schwach ist.“

Mitleid mit den Sterbenden - ich zitiere hier einmal eine etwas längere Passage: „Die Utopier pflegen die Kranken mit großer Hingabe und sie lassen nichts aus, wodurch sie ihnen die Gesundheit zurückgeben könnten. Sie trösten die an einer unheilbaren Krankheit Leidenden, indem sie bei ihnen sitzen, mit ihnen reden und schließlich alle möglichen Linderungsmittel anwenden. Wenn eine Krankheit nicht nur unheilbar sein könnte, sondern auch ständig quält und peinigt, machen die Priester und die politisch Verantwortlichen dem Kranken Mut, für sich selbst zu entscheiden, dass er nicht zögert zu sterben ... Er solle sich ..., im Vertrauen auf das ewige Leben, aus jenem bitteren Leben wie aus einem Kerker und wie von einer Folterbank selbst befreien oder zulassen, dass er mit seinem Einverständnis von anderen herausgerissen wird. Gegen seinen Willen aber töten sie niemanden und lassen in keiner Weise in ihrer Pflicht ihm gegenüber nach.“ Soweit Thomas Morus.

Mitleid mit der gesamten Kreatur bestimmt das Leben auf Utopia, nicht nur mit den Menschen, auch mit den Tieren. Auf Utopia wird die Jagd - im England des Thomas Morus beliebtes Privileg der Mächtigen und das größte Hobby Heinrichs VIII. – als ein falsches Vergnügen verurteilt. Es geht bei der folgenden Stelle um jemanden, dem es Vergnügen macht, wenn ein Hund den Hasen jagt und zerfleischt – ich zitiere: „Sollte es nicht eher dein Mitleid erregen zu sehen, dass das Häschen vom Hund, das Schwache vom Stärkeren, das Flüchtige und Furchtsame vom Wilden, schließlich das Unschuldige vom Grausamen zerrissen wird.“ Denkt man an die Diskussion über die Fuchsjagd in England, scheint die Abschaffung dieser Art von Jagd trotz entsprechender Beschlüsse des Unterhauses noch eine utopische Forderung zu sein.

Soziale Ungerechtigkeit
Die Idee, das christliche Gebot der Nächstenliebe zur Grundlage von Gesellschaftspolitik zu machen, birgt revolutionäres Potential. Das tiefe Mitleid mit den sozial Schwachen hat den Blick des Thomas Morus für soziale Ungerechtigkeit geschärft. Und so analysiert er im Ersten Buch seiner ‚Utopia’ den realen Staat England als eine ‚Verschwörung der Reichen’, als Organisationsform, in der die Mächtigen Land und Produktionsmittel besitzen. Diese Führungsschicht beschließt im Namen der Allgemeinheit Gesetze, durch die sie die Arbeit und Mühe der Armen möglichst billig sich aneignen, diese also rücksichtslos ausbeuten kann. Das nannte man später ‚Klassenjustiz’.

Ein Beispiel ist die Umwandlung von Ackerboden in Weiden für Schafe. Wenn Grund und Boden zur Ware geworden ist, wird dessen Wert nicht daran gemessen, wie viele Menschen durch ihn ernährt werden, sondern wie viel Profit er abwirft. Je weniger Menschen ihn bearbeiten und je anspruchsloser diese sind, um so größer der Überschuss – eine Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus, die sich ja heute wieder in besonders krasser Form zeigt. Durch den Wechsel vom Ackerbau zur Weidewirtschaft, die nicht arbeitsintensiv war, konnten Arbeitskräfte entlassen werden; so ließen sich mit Schafswolle die besten Gewinne erwirtschaften, zumal auf den überregionalen Märkten die Nachfrage nach Wolle groß war. Und Thomas Morus bzw. sein anderes Ich, Raphael Hythlodäus, klagt an: „Damít also ein einziger Prasser, in seiner Unersättlichkeit eine unheilvolle Pest für sein Vaterland, einige tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlandes mit einem einzigen Zaun einfrieden kann, werden die Pächter vertrieben; durch Lug und Trug umgarnt oder mit Gewalt unterdrückt, werden sie all ihres Besitzes beraubt oder, durch Schikanen zermürbt, zum Verkauf gezwungen.“ Hinzu kam, dass die Großgrundbesitzer sich auch noch des Gemeindelands bemächtigten und – nach der Trennung der englischen von der römischen Kirche - auch des Lands der Kirchen und Klöster. Deren Insassen sowie deren Hörige und Pächter vermehrten noch die Zahl der Arbeitslosen – auch dies war für Thomas Morus ein Grund gewesen, sich gegen die Trennung von der römisch-katholischen Kirche zu stellen. Die Aufhebung und Zerstörung der Klöster, eine der radikalsten Maßnahmen Heinrichs VIII., war fünf Jahre nach
Mores Tod abgeschlossen.
So war eine riesige Zahl von Ackerbauern ohne eigenes Verschulden erwerbslos geworden und verarmt.

Ein verzweifelter Ausweg: Ein Teil dieser Verelendeten wurde Söldner und trug durch die Verheerung des Landes dazu bei, dass auch die letzten Bauern verarmten; aus dem Söldnerdienst entlassen, vermehrten sie dann die Zahl dieser Ärmsten.

Ein anderer Ausweg: sie wurden Diebe. „Was bleibt ihnen schließlich anderes übrig, als zu stehlen und - natürlich nach Recht und Gerechtigkeit - gehenkt zu werden.“ fragt Hythlodäus rhetorisch. An anderer Stelle heißt es: „Es werden nämlich für den Dieb schwere und grauenhafte Strafen festgesetzt, während vielmehr dafür gesorgt werden müsste, dass es für sie irgendeinen Lebensunterhalt gibt, damit nicht jemand der so schrecklichen Notwendigkeit unterworfen ist, zunächst zu stehlen, dann zu sterben.“ Zudem verstoße man hier gegen das göttliche Gesetz: Du sollst nicht töten. Auf Diebstahl stand also die Todesstrafe – man schützte das Eigentum auf rabiate Art, eine groteske Ungerechtigkeit, die für Hythlodäus der Ausgangspunkt seiner sozialen Anklage wird. 72 000 sollen auf diese Weise während der Regierungszeit Heinrichs VIII. umgebracht worden sein – ganz England hatte zu dieser Zeit nur 2,3 Mill. Einwohner 21).

Und dem, der Arbeit hat, geht es auch nicht viel besser – ich zitiere: „Er wird niedergedrückt durch die Trostlosigkeit seiner Arbeit und gemartert durch die Aussicht auf das Bettlerelend seines Alters. Sein Lohn ist so gering, dass er die Bedürfnisse des Tages nicht deckt und es ist gar nicht daran zu denken, dass der Mann etwas für seine alten Tage zurücklegt. ... Nachdem man ihn ausgebeutet und ausgepresst hat in der Kraft seiner Jugend, überlässt man ihn seinem Schicksal, wenn Alter, Krankheit und Not ihn gebrochen haben, und gibt ihn als Belohnung für seine wichtigen Dienste - ohne ihn und seinesgleichen könnte der Staat nicht bestehen - dem Hungertod preis.“ Die Reichen dagegen und die, die ihnen nahestehen, sind ohne Nutzen für den Staat und werden doch vom Staat großzügig ausgehalten – „ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen“. Im Ersten Buch spricht Hythlodäus von der großen Zahl der Adligen, „die selbst müßig wie Drohnen von der Arbeit anderer leben.“ – eine besonders dekadente Art der Existenz.

Diese katastrophalen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen im Europa des Thomas Morus sind der eigentliche Grund für die Entstehung des Romans ‚Utopia’. Den bestehenden Staaten wird ein Richtwert entgegengehalten mit der Aufforderung: Verbessert eure Staaten in Richtung jener Utopie. Hythlodäus sagt, er habe auf der Insel Utopia manches kennengelernt, „was man zum Vorbild nehmen könnte, um die Missstände der hiesigen Städte und Staaten, Völker und Reiche zu verbessern“. Und das Schlusswort des skeptischen Thomas Morus lautet: „Ich gestehe gerne, dass es im Staat der Utopier vieles gibt, was ich in unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann.“

Gemeineigentum als Lösung der sozialen Probleme
Das eigentliche soziale Problem, der Unterschied von Arm und Reich, ist bis heute nicht gelöst, im Gegenteil, das Problem scheint sich eher wieder zu verschärfen.In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts z. B. „lag beim Verdienst das Verhältnis zwischen Dax-Vorständen und Normalverdienern bei 20 zu 1. Heute ist es ein Verhältnis von 200 zu 1. (Hans-Ulrich Wehler, Stadt-Anzeiger 28. Februar 2013).
Thomas Morus stellt in seinem Roman eine Lösung zur Diskussion, von der Hythlodäus sagt, sie sei die Voraussetzung für das Gelingen einer Gemeinschaft und für das Glück seiner Mitglieder.
Er beruft sich auf Plato, der meint, - jetzt wieder wörtlich - „dass es nur einen einzigen Weg zum Heile des Staates gibt, wenn nämlich die Gleichheit des Besitzes verkündet wird. Diese Gleichheit kann schwerlich eingehalten werden, wo die einzelnen noch Privateigentum haben. Denn wenn ein jeder unter gewissen Rechtstiteln, soviel er nur kann, an sich reißt, so kann die Menge der vorhandenen Güter noch so groß sein: Nur Wenige teilen diese Güter völlig unter sich auf und lassen den übrigen die Armut.“ Später wird es bei Proudhon heißen: Eigentum ist Diebstahl.
Wo immer es Privatbesitz gebe, könne es also keine Gerechtigkeit, keine gerechte Verteilung geben - Zitat: „Solange es Privatbesitz gibt, wird immer auf dem weitaus größten und weitaus besten Teile der Menschheit die drückende und unvermeidliche Bürde der Armut und des Kummers lasten 22).

Um diese These vom Schaden durch Privatbesitz und Nutzen des Gemeineigentums abzusichern, verweist Hythlodäus auf die christliche Urgemeinde als einer Liebesgemeinschaft. In der Apostelgeschichte (2,44) heißt es: „Alle, die zum Glauben gekommen waren, hielten fest zusammen und hatten alles gemeinsam. Den Grundbesitz und die sonstige Habe verkauften sie und verteilten den Erlös an alle, je nachdem einer es brauchte.“ Die Urgemeinde berief sich dabei auf die Lehre Christi. Diese Lehre Christi aber werde im Interesse der Mächtigen verfälscht: „Da nämlich die Menschen ihre Sitten nur ungern der Vorschrift Christi anpassen ließen, glichen sie seine Lehre wie ein biegsames Richtmaß den Sitten an, damit beide wenigstens auf irgendeine Weise zusammenpassten.“
So meint Hythlodäus.

Die Einwände
Wahrheit entwickelt sich nur im Prozess von These und Gegenthese; also müssen jetzt die Einwände zu den Thesen des Hythlodäus kommen. Sie werden vom Thomas Morus des Romans formuliert. Vieles von dem, was Hythlodäus ihm über Utopia erzählt hat, findet er beachtenswert, aber er wird skeptisch, wenn es um die Einrichtung des Gemeineigentums geht. Für ihn würde dadurch die Wirtschaft zerrüttet und die staatliche Ordnung zerstört. Und der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus vor gut 20 Jahren scheint diese These ja zu bestätigen.

Um zu verstehen, wie Thomas Morus dies meint, muss noch einmal Hythlodäus als Befürworter des Gemeineigentums zu Wort kommen: Er spricht von einem Markt, auf den alle Waren zusammengetragen werden - und nun wörtlich: „Von diesen Waren verlangt jeder Familienvater, was er selbst und die Seinen nötig haben; und ohne Geld, völlig ohne Gegenleistung trägt er fort, was er verlangt hat. Warum nämlich sollte irgendetwas verweigert werden, da doch im Überfluss genügend von allen Dingen vorhanden ist und keine Furcht besteht, dass irgendeiner mehr fordern möchte, als es nötig ist. Denn warum könnte man von dem glauben, dass er Überflüssiges verlangen wird, der die Gewissheit hat, dass ihm niemals etwas fehlen wird. Durch Furcht vor Mangel werden bei allen lebenden Wesen Habsucht und Raubgier hervorgerufen.“ Da bei den Utopiern kein Mangel herrscht, kann das Gemeineigentum nach dem Prinzip verteilt werden, dass – wie in der christlichen Urgemeinde - jeder nach seinen Bedürfnissen erhält, „dass einerseits die Leistung ihren Lohn findet, andererseits infolge der allgemeinen Gleichheit allen alles reichlich zugemessen ist“.

Eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen dieser Lebensweise ist freilich, dass die Speicher voll sind. Und sie sind voll trotz des 6-Stunden-Tags, weil mit den Ressourcen vernünftig umgegangen und die Arbeit vernünftig organisiert wird – wie Sie eben schon gehört haben.

Hier nun setzt der Kritiker an: Anderswo als auf Utopia könne dieses Modell nicht gelingen: Wenn man ohne direkte Gegenleistung sich vom Markt holen könne, was man brauche, führe die Bequemlichkeit dazu,
dass viele zu Schmarotzern werden und die anderen die Erträge für sich mit erwirtschaften lassen.

Bei Thomas Morus heißt das so: „Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ Das Warenangebot wird sich verknappen, und wer – die Not vor Augen – nun doch sich etwas erarbeitet, muss damit rechnen, dass die Faulen zu Räubern werden und ihm das Erarbeitete mit Gewalt entwenden, da es ja kein Gesetz zur Sicherung des Eigentums gibt.

Der Egoismus des Menschen mache ein auf Gemeineigentum basierendes Gesellschaftssystem unpraktikabel: Jeder denke an sich selbst zuerst, in der Not sowieso, aber auch in besseren Zeiten: zunächst möchte jeder sich selbst voll entfalten; persönliches Eigentum ist dafür ein hervorragendes Mittel, es gibt mehr Freiheit, es gibt mehr Ansehen, es gibt mehr Macht 23). Wir finden das ja auch ganz in Ordnung und sprechen von ‚gesundem Egoismus’.

Thomas Morus geht einen Schritt weiter und blickt in die Abgründe des Menschen. Begriffe zu finden, die diese Abgründe benennen, ist schwierig, vor allem im 16. Jahrhundert war es schwierig, da ist man schnell mit seinem Latein am Ende. Thomas Morus greift den Begriff ‚superbia’ auf, ein Schlüsselbegriff im Lateinischen und seiner Literatur. Wir sprechen im Alltag von ‚super’, wenn wir meinen, das ragt heraus, das steht über anderem. Mit superbia ist die Haltung des Menschen bestimmt, der über anderen stehen will, eine Haltung, die - neben der Furcht vor Entbehrung – Fundament der zerstörerischen Gier ist. Der Wunsch, anderen überlegen zu sein, über ihnen zu stehen, sie zu übertrumpfen, sei ein Grundtrieb des Menschen, ein Trieb, der Gleichheit nicht zulässt. Denn diesem Menschen reiche es nicht, einfach nur glücklich zu sein, sondern er möchte glücklicher sein als andere bzw. andere im Unglück sehen, damit er sich in seinem Glück überlegen fühlt. Er braucht den Kontrast zum Elend anderer, um sich glücklich zu fühlen. Darum muss er Gemeineigentum ablehnen, da es die Möglichkeit eröffnet, dass alle in gleicher Weise glücklich sind.

Für den Thomas Morus im Roman gilt also: Nur mit einem neuen Menschen sei ein gerechter Staat zu machen. Man müsse zuerst den Menschen ihren Trieb, anderen überlegen sein zu wollen, ihre Missgunst aberziehen. „Denn dass alle Verhältnisse gut sind, kann nur geschehen, wenn alle Menschen gut sind; aber das erwarte ich für eine ganze Reihe von Jahren noch nicht.“ meint Morus.

Hythlodäus hält dem entgegen, dass auch auf Utopia nicht nur vorbildliche Menschen leben, dass dort nicht alle Menschen von sich aus gut sind, dass die meisten Menschen auf Utopia nur „ein Mittelmaß von Tugenden“ aufweisen. Die gesellschaftlichen Einrichtungen und die religiösen Vorstellungen würden aber dafür sorgen, dass die Schwächen der Menschen dem Gelingen des vorbildlichen Staats nicht im Wege stehen. Der Bequemlichkeit und Faulheit z. B. wird durch die Arbeitsaufsicht entgegengetreten; die Feigen werden im Krieg dort eingesetzt, wo sie nicht fliehen können, Schwerverbrecher werden durch Sklavenarbeit bestraft.
Auch die Habsucht, eines der Übel, die eine Gemeinschaft – wie wir in den letzten Jahren besonders drastisch erfahren haben - im Kern treffen kann, ist den Utopiern nicht fremd, wie folgende Bemerkung des Hythlodäus nahe legt: Benachbarte Völker möchten von Utopia lernen und lassen ihren Staat für einige Jahre von Beamten aus Utopia regieren. Diese Beamte, meint Hythlodäus, seien deshalb vor Bestechlichkeit gefeit, nicht wegen ihres guten Charakters, sondern weil ihnen Geld nichts nützt, wenn sie wieder nach Utopia kommen. Denn dort gibt es ja außer beim Außenhandel keine Geldwirtschaft.
Regulierung durch Lohn und Strafe ist auch auf Utopia nötig: Der Glaube an ein ewiges Leben nach dem Tod, an Belohnung und Bestrafung im jenseitigen Leben, halte das Verhalten der Menschen in vernünftige Grenzen und wehre so Schaden für die Gemeinschaft ab.Das heißt also nicht, dass nur mit gelungenen Menschen ein gelungener Staat zu machen sei; das Gesellschaftssystem an sich könne schon helfen, dass menschliche Schwächen nicht sich gegen die Gemeinschaft richten.

Politisch engagierte Menschen der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts – also Leute wie ich – glaubten damals, dass eine richtige Erziehung einen weniger habsüchtigen und missgünstigen Menschen schaffen könnte und dass auch durch Veränderung des Gesellschaftssystems eine Verbesserung zu erreichen sei.

Die Lehre vom Gemeineigentum heute
Mittlerweile ist Ernüchterung eingetreten, und man ist schnell mit der Bemerkung zur Hand ‚Das ist doch utopisch’.Aber Machtmissbrauch, Profitgier, Ungerechtigkeit - Kennzeichen eines Kapitalismus, wie Thomas More ihn sah - sind auch heute nicht wegzuleugnen. Wenn beispielsweise Unternehmen aufgegeben werden, weil die Aktionäre nicht genügend Geld aus ihnen herausziehen können.Oder wenn zu dem Zweck, mehr Geld aus dem Unternehmen zu ziehen, Beschäftigte entlassen werden oder die Löhne – im Verhältnis zur Produktivität – gesenkt werden, zur Not durch den Export der Arbeitsplätze in Billiglohnländer. Oder – um auf die Finanzmärkte einzugehen – wenn Geld mehr Ware als Zahlungsmittel geworden ist: mit Devisen, Schulden, Krediten zu handeln einträglicher ist als mit Industrieprodukten, wenn der Sinn der Marktwirtschaft die Vermehrung von Geld ist und nicht die optimale Versorgung der Menschen mit Arbeit und Brot.
Man kommt - vor allem nach der Banken- und Schuldenkrise, nach den Spekulationen sogar mit Schulden - ins Grübeln, ob das Recht auf uneingeschränkte individuelle Verfügung über Privatbesitz, zumindest bei Geldverkehr und Produktionsmitteln, sinnvoll ist.

Wem die Abschaffung des Privatbesitzes als Alternative zu diesem kapitalistischen System nicht geeignet erscheint, kann sich mit Hilfe der Analysen des Thomas Morus den Kopf zerbrechen über andere Wege, solchen Kapitalismus zu überwinden. In unserem Grundgesetz steht eine solche Alternative: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Durch die Idee der Sozialbindung des Eigentums könnten die negativen Auswirkungen des Privatbesitzes eingeschränkt werden. Nur muss immer wieder an diesen Grundgesetz-Artikel 14 erinnert werden, und entsprechende Konsequenzen müssen gezogen werden. Heute spricht man so gerne von Regulierung durch den Staat. Ich befürchte, dass dies ein Modewort bleibt. Der Grundsatz: Mehr Markt und weniger Staat bleibt unangetastet, und so sind die Gewinner der durch die Banken verursachten Krise beispielsweise immer noch die Banker.

Einzelheiten der Lebensgestaltung auf Utopia
Von der Grundüberlegung ausgehend, dass das Zusammenleben einer Gesellschaft nur gelingt, wenn das Gemeineigentum ihre Grundlage ist, beschreibt Morus diese geglückte und glückliche Gemeinschaft auf Utopia in vielen hochinteressanten Details. Er schreibt von der Friedensliebe der Utopier. Er schreibt von der Krankenversorgung in Krankenhäusern. Er schreibt von der Wehrpflicht auch für Frauen, von Krabbelstuben und Kindergärten; er schreibt davon, dass in den Städten die Mahlzeiten in großen Hallen für 30 Familien gemeinsam eingenommen werden – der Frau wird so die Doppelbelastung erspart. Er schreibt vom Frauenwahlrecht; er schreibt über Gesetzgebung und Rechtsprechung; er war ja schließlich Star-Anwalt. Ein Satz über seine Rechtsauffassung sei zitiert: „Sie selbst – also die Utopier - schätzen es als höchst ungerecht ein, dass Menschen durch Gesetze verpflichtet werden, die entweder zu zahlreich sind, als dass sie gelesen werden könnten, oder zu unklar, als dass sie von jedem verstanden werden könnten. Fernerhin schließen sie alle Anwälte, die Prozesse verschlagen führen und die Gesetze spitzfindig auslegen, völlig aus.“

Und Morus schreibt von vielem anderen noch. Gerade bei den Details zeigt sich, dass das, was einmal Utopie war, nach knapp 500 Jahren durchaus realisiert werden könnte und sollte. Nicht alles ist utopisch, was einmal als Utopie dargestellt wurde.

Am Ende meines Vortrags möchte ich einen kurzen Blick werfen auf die Religion der Utopier. Wie erfahren nicht nur, dass die Priester gewählt werden und dass sie verheiratet sind, wir erfahren weiter, dass auch Frauen zum Priestertum zugelassen sind; dass öffentlich nur ein ökumenischer Gottesdienst gestattet ist (Man wundert sich, warum die katholische Kirche Thomas Morus als Heiligen verehrt.), dass Toleranz ein Wesensmerkmal dieser Gesellschaft ist: „Denn das zählen sie zu ihren ältesten Grundrechten, dass nicht jemandem seine Religion zum Nachteil gereicht.“
Wir erfahren vor allem etwas über ein erstaunliches Gottesbild. Es heißt dort: Der Gründer und Verfassungsgeber Utopias, Utopos, „wagte es nicht, über die Religion leichthin etwas Endgültiges festzusetzen, da er nicht sicher war, ob Gott nicht vielleicht gerade eine mannigfache und vielfältige Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke. Auf jeden Fall hielt er es für anmaßend und töricht, mit Gewalt und Drohungen zu erzwingen, dass das, was einer für wahr hält, allen als wahr erscheine. Wenn aber wirklich nur eine einzige Religion wahr, jede andere aber falsch sein sollte, so sah er leicht voraus, dass die Kraft der Wahrheit sich schließlich einst durch sich selbst sichtbar und offenbar werde, sofern die Sache vernünftig und maßvoll betrieben werde.“

Solche innere Freiheit des Denkens hat es seit dem Humanismus nicht mehr gegeben. Die Neigung, die eigene Wahrheit absolut zu setzen, nahm auf allen Seiten zu, übrigens auch bei Thomas Morus selbst - durch die Kämpfe der Reformation war die Welt enger geworden.

Nur wenige noch hörten auf die Toleranzidee der ‚Utopia’ 24), dazu gehört vor allem Lessing, der in seinem ‚Nathan‘ Thomas Morus fast wörtlich zitiert.

Man wirft Utopien vor, der Versuch, sie in die Realität umzusetzen, müsse scheitern. Gutgemeinte Humanität müsse schnell in inhumanes Verhalten eines totalitären Regimes umschlagen. In den auf Morus folgenden utopischen Entwürfen, vor allem in Campanellas ‚Sonnenstaat’, haben Staat und Priestertum tatsächlich erschreckend viel regulierenden und kontrollierenden Einfluss.

Verständnis für ein Mindestmaß an Regulierung freilich erwartet Morus von jedem Einzelnen im Interesse der Allgemeinheit. Wenn eine solche Regulierung verbunden ist mit einer grundsätzlich toleranten Einstellung, müssen die Menschen auf Utopia sich nicht gegängelt, beschränkt, gefesselt fühlen 25).

Zum Abschluss möchte ich die Hoffnung ausdrücken, dass ich Ihnen eine Ahnung vermittelt habe von diesem - wie ich meine - großen, ja einem der größten Werke der Weltliteratur, das geprägt ist vom kühnen Geist der Neuerung, vom Mut gegenüber der Macht der Herrschenden, von toleranter Öffnung für das Ungewohnte, Ungedachte und vor allem von tiefem Mitleid mit den sozial Schwachen.
Es ist ein so großartiges Buch, dass man den österreichischen Sozialisten und Pazifisten Karl Kautsky 26) versteht, wenn er meint, man könne sich nicht mit Morus beschäftigen, ohne ihn lieben zu lernen.



Vortrag über Thomas Morus und seine 'Utopia' / Anmerkungen zum Vortrag

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