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Diss. Anmerkungen
Diss. Kapitel 1 - 4
in Diss. zitierte Literatur
Vortrag

Robert Walser
DIE GESCHICHTE VOM VERLORENEN SOHN

Wenn ein Landedelmann nicht zwei Söhne gehabt hätte, die glücklicherweise vollständig voneinander abstachen, so würde eine lehrreiche Geschichte unmöglich haben zustande kommen können, nämlich die Geschichte vom verlorenen Sohn, die mitteilt, daß der eine von den beiden verschiedenartigen Söhnen sich durch Leichtlebigkeit auszeichnete, während der andere durch denkbar soliden Lebenswandel hervorragte.
Wo der eine frühzeitig sozusagen die Offensive ergriff und in die Welt hinausmarschierte, blieb der andere säuberlich daheim und verharrte mithin so zäh wie möglich gewissermaßen im Zustand abwartender Verteidigung. Wo wieder ersterer gleichsam im Ausland herumvagabundierte, lungerte wieder letzterer scheinbar höchst ehrbar gleichsam. ums Haus herum.
Während der erste artig ausriß und hübsch eilig auf und davon rannte, hielt sich der zweite beständig erstaunlich brav an Ort und Stelle auf und erfüllte mit unglaublicher Regelmäßigkeit seine täglichen Obliegenheiten. Während wieder der eine weiter nichts Besseres zu tun hatte, als abzudampfen und fortzugondeln, wußte leider wieder der andere weiter nichts Gescheiteres anzufangen, als mitunter vor lauter Tüchtigkeit, Ordentlichkeit, Artigkeit und Nützlichkeit schier umzukommen.
Als der entlaufene oder verlorene Sohn, dem die Geschichte ihren Titel verdankt, ach und nach merkte, daß es mit seinen Aktien in der Tat verhältnismäßig recht, sehr übel stehe, trat er den Rückzug an, was zweifellos ziemlich vernünftig von ihm war. Der Daheimgebliebene würde auch ganz gerne einmal einen Rückzug angetreten haben, das Vergnügen war ihm aber durchaus nicht gegönnt, und zwar ganz einfach vermutlich deshalb nicht, weil er nicht fortgegangen, sondern zu Hause geblieben war, wie bereits bekannt ist.
Wenn vermutet werden darf, der Fortgelaufene habe das Fortlaufen ernstlich bereut, so wird nicht weniger vermutet oder angenommen werden dürfen, daß der Daheimgebliebene sein Daheimbleiben tiefer bereute, als er dachte. Wenn der verlorene Sohn innig wünschte, daß er lieber nie verlören gegangen wäre, so wünschte seinerseits der andere, nämlich der, der niemals weggegangen war, durchaus nicht weniger innig oder vielleicht noch inniger, daß er doch lieber nicht beständig zu Hause geblieben, sondern lieber tüchtig fortgelaufen und verloren gegangen wäre, oder er sich auch ganz gern einmal gehörig würde haben heimfinden wollen.
Da der verlorene Sohn, nachdem er längst verloren geglaubt worden war, Abbild vollkommener Herabgekommenheit, zerlumpt und abgezehrt, eines Abends plötzlich frisch wieder auftauchte, stand gewissermaßen Totes wieder lebendig auf, weshalb ihm alle Liebe naturgemäß wie wild entgegenstürzte.
Der wackere Zuhausegebliebene hätte auch ganz gern einmal tüchtig tot und hernach wieder tüchtig lebendig sein mögen, um erleben zu dürfen, daß ihm alle Liebe naturgemäß wie wild entgegenkäme.
Die Freude über das unerwartete Wiederfinden und das Entzücken über ein so schönes und ernstes Ereignis zündeten und loderten hell und hoch wie eine Feuersbrunst im Haus herum, dessen Bewohner; Knechte, Mägde sich fast wie in den Himmel hinaufgehoben fühlten. Der Heimgekehrte lag der Länge nach am Boden, von wo ihn der Vater aufgehoben haben würde, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Der alte Mann weinte so sehr und war so schwach, daß man ihn stützen mußte. Selige Tränen. In allen Augen war ein Schimmer, in allen Stimmen ein Zittern. Von so mannigfaltigem Anteil, so aufrichtig liebendem Verstehen und Verzeihen umflossen, mußte der Fehlbare beinahe wie heilig erklärt erscheinen. Schuldig sein hieß zu solch schöner Stunde nichts anderes als liebenswürdig sein. Alles
redete, lächelte, winkte hier und dort dicht durcheinander, derart, daß nur glückliche, zugleich aber auch nur feuchte Augen zu sehen und nur gutherzige; zugleich aber auch nur ernste Worte zu hören sein konnten. Bei der fröhlichen Begebenheit blieb nicht das mindeste unbeleuchtet, da bis in das Hinterste geringer schwacher Abglanz vom allgemeinen Glanze und kleine Lichter vom großen Lichte drangen.
Irgendwelchem Zweifel kann kaum unterliegen, daß ein gewisser anderer auch ganz gern einmal Gegenstand so großer Freude gewesen wäre: der sich sein Lebtag nie etwas hatte zuschulden kommen lassen, würde auch ganz gern einmal schuldig gewesen sein. Der immer einen anständigen Rock getragen hatte, würde auch ganz gern ausnahmsweise einmal recht zerlumpt und abgerissen ausgesehen haben. Sehr wahrscheinlich würde er auch ganz gern einmal der Länge nach in mitleiderregenden Fetzen am Boden gelegen sein, von wo ihn der Vater würde haben aufheben wollen. Der nie Fehler begangen hatte, würde vielleicht auch ganz gern einmal armer Sünder gewesen sein. Unter so holden Umständen verlorener Sohn zu sein, war ja geradezu ein Genuß, doch der Genuß blieb ihm ein für allemal versagt.
Inmitten allseitiger Zufriedenheit und Vergnügtheit blieb niemand mißvergnügt und übelgelaunt als doch hoffentlich nicht er? Jawohl! Inmitten gemeinschaftlicher Fröhlichkeit und Geneigtheit blieb niemand ungefragt und abgeneigt als doch hoffentlich nicht er? Jawohl!
Was aus den übrigen Personen geworden ist, weiß ich nicht. Sehr wahrscheinlich sind sie sanft gestorben. Der wunderliche Unzufriedene hingegen lebt noch. Neulich war er nämlich bei mir, um sich mir murmelnd und brummelnd als ein Mensch vorzustellen, der verlegen sei, weil er mit der Geschichte vom verlorenen Sohn zusammenhänge, von welcher er auf das Lebhafteste wünschen müsse, daß sie lieber nie geschrieben worden wäre. Auf die Frage, die ich an ihn richtete, wie man dies zu verstehen habe, antwortete er, daß er jener Daheimgebliebene sei.
Ich wunderte mich über des sonderbaren Kauzes Unbehagen keine Sekunde lang. Für seine Verdrießlichkeit besaß ich uneingeschränktes Verständnis. Daß die Geschichte vom verlorenen Sohn, worin er eine offenbar wenig empfehlenswerte Rolle spielte, eine angenehme und erbauliche Geschichte wäre, hielt ich für unmöglich. Vielmehr war ich in jeder Hinsicht vom Gegenteil überzeugt.

Lukas-Evange1ium cap. 15,11-32
Das Gleichnis von dem verlorenen und dem daheimgebliebenen Sohn

11 Er sprach aber: Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zum Vater: Vater, gib mir den auf mich fallenden Teil des Vermögens! Der aber verteilte ihnen das Hab und Gut. 13 Und nicht viele Tage danach hane der jüngere Sohn alles zusammengepackt und reiste fort in ein fernes Land, und dort verschwendete er seine Habe durch ein liederliches Leben. 14 Als er aber alles vergeudet hatte, kam eine starke Hungersnot über jenes Land, und er begann, Mangel zu leiden. 15 Und er zog hin, verdingte sich einem der Bürger jenes Landes, und der schickte ihn auf seine Äcker zum Schweine hüten. 16 Und er begehrte, seinen Leib mit den Johannisbrotschoten zu füllen, von denen die Schweine fraßen, und niemand gab sie ihm. 17 Zu sich selbst gekommen aber, sagte er: Wie viele Taglöhner meines Vaters haben Überfluß an Brot, ich aber, ich gehe hier vor Hunger zugrunde. 18 Auf, ich will hinziehen zu meinem Vater und ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, 19 ich bin nicht mehr wert, dein Sohn gerufen zu werden. Stelle mich wie einen deiner Taglöhner. 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Noch aber war er weit entfernt, da sah ihn sein Vater und er tat ihm herzlich leid, und er lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn. 21 Es sprach aber der Sohn zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn gerufen zu werden. 22 Der Vater aber sprach zu seinen Knechten:
Schnell, bringt ein Gewand heraus, das beste, und zieht es ihm an und gebt einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße, 23 und bringt das gemästete Kalb, schlachtet es! Und wir wollen essen und guter Dinge sein, 24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und wurde gefunden. Und sie begannen guter Dinge zu sein.
25 Es war aber sein älterer Sohn auf dem Acker. Und wie er (heim) kommend sich dem Hause näherte, hörte er Musik und Chorgesang, 26 und er rief einen von den Knaben herbei und erkundigte sich, was wohl dies sei. 27 Der aber sprach zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückerhalten hat. 28 Zorn aber überkam ihn da, und er wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und rief ihn herein. 29 Der aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir als Knecht und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten, und mir hast du niemals ein Böckchen gegeben, damit ich mit meinen Freunden guter Dinge wäre. 30 Als aber dein Sohn, dieser da, der dein Hab und Gut mit Dirnen verfressen hat, kam, da hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet! 31 Der aber sprach zu ihm:
Kind, du, du bist allezeit bei mir, und all das Meine ist dein. 32 Man mußte aber doch guter Dinge sein und sich freuen, weil dein Bruder, dieser da, tot war und lebendig geworden ist, (weil er) verloren war und gefunden wurde.

Abitur 1983
Aufgabenstellung:
Analysieren Sie Robert Walsers ‘Die Geschichte vom verlorenen Sohn’ unter besonderer Berücksichtigung der Rezeptionsvorgabe durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium (15,11-32) und der Art der Rezeption durch Walser!

Konkrete Beschreibung der zu erwartenden Schülerleistung (Erwartungshorizont des Lehrers):



Es muß von den Schülern erkannt und in angemessener Weise dargestellt werden, daß im Lukas-Evangelium das Verlassen des Vaterhauses negativ beurteilt wird, daß die Sympathien des Erzählers dem reumütig Heimkehrenden und dem gnädigen Vater gehören und daß der Zurückgebliebene ins Unrecht gesetzt wird.
Es muß erkannt und nachgewiesen werden, daß Walser eine Gegenperspektive konstituiert, indem er das Verlorengehen aufwertet und das Daheimbleiben negativ wertet (Reiz des Abenteuers und des Schuldigseins an sich, vor allem aber - und dies wenigstens erwarte ich von den Schülern - der Daheimgebliebene erfährt nicht das Geliebtwerden.) .
Es müssen die beiden Söhne in Walsers Geschichte charakterisiert werden und es muß verdeutlicht werden, daß der Daheimgebliebene ins Zentrum rückt. Es muß gesehen werden, daß die Gegenperspektive unter anderem durch Ironisierung des Bibelgleichnisses erreicht wird.
Nicht erwartet wird die Kenntnis vom Kontext des Bibelgleichnisses , ebenso nicht Detailkenntnisse zur historischen Einordnung; entsprechende Hinweise würden nur verwirren (so z.B. daß es nach jüdischer Vorstellung schon Sünde ist, wenn der Sohn seinen Teil ces Vermögens dem Vaterhaus entnimmt und wenn er sich der Aufsicht des Vaters entzieht) .

Als besondere Leistung wird angesehen, wenn bei Walser explizit auf den Erzähler eingegangen wird und die Gegenrezeption mit der perspektivischen Struktur verknüpft wird.
Die Überschreitung des Umfangs der Texte ist zu rechtfertigen, da das Bibelgleichnis nur als Hintergrund für eine Analyse des Walsertextes dient und in seinen wesentlichen Zügen als bekannt vorausgesetzt werden kann und da der Text Walsers unter dem Aspekt der Art der Rezeption bearbeitet werden soll und damit eine Auswahl bestimmter Textstellen nahegelegt ist.
Seine Gegenperspektive wird unter anderem durch Ironisierung des Bibelgleichnisses erreicht.

Vergleiche auch:
Franz Kafka HEIMKEHR

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät , ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, de alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren, Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.



Robert Walser

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