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1. Klausur LK 12.1
4 Unterrichtsstunden
26.09.96

Marlen Haushofer, Die Wand

Bearbeiten Sie eine der beiden Aufgaben!

Aufgabe I
Klett S. 29 Z. 21 bis S. 34 Z. 8; dtv S. 33 Z. 5 bis S. 37 vorletzter Absatz („dass ich es gar nicht merke.“)

Interpretieren Sie den ausgewählten Text!

Beachten Sie in jedem Fall folgende Fragestellungen:

1.
Aus welcher Perspektive wird erzählt?

2.
Wie zeigen sich auf diesen Seiten Science Fiction, Robinsonade und Emanzipation als drei wesentliche Themen des Romans?

3.
„In welche Richtung“ geht die Erzählerin im Verlauf ihrer ‘Robinsonade’ (etwa im Gegensatz zum Ausgang des ‘Robinson Crusoe’)? - Bedenken sie die besondere Art von Utopie in diesem Roman, das Verhältnis der Erzählerin zu Menschen, zu Tieren, das mystische ‘Sich von sich entfernen’, die Versuche, neu zu sehen, den Wunsch, auf neue Art zu schreiben, und anderes!
Diese Fragestellung betrifft den gesamten Roman.

Bleiben Sie immer möglichst nah am Text!

Aufgabe II

Gertrud Schänzlin interpretiert Haushofers ‘Die Wand’ im Zusammenhang mit zwei anderen Romanen.
Erläutern Sie mit genauen Belegen, wie das, was Gertrud Schänzlin in der Einleitung ihrer Interpretation über alle drei Romane schreibt, auch für Marlen Haushofers ‘Die Wand’ zutrifft!

Die Verfasserin zitiert zunächst aus Lessings ‘Nathan der Weise’:
Wer/Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht/Entschließen kann, der lebet andrer Sklav’/auf immer. (gemeint ist : der lebt als Sklave anderer) Dann fährt die Verfasserin fort:
„Den Romanheldinnen, deren ‘Lebensversuche’ hier dargestellt werden sollen, verbietet schon ihr Rollenverständnis einen solchen Entschluss. Ihr "Sklaventum“, d. h. ihre Bindung an die sie beherrschenden Menschen und Normen, ertragen sie als selbstverständliche Pflicht. Erst die unvorhersehbare, gewaltsame, von den Frauen nicht gesteuerte und nicht zu steuernde Störung des sozialen Gefüges stellt sie vor die Notwendigkeit, die "Sklavenrolle" aufzugeben; erst nach dem zunächst schmerzlichen Verlust gewohnter Ordnungen werden persönliche Defizite überhaupt wahrgenommen, und erst dieses neue Bewusstsein ermöglicht den Entschluss, ein eigenes Leben zu beginnen.

Damit ist angedeutet, was die drei Romane verbindet und eine vergleichende Betrachtung reizvoll erscheinen lässt: ihre (unterschiedlich veranlagten) Hauptfiguren werden durch (unterschiedlich geartete) Schicksalsschläge aus ihrem geordneten Leben geworfen; in ihrem Kampf ums Überleben entdecken sie die Chance zu einem neuen, eigenen Leben.

Der dazu notwendige Selbstfindungsprozess, "der Versuch, man selbst zu sein", "dieser lange, nicht enden wollende Weg zu sich selbst" (Christa Wolf, Nachdenken über Christa T) unterscheidet sich ganz wesentlich von feministischen Ausbruchsversuchen aus patriarchalischen Herrschaftsstrukturen; gleichwohl erscheinen die Heldinnen am Ende der erzählten Zeit "emanzipiert" im Sinn des Wortes, also entlassen aus der beengenden, aber auch schützenden Gewalt hierarchischer Ordnung.“


Lösungen

zu Aufgabe I

zu 1.
Aus welcher Perspektive wird erzählt?
Nachdem die Erzählerin des Romans ‘Die Wand’ von Marlen Haushofer im Gebirge durch eine gläserne Wand von der Außenwelt, in der alles tierische und menschliche Leben versteinert ist, als einzige menschliche Überlebende abgeschlossen ist, versucht sie unter großer Mühe, sich ihr Leben mit einem Hund und einer Kuh zu erhalten; nach zehn Tagen kommt sie ein wenig zur Ruhe und ist gezwungen, sich der Wirklichkeit zu stellen.

Die Erzählerin erzählt in der Ichform, und die Perspektive der Erzählung ergibt sich dadurch, dass die Erzählerin nach einem Abstand von zweieinhalb Jahren beginnt, die Ereignisse nach der Katastrophe aufzuschreiben, so dass sie, ohne als allwissende Erzählerin auftreten zu müssen, auch Vorausdeutungen - bezogen auf die Ereignisse der zweieinhalb Jahre - machen kann (Als lebenswichtig erwies sich ein großer Sack Erdäpfel).

Diese Erzählsituation erklärt auch den Wechsel von Präsens und Imperfekt (Jener zehnte Mai war ein richtiger Wintertag. - Schon damals - noch viel später ... konnte ich - Wenn ich heute an meine Kinder denke - Schon heute bin ich ja nicht mehr der Mensch, der ich einmal war). Dieser Tempuswechsel geschieht so unauffällig, dass man Gegenwart des Erzählens und Vergangenheit des Erinnerten in gleicher Weise als ohne Distanz zum Geschehen dargestellt empfindet und der Leser sich oft nicht bewusst ist, dass meist Vergangenes berichtet wird. Nur selten wird deutlich, dass zwischen der Situation des Erzählens und dem Beginn der Erzählung zweieinhalb Jahre liegen.



zu 2.
Wie zeigen sich auf diesen Seiten Science Fiction, Robinsonade und Emanzipation als drei wesentliche Themen des Romans?

Voraussetzung für die Erzählung ist die Idee einer idealen Waffe, die die Erde unversehrt hinterließ und nur Menschen und Tiere tötete, ohne dass diese vermutlich leiden mussten (humanste Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte); möglicherweise erstreckt sich die Wirkung der Waffe auf die ganze Welt, also auch auf den, der sie angewendet hat; so meint die Erzählerin, dass das Experiment ...ein wenig zu gut gelungen sei. Die zweite Science Fiction-Idee ist die der gläsernen Wand, die einen Teil eines Gebirges vor der Zerstörung bewahrt; die Funktion dieser Wand innerhalb der strategischen Überlegungen eines möglichen Feinds wird nicht angesprochen.

In einer Robinsonade geht es darum, dass eine Katastrophe einen Menschen zwingt, ganz auf sich allein gestellt mit nur wenigen zufälligen Hilfsmitteln zu überleben und sich so zu bewähren (versuchen, am Leben zu bleiben - Als lebenswichtig erwies sich ein großer Sack Erdäpfel, eine Menge Zündhölzer und Munition).
Dies ist die Situation der Erzählerin; und die Versuche, mit den geringen Hilfsmitteln und den noch geringeren eigenen Fähigkeiten zu überleben, und die Gründe, warum sie ums Überleben kämpft, machen einen großen Teil des Romans, auch des angegebenen Abschnitts aus.

Die dem Roman zugrundeliegende Idee der Emanzipation zeigt sich in der Auseinandersetzung der nun ganz auf sich allein gestellten Erzählerin mit ihrer Vergangenheit; nachdem sie äußerlich von der Welt der Vergangenheit getrennt wurde, befreit sie sich innerlich von ihr. Ein äußeres Zeichen dieser Befreiung: dass sie als größten Schatz nun einen Sack Kartoffeln und Bohnen bezeichnet. Hier zeigt sich eine Umwertung der Werte, wobei die Erzählerin auch immer andeutet, dass ihr an der Wertung in der alten Welt nicht viel lag.
Im angegebenen Text zeigt sich die Befreiung von den Zwängen der Vergangenheit an der Wahrhaftigkeit, mit der sie ihr Verhältnis zu den Kindern analysiert, zugibt, dass ihre heranwachsenden Töchter sich zu fremden Kostgängern entwickeln; in der Zeit vor der Wand hatte sie solche Erkenntnisse wie jede andere Mutter verdrängt, weil in der damaligen Gesellschaft die Liebe auch zu den heranwachsenden Kindern zur Rolle der Frau und Mutter gehörte. Nun kann sie sich von diesen konventionellen Wertvorstellungen lösen und Verdrängtes zugeben.



zu 3.
„In welche Richtung“ geht die Erzählerin im Verlauf ihrer ‘Robinsonade’ (etwa im Gegensatz zum Ausgang des ‘Robinson Crusoe’)? - Bedenken sie die besondere Art von Utopie in diesem Roman, das Verhältnis der Erzählerin zu Menschen, zu Tieren, das mystische ‘Sich von sich entfernen’, die Versuche, neu zu sehen und der Wunsch, auf neue Art zu schreiben, und anderes! Diese Fragestellung betrifft den gesamten Roman.
Eine positive Utopie im üblichen Sinne, also die Vorstellung, wie Menschen in idealer Weise zusammenleben könnten, wird angedeutet, wenn die Erzählerin versucht, für die Zeit vor der Wand eine Alternative zum Zusammenleben, wie sie es erfahren hat, zu finden, nämlich die Alternative, dass die Welt vom Gesetz der Liebe hätte bestimmt sein müssen (S. 131). Die Entwicklung der Erzählerin in der Zeit nach der Wand geht in eine andere Richtung. Wenn man die Entwicklung der Erzählerin als eine zu einer Utopie hin verstehen will, so ist als utopisches Ziel eine Lebensweise gemeint, in der die Erzählerin von den Menschen weggedacht hat. Es handelt sich also nicht um eine gesellschaftliche Utopie, die zu zeigen versucht, wie Menschen auf ideale Weise zusammenleben könnten, sondern um die ‘bestmögliche’ Lebensweise dieses einen Menschen, der so beschaffen ist und solche Erfahrungen in seinem Leben ‘vor’ der Wand gemacht hat, dass er sich eine solche bestmögliche Lebensweise nur ohne Mitmenschen denken kann, dass also an die positive Utopie einer durch Liebe gestalteten Welt nicht geglaubt wird (Robinson Crusoes Wunschvorstellung ist dagegen die Rückkehr in die Gesellschaft.).

Als ‘Ersatz’ für die Mitmenschen, mit denen sie sich zunehmend weniger ein Auskommen denken kann, gelten ihr die Tiere und insgesamt die Natur.

Die Übereinstimmung mit der Natur (sie glaubt, ihr neues Ich werde ... langsam von einem größeren Wir aufgesogen), die sie zeitweise wie ein mystisches Einswerden empfindet (auf der Alm, eine kleine warme Insel des Jetzt und Hier - 174 -, ist sie weit von (sich) entfernt,172), ist für sie freilich auch eine Gefährdung, nämlich die, durch das Sich-von-sich-entfernen, durch den Verlust ihrer Individualität, lebensuntüchtig zu werden. Die in dem angegebenen Textausschnitt angesprochene Gefahr, am Tier vorüber in einen Abgrund zu stürzen, die sie auch mit dem weit von mir entfernt meint, wird nicht akut.

Als Utopie erweist sich auch der Wunsch, die durch die neue Lebensweise erahnte Chance, unverstellt von angelernten Konventionen die Wirklichkeit neu zu sehen und damit der Wirklichkeit gerechter zu werden, auch zu ergreifen; der Wunsch bleibt unerfüllbar, da sie die alten Interpretationsmuster nicht aus ihrem Kopf herauskriegt: nur konnte ich es nicht sehen, weil mein Gehirn mit altem Zeug vollgestopft war und meine Augen nicht umlernen konnten. Ich hatte das Alte verloren und das Neue nicht gewonnen (108f.). Dasselbe Problem ergibt sich bei dem Wunsch, das neu Geahnte auch entsprechen neu ausdrücken,
diese Träume mit Kieselsteinen auf grünes Moos zeichnen oder mit einem Stock in den Schnee ritzen zu können.. Doch sie sieht für sich wenig Chancen, eine solche Darstellungsart zu erreichen. Vielleicht könnte es ein Genie, aber ich bin nur ein einfacher Mensch, der seine Welt verloren hat und auf dem Weg ist, eine neue Welt zu finden (193).



zu Aufgabe II
In ihrer Interpretation dreier Emanzipationsromane (u. a. auch Haushofers ‘Die Wand’) stellt Gertrud Schänzlin den Gegensatz her zwischen ‘Sich selbst leben’ und ‘Sklaventum’; sie zitiert zu diesem Zweck einen Vers Lessings: Wer/Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht/Entschließen kann, der lebet andrer Sklav’/auf immer.

Als ‘Sklaventum’ versteht sie in diesem Zusammenhang die Bindung der Frau an die sie beherrschenden Menschen und Normen, die sie als ihre selbstverständliche Pflicht ansieht. Diese Bindung geschieht durch die beengende, aber auch schützende Gewalt hierarchischer Ordnung.

Aus dieser Ordnung wird die Frau in allen drei Romanen ohne ihr Zutun herausgeworfen, so dass sie gezwungen ist, ihre bisherige Rolle aufzugeben mit den Folgen, dass sie
1. das Aufgeben der gewohnten Ordnung als schmerzlichen Verlust empfindet,
2. persönliche Defizite ihres Lebens in jener Ordnung erkennt und
3. in einem Selbstfindungsprozess ... auf dem Weg zu sich selbst ... die Chance zu einem neuen, eigenen Leben wahrnimmt.

Bei der Anwendung dieser Interpretation auf Marlen Haushofers Roman lassen sich kaum Stellen finden, in denen das Aufgeben der gewohnten Ordnung als schmerzlicher Verlust dargestellt wird. Die Erzählerin leidet zwar in der ersten Zeit unter der Einsamkeit, sie vermisst den Umgang mit den kulturellen Errungenschaften (Bücher, Musik), aber sie hat mit den Menschen, mit denen sie lebte, und der Ordnung, in die sie eingebunden war, solche Probleme gehabt, dass sie den Verlust des früheren Lebens eher als Befreiung - und dies zunehmend mehr - denn als schmerzlichen Verlust empfindet. Die persönlichen Defizite, die sich für sie durch diese Menschen und aus dieser Ordnung ergaben, waren stärker als ihre Bindung an die Vergangenheit.

Zu dieser Ordnung und deren Normen, in die die Frau sich eingebunden fühlte, gehört, dass sie sich liebevoll um ihre Familie zu kümmern hat; und wenn sie diese Liebe nicht aufbringen kann, kommt sie - von den Normen geprägt - damit nur zurecht, wenn sie ihre wirklichen Gefühle verdrängt. Da ihr der Verdrängungsprozess aber nicht ganz gelingt, leidet sie unter diesem Leben: sie fand es (das frühere Leben) in jeder Hinsicht ungenügend (48). Dieses Ungenügen an ihrem früheren Leben ist eines der Leitmotive des Romans, so heißt es S. 165f.: später (als die Kinder größer wurden) war ich nie mehr glücklich gewesen ...ich hörte auf, wirklich zu leben. Darum hat sie wenig Sympathie für die Frau, die sie früher war; früher war sie eingezwängt in eine Fülle von Pflichten und Sorgen ...eine geplagte überforderte Frau ... in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand. Deutlich wird diese Plage u. a. am Beispiel der Versklavung durch die Zeit (S. 50) oder daran, dass sich mit tödlicher Sicherheit immer jemand oder etwas gefunden hatte, das (ihre) Pläne zunichte machte (79) oder dass sie sich ständig den Erwartungen anderer stellen musste. Und sie spürte immer ein dumpfes Unbehagen und wusste, dass dies alles viel zu wenig war (66) - Gertrud Schänzlins Formulierung, dass erst nach dem zunächst schmerzlichen Verlust gewohnter Ordnungen persönliche Defizite überhaupt wahrgenommen werden, passt hier nicht. Das Fazit der Erzählerin: es wunderte mich, dass ich nicht eines Tages vor Überdruss tot umgefallen bin (181). Ich hatte nur dieses kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben. (181)

Sie sucht in dieser verzweifelten Lage Schutz in ihrer Familie (Wahrscheinlich konnte ich überhaupt nur leben, weil ich mich immer in meine Familie flüchten konnte, S.181), doch hilft ihre diese Ordnung nicht weiter: In den letzten Jahren erschien es mir allerdings oft, als wären auch meine engsten Angehörigen zum Feind übergelaufen. Den Zwang, den sie durch das Eingebundensein in ihre Rolle aushalten musste, hielt sie für so selbstverständlich, dass sie mit anderen Frauen, die in der gleichen Lage waren wie sie, erst gar nicht über ihre Probleme sprach.

So ist die Wand für sie wie eine Rettung, eine Art Geschenk, denn sie hat ja nichts zu ihrer ‘Rettung’ dazugetan; sie erhält die Chance, sich von ihrem alten Leben zu lösen und ein neues, eigenes Leben zu beginnen.
Dabei geht sie einen eigenartigen Weg, notgedrungen, weil außer ihr kein Mensch mehr zu leben scheint, aber auch ihren Erfahrungen und ihrer Person angemessen, nämlich den Weg, von den Menschen wegzudenken, wobei unter Menschen ‘Männer’ zu verstehen sind, denn die ‘Welt, in der sie lebte, war eine ‘Männerwelt’. Und so tötet sie konsequent den einzigen Mann, der noch überlebt hat und der sie mit seiner Größe und Schwere wieder abhängig gemacht hätte.

Das Ziel, auf das sie sich hinbewegt, ist ein Aufgehen in ein größeres Wir, dasWir’ der Natur, das sie besonders intensiv auf der Alm erfährt. Die Alm sorgt dafür, dass sie sich als Individualität wie ein aufgeblasenes Nichts vorkommt, die Alm ist ihr ein Land, das auf geheimnisvolle Weise mich von mir selbst erlöste (149).

Fraglich ist, ob sie durch dieses Sich-von-sich-selbst-erlösen wirklich ihr eigenes Leben gefunden hat, schließlich hat sie das ‘Wir’ der alten Ordnungen und Normen, von denen sie sich emanzipiert hat, nun eingetauscht gegen ein weiteres ‘Wir’. Und sie weiß auch, dass in dieser Erlösung für sie, die wegen der Tiere weiterleben will, eine Gefährdung liegt: Ich hatte mich so weit von mir entfernt, wie es einem Menschen möglich ist, und ich wusste, dass dieser Zustand nicht anhalten durfte, wenn ich am Leben bleiben wollte (171f.).

Ein eigenes, von den alten Vorstellungen gelöstes Leben zu führen, ist auch aus einem anderen Grund schwierig: Das Sich-Lösen von den konventionellen Vorstellungen ist nicht einfach und die Fähigkeit, die Wirklichkeit unvermittelt durch diese Vorstellungen, also ganz neu zu sehen, eigentlich unmöglich (... nur konnte ich es nicht sehen, weil mein Gehirn mit altem Zeug vollgestopft war und meine Augen nicht umlernen konnten. Ich hatte das Alte verloren und das Neue nicht gewonnen S. 108f.). Ähnlich unmöglich ist es, neu Geahntes dieser Neuheit entsprechend auszudrücken, aufzuschreiben, weil den konventionellen Wörtern immer die alten Vorstellungen anhaften (Vielleicht könnte es ein Genie, aber ich bin nur ein einfacher Mensch, der seine Welt verloren hat und auf dem Weg ist, eine neue Welt zu finden, S. 193).

So ist es fraglich, ob Marlen Haushofers Roman als Emanzipationsroman im üblichen Sinne verstanden werden kann, wenn nämlich die Frauenemanzipation das Ziel hat, in dieser Gesellschaft eine gleichberechtigte Stellung der Frau zu begründen. Die Art der Emanzipation, die in Haushofers Roman beschrieben wird, ist ganz und gar utopisch, und es fragt sich, ob diese Utopie negativ ist, da die Emanzipation außerhalb des gesellschaftlichen Raums stattfindet und die Frau auch immer gefährdet ist, das eigene Leben aufzugeben zugunsten eines Aufgehens in ein ‘Wir’, oder ob die Utopie positiv ist durch die Ehrlichkeit des Ablösungsprozesses von der alten patriarchalischen Ordnung und durch das Aufzeigen, dass eine mögliche von Frauen bestimmte Ordnung von Fürsorge und Liebe geprägt wäre.



Haushofer

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