Das Fremde als Bedrohung - Livius über Aufdeckung und Unterdrückung des Bacchus-Kultes in Rom
So wird im Klett-Katalog 2002 ein neues Unterrichtswerk angekündigt – Mit Wort- und Sacherklärungen, Arbeitsmaterialien und Arbeitsaufgaben, bearbeitet von Arno Hüttemann.
Der Klettverlag eröffnet mit diesem Werk eine neue Lektüre-Reihe für den Lateinunterricht in Sek II; er nennt sie ‚Disputanda’. Ein Lateintext (hier Livius ‚Römische Geschichte’ Buch XXXIX, Kapitel 8-19) soll für Gesprächsstoff sorgen, zur Diskussion anregen, weil er nicht nur historisch interessant, sondern aktuell ist und dem Interesse aufgeweckter Schüler entgegenkommt.
Nun ist der Titel ‚Das Fremde als Bedrohung’ in der Zeit der Diskussion über das Zuwanderungsgesetz nicht nur aktuell, er ist hochaktuell und wird es noch lange bleiben. Bedrohung durch die Dritte Welt, die die Tore Europas bestürmt. Und Europa wehrt sich mit brutaler Gewalt, wie im Jahr 186 vor Christus der römische Senat sich vor dem Einfluss des Bacchus-Kults mit „unzähligen Verhaftungen und vielen Todesurteilen“ gewehrt hat. Oder: Wie tritt man dem Islam entgegen – auch hier das Fremde als das Bedrohliche, das bekämpft werden muss? Diese Assoziationen drängen sich auf, wenn man die Ankündigung des Klettverlags liest.
Nimmt man die Lektüre selbst zur Hand, findet man einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zu der Ankündigung: Der Verlag hat falsch zitiert (wie er auch den Vornamen seines Mitarbeiters falsch druckt): Hinter ‚Das Fremde als Bedrohung’ setzte A. Hüttemann ein Fragezeichen. Und blättert man das Unterrichtswerk durch, wird deutlich, wie das Fragezeichen gemeint ist: Die Position ‚Das Fremde ist Bedrohung’ soll diskutiert, versachlicht werden mit dem Ergebnis, dass diese Position höchst fragwürdig ist.
Der Haupttext, nämlich die Bacchuskult-Episode aus der ‚Römischen Geschichte’ des Livius, hat etwas Faszinierendes, dem man leicht erliegen könnte: Glänzend wird erzählt, wie vom Konsul Postumius der Bacchuskult zur Staatsgefährdung hochstilisiert wird. Und der Konsul trägt seine Verurteilung einer fremdem Religion so überzeugend vor, dass man daran denken könnte, diesen Text als Grundlage für eine Kampagne gegen Esoterik und Sektenunwesen zu nutzen.
A. Hüttemann verfolgt eine andere Tendenz; mit Hilfe der Zweittexte sollen die Schüler den „Anstoß“ erhalten, „über das von Livius vorgetragene Beispiel des Umgangs mit dem Fremden, das Diskreditierung, Abwehr und Unterdrückung propagiert, hinauszudenken.“ Die Antwort auf die Frage des Titels soll heißen: Eine sachliche Darstellung des Fremden und eine vernünftige Analyse der Angst vor dem Fremden nimmt diesem Fremden das Bedrohliche und führt zur Anerkennung des Anderen, d. h. zur Toleranz - Chance also statt Bedrohung.
So charakterisiert z. B. ein Zweittext die Reaktion der Römer auf den Bacchuskult als „Massenpsychose, welche das fremdartige und exklusive Treiben dieser Sekte erregt hatte“, und die Reaktion der römischen Regierung als blindes Dazwischenschlagen.
Dreierlei führt dazu, dass dieses Bändchen eine ausgezeichnete Lektüre für den Lateinunterricht der Oberstufe wird: Zunächst einmal die Auswahl des Originaltextes, nämlich eine in sich abgeschlossene überschaubare Erzählung von wesentlicher Bedeutung, zweitens die variationsreiche Auswahl von Zweittexten und schließlich die ungemein klugen Arbeitsanweisungen.
A. Hüttemann hat den Oberstufenschüler von heute im Blick, nicht nur was dessen mögliches politisches Interesse angeht: An historischem Wissen setzt er nicht allzu viel voraus, sondern gibt zu jedem relevanten Thema, also zum Autor und dessen Erzähltechnik, zur römischen Verfassung, zur Religionsgeschichte u. Ä. grundlegende und ausführliche Informationen.
Es gibt eine Fülle von Aufgaben zur Texterschließung und zur Interpretation; sie eignen sich vorzüglich auch für Gruppenarbeit oder Einzelreferate. Durch diese Arbeitsaufträge wird der Schüler zur sorgfältigen Textbeschreibung, Textanalyse, kurz: zum genauen Hinsehen erzogen. Hier zeigt sich, dass ein Unterrichtswerk praxisnah, nämlich von jemandem erstellt wurde, der die Praxis kennt, der pädagogisch erfahren ist.
Freilich führt die Praxis nicht dazu, dass den Schülern etwas geschenkt würde; der Lateinunterricht, der dieses Bändchen nutzt, hat ein hohes Niveau und wird darum auch nützlich sein – vorausgesetzt, man hat die entsprechenden Schüler.
In diesem Heft des Klett-Verlags verbirgt sich ungemein viel Einsatz an intellektueller Arbeit und an Zeit. Man kann es nicht hoch genug einschätzen, wenn ein Lehrer, der normalerweise mit Alltagsarbeit genügend belastet ist, sich noch die Zeit nimmt, neue Inhalte und Denkanstöße für den Unterricht seines Fachs zu entwickeln; denn aus der Alltagsarbeit entwickelt, wird es ein Werk, das den Schüler nicht aus den Augen verliert und ihm darum Vieles gibt.
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