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Abitur 1998 Leistungskurs

Jurek Becker ‘Jakob der Lügner’

Text:
Jurek Becker ‘Jakob der Lügner’; suhrkamp taschenbuch 774 S. 246 - 257 (Auswahl mit zwei Kürzung)

Aufgabenstellung:

I. Erklären Sie mit wenigen Worten den Titel des Romans; erklären Sie also, wie es dazu gekommen ist, dass Jakob im Romantitel als Lügner bezeichnet wird!

II. Fassen Sie den angegebenen Textausschnitt kurz zusammen!

III. Erläutern Sie den Textausschnitt, indem Sie folgende Gesichtspunkte berücksichtigen:

a) Charakterisieren Sie Jakob (wie er vorher war, wie er jetzt ist)! Gehen Sie dabei auch auf die Frage ein, warum Jakob Kowalski die Wahrheit sagt!

b) Charakterisieren Sie die Beziehung zwischen Jakob und Kowalski! Hier ist es sinnvoll, über den angegebenen Textausschnitt hinauszugehen.

c) Kennzeichnen Sie die Situation des Erzählers und die Eigenart der Erzählperspektive in diesem Roman (an Beispielen des vorgelegten Ausschnitts)!


Auswahl aus Jurek Becker ‘Jakob der Lügner’; Kowalski hat Jakob aufgesucht.

Jakob spürt eine bislang unbekannte Schwäche, erschreckend plötzlich, als er vorhin vom Dachboden herunterkam, wohin er Lina begleitet hatte, musste er sich am Geländer festhalten. Er hat versucht, sich den neuen Zustand mit dem endlosen Hunger zu erklären, aber damit war nur das Zittern der Knie ergründet, kaum die Herkunft der anderen Schwäche, der ebenso quälenden, der Mutlosigkeit. Ihr forscht er nun nach, zur Decke starrend, und versucht dabei, sie sich auszureden, sie kleiner zu machen als sie tatsächlich ist, so dick und gewichtig. Der Vorfall mit Elisa Kirschbaum war sicher nur ein kleiner Baustein, er hat Jakob ohne Frage mitgenommen, aber es wäre übertrieben zu sagen, er ist das Erlebnis gewesen, das Jakob von einer Minute auf die andere den Mut nahm. Schwerer wog schon der Besuch Rosas, sich anhören zu müssen, wie Lina ihn mit Lügen verteidigt hat, mit seinen eigenen Waffen, wenn man auch diesem Besuch nicht die Hauptschuld an Jakobs schwindenden Kräften geben sollte. Es kommt von überallher ein bisschen zusammen, am meisten wohl, wenn man sich ganz einfach die Lage um einen herum ansieht. Immer öfter nimmt dich einer zur Seite und sagt dir, Jakob, Jakob, ich glaube an kein gutes Ende mehr, und wenn du den einen mit ganz frisch eingetroffenen Meldungen notdürftig getröstet hast, stehen schon sechs andere da und wollen dir dasselbe sagen. Die Russen bedrängen, laut Radio, Pry, Gott allein weiß, wen sie in Wahrheit bedrängen, oder wer sie bedrängt. Laut Radio müsste man bald das erste Geschützfeuer in der Ferne sehen, man sieht Tag für Tag das gleiche Bild, diese widerliche Trostlosigkeit. Allmählich musst du Rückzugsgefechte ins Auge fassen, denn du hast dich beim Vormarsch zu einem Tempo hinreißen lassen, das der Wirklichkeit leider nicht standhält.
Und Kowalski steht unnütz herum und wartet vergeblich auf einen einladenden Blick.
[...] Er wollte ganz einfach vorbeikommen und guten Abend sagen und ein bisschen von früher und von später reden, mit wem sonst, wenn nicht mit dem einzigen alten Freund, kommt er nicht zu dir, kommst du eben zu ihm.
»Was meinst du, Kowalski, wieviel ein Mensch aushalten kann?« fragte Jakob endlich.
Also philosophieren will er, muss Kowalski denken, er wartet auf Erläuterung der Frage, auf Präzisierung nach irgendeiner Richtung hin, aber Jakob scheint sie ganz allgemein gestellt zu haben. Er sagt: »Na, was meinst du?«
»Wenn du mich so fragst«, sagt Kowalski, »viel. Blödsinnig viel.«
,,Aber es gibt Grenzen.«
»Sicher . . . «
»Es tut mir leid«, sagt Jakob, »bei mir ist die Grenze jetzt erreicht. Vielleicht wäre ein anderer weitergekommen, ich kann nicht mehr.«
»Was kannst du nicht mehr?«
»Ich kann nicht mehr«, sagt Jakob.
Kowalski lässt ihm Zeit, er weiß nicht, dass Jakob die bedingungslose Kapitulation vorbereitet, das schlimmste aller Eingeständnisse. Er sieht nur sein knochiges Gesicht, auf die Hände gestützt, vielleicht etwas bleicher als sonst, womöglich etwas müder, aber doch das Gesicht desselben Jakob, den man kennt wie keinen zweiten. Beunruhigt ist er, weil solche Anfälle von Trübsinnigkeit bei Jakob vollkommen ungewohnt sind, mürrisch und zänkisch ist er von Zeit zu Zeit, aber das ist ein Unterschied. Wehklagend kennt man ihn nicht, wehklagen alle anderen, Jakob war so etwas Ähnliches wie ein Seelentröster. Man ist, ob bewusst oder unbewusst, nicht selten zu ihm gegangen, um sich die eigenen Schwachheiten austreiben zu lassen. Schon vor der Radiozeit, eigentlich sogar schon vor der Ghettozeit. Wenn ein besonders beschissener Tag vorüber war, wenn man von früh bis spät hinter der Schaufensterscheibe gestanden hat und vergeblich Ausschau nach Kunden gehalten, oder irgendeine Riesenrechnung ist gekommen, und es wollte einem im Traum nicht einfallen, aus welcher Tasche man sie bezahlen sollte, wohin ist man dann am Abend gegangen? In seine Diele, aber nicht, weil bei ihm der Schnaps besonders gut geschmeckt hätte. Es war derselbe wie überall, dazu noch verboten, da ohne Lizenz ausgeschenkt. Man ist hingegangen, weil die Welt nach solchem Besuch ein kleines bisschen rosiger ausgesehen hat, weil er eine Kleinigkeit überzeugender als andere »Kopf hoch« sagen konnte oder »es wird schon wieder werden« oder etwas in der Art. Vielleicht auch deswegen, weil er der einzige im dünn gesäten Bekanntenkreis war, der sich überhaupt die Mühe gegeben hat, einem so etwas zu sagen. Kowalski lässt ihm Zeit.
Da fängt Jakob zu reden an, dem Schein nach zu Kowalski, denn kein anderer ist im Zimmer, den Worten nach zu einem größeren Auditorium, also einfach vor sich hin in die Luft, mit Wehmut in der leisen Stimme und mit dieser nie gehörten Resignation, die letzte einer verschwenderischen Vielzahl von Meldungen an alle. Dass sie ihm, wenn es ihre schwachen Kräfte erlauben, nicht böse sein sollen, er hat nämlich gar kein Radio, er hat nie eins besessen. Er weiß auch nicht, wo die Russen sind, vielleicht kommen sie morgen, vielleicht kommen sie nie, sie stehen in Pry oder in Tobolin oder in Kiew oder in Poltawa oder noch viel weiter entfernt, vielleicht sind sie inzwischen sogar vernichtend geschlagen, nicht einmal das weiß er. Das einzige, was er mit Gewissheit sagen kann, sie haben vor so und so langer Zeit um Bezanika gekämpft, woher die Gewissheit, das ist eine ganze Geschichte für sich, die interessiert heute keinen Menschen mehr, jedenfalls ist es die Wahrheit. Und dass er sich wohl vorstellen kann, wie bestürzend dieses Geständnis in ihren Ohren klingen muss, darum noch einmal die Bitte um Nachsicht, er wollte nur das Beste, aber seine Pläne haben sich zerschlagen.
Dann ist es lange still im Zimmer, ein König hat gewissermaßen abgedankt. Jakob versucht vergeblich, in Kowalskis
Gesicht Bewegung zu entdecken, der sieht durch ihn hindurch und sitzt wie eine Salzsäule. Natürlich fallen Jakob, kaum ist das letzte Wort verklungen, Gewissensbisse an, nicht wegen der Mitteilung selbst, die war notgedrungen fällig und duldete keinen Aufschub. Aber ob man sie schonender hätte vortragen können, eventuell in einen Rückzug der Russen eingebettet, die ganze Last nicht mit einemmal auf andere Schultern abwälzen, die auch nicht breiter sind als die eigenen. Ob Kowalski unbedingt der richtige Mann war, in dessen Gegenwart der Schlussstrich gezogen werden musste, gerade Kowalski. Wenn er es von einem Fremden gehört hätte, von einem Jakob nicht so Nahestehenden, sicher hätte er an einen Irrtum geglaubt oder an gehässige Verleumdung, nach einer Nacht voller Zweifel hätte er dir gesagt: »Weißt du, was sich die Idioten erzählen? Dass du kein Radio hast!« - »Das stimmt«, wäre dann die Antwort gewesen, sie hätte ihn auch getroffen, aber vielleicht nicht so sehr, weil er in der Nacht zuvor diese Möglichkeit zumindest erwogen hätte. Und es wäre auch irgendwie einzurichten gewesen, genau so, Kowalskis Pech, dass er ausgerechnet an diesem Abend gekommen ist.
»Du sagst nichts?« sagt Jakob.
»Was soll ich sagen.« Aus unergründlichen Tiefen fördert Kowalski sein Lächeln, ohne dieses Lächeln wäre er nicht Kowalski, sieht Jakob auch wieder an, mit Augen zwar, die weniger lächeln als der Mund, aber dennoch nicht vom Ende aller Hoffnung künden, eher pfiffig blicken, als sähen sie, wie immer, so auch diesmal hinter die Dinge.»Was soll ich sagen, Jakob? Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich sehr gut. Weißt du, ich bin so ziemlich das Gegenteil von einem Husaren, du kennst mich lange genug. Wenn ich hier ein Radio gehabt hätte, von mir hätte wahrscheinlich kein Mensch ein Wort erfahren. Oder noch wahrscheinlicher, ich hätte es aus Angst einfach verbrannt, ich mache mir da gar nichts vor. Ein ganzes Ghetto mit Nachrichten zu beliefern! So weit wäre ich nie gegangen, weiß man, wer mithört? Wenn ich irgendwann im Leben jemand verstanden habe, dann dich jetzt.«
Solchen Flug der Gedanken konnte Jakob nicht erwarten, der durchtriebene Kowalski hat sich selbst übertroffen, hat seine Berechnungen sogar da angestellt, wo es nichts zu rechnen gab. Wie willst du ihn überzeugen, dass du wenigstens jetzt die Wahrheit sagst, du kannst ihm höchstens anbieten, alle Winkel in Stube und Keller zu durchstöbern. Doch mit nach außen gekehrten Handflächen beteuern: »Wann habe ich dich je belogen?«, das kannst du nun nicht mehr. Und wenn du ihn tatsächlich aufforderst zu suchen, alle Radios, die du bei mir findest, Kowalski, gehören dir, er wird dir wissend zublinkern und etwas Ähnliches entgegnen wie: »Lassen wir doch die Späße, Jakob, wozu kennt man sich vierzig Jahre?« Er wird dir zu verstehen geben, dass jedes Versteckspiel überflüssig ist, Unmögliches lässt sich durch nichts beweisen, Jakob sagt erschrocken: »Du glaubst mir nicht?«
»Glauben, nicht glauben, was heißt das schon«, sagt Kowalski, leise und abwesender als erwartet, in einem ähnlichen Tonfall wie Jakob eben, bei seiner kleinen Rede an alle. Weiter sagt er nichts, vorerst, er klopft mit den Fingern ein getragenes Motiv auf den Tisch und hält den Kopf weit zurückgelehnt, in verborgene Gedanken vertieft.Jakob erwägt weitere Rechtfertigungen, er legt Wert darauf, dass seine Verurteilung glimpflich ausfällt, dazu muss man seine Gründe für das Unternehmen kennen und auch die Gründe für den plötzlichen Abbruch. Aber über die ist er sich selbst noch nicht im klaren, deswegen, und weil er begreift, dass es bei all dem nicht nur um ihn geht, auch um Kowalski, schweigt er und hebt sich die Bitte um mildernde Umstände für einen späteren Zeitpunkt auf.
Dann folgt die ernüchternde Überlegung, dass es überhaupt nicht um ihn geht, kein Mensch im Ghetto ist unwichtiger als er, ohne Radio. Von Bedeutung sind nur seine Abnehmer, Kowalski neben vielen anderen. Und die pfeifen auf noch so plausibel klingende Rechtfertigungen, die haben andere Sorgen, und nicht eben kleine, die wollen zum Beispiel wissen, wie es nach Pry nun weitergeht.
Kowalski beendet Geklopfe und Gegrübel, er steht auf, legt Jakob die freundschaftliche Hand auf die Schulter. Er sagt: »Keine Angst, Alter, vor mir bist du sicher. Ich werde dich nicht mehr fragen.«
Er geht zur Tür, das Lächeln von neuem belebend, bevor er sie öffnet, dreht er sich noch einmal um, zwinkert tatsächlich, mit beiden Augen.
»Und ich bin dir nicht böse.«
Und geht.

Am nächsten Morgen, nach der schlaflosesten Nacht seit langem, ist Jakob auf dem Weg zur Arbeit. [...]
... schon von weitem sieht Jakob eine größere Menschenansammlung, an einer Straßenecke, genau vor dem Haus, in dem Kowalski wohnt. Jakobs erster Gedanke, er vermutet Kowalski mitten in dem Haufen, der beste Freund ist bestimmt auf die Straße gekommen und hat, wie es ihm angeboren ist, den Mund nicht halten können. Entweder ist er beim nächtlichen Klären doch noch zu der Überzeugung gelangt, dass man ihm die Wahrheit gesagt hat, oder, was bei Kowalski wahrscheinlicher ist, er glaubt weiterhin nicht, tut aber so nach außen hin, denn wahre Freundschaft heißt zusammenhalten. Ist aus dem Haus getreten und hat im Handumdrehen die Juden mit der Hiobsbotschaft zu Tode erschreckt, weil er unbedingt der Erste sein muss, ob in die Hölle oder ins Paradies, Kowalski immer vorneweg. Hat einem damit alle Rückzugswege abgeschnitten, die man nach langem Erwägen zwar nicht beschreiten wollte, aber was geht das Kowalski an?
Jakob bekommt Lust zurückzugehen, erzählt er, und einen kleinen Umweg zu machen, es wird auch so schon schwer genug, auf dem Bahnhof werden sie ihn noch genug foltern. Das hier soll Kowalski alleine durchstehen, das ist eine Sache, das ist eine günstige Gelegenheit, sich nicht einzumischen. Da fällt Jakob, noch in einiger Entfernung von der Gruppe, auf, dass die Leute kaum reden, dabei müssten sie aufgeregt sein nach der vermuteten Nachricht, die meisten stehen stumm und betroffen, wie sich beim Näherkommen erweist, einige schauen nach oben. Zu einem geöffneten Fenster, an dem auf den ersten Blick nichts Absonderliches ist, einfach leer und offen. Jakob weiß nicht genau, ob es sich um Kowalskis Fenster handelt oder um eins daneben. Auf den zweiten Blick sieht er doch das Besondere, ein kurzes Stück Schnur, am Fensterkreuz und gerade fingerlang, darum so spät bemerkt.
Jakob stürzt durch den Auflauf in das Haus, er versucht zwei Stufen auf einmal, aber nur die beiden ersten gelingen ihm so, zum Glück wohnt Kowalski in der ersten Etage. Die Tür steht offen wie das Fenster, es zieht also, die drei Zimmernachbarn Kowalskis, von denen wir einen willkürlich auf den Namen Abraham getauft haben, sind nicht mehr zu Hause. Nur Kowalski ist zu Hause, und zwei Wildfremde im Zimmer, die ihn als erste der Vorübergehenden hängen sahen. Sie haben ihn abgeschnitten und auf das Bett gelegt, jetzt stehen sie hilflos herum und wissen nicht, was weiter zu tun wäre. Einer von ihnen fragt Jakob: »Haben Sie ihn gekannt?«
»Was?« fragt Jakob vor dem Bett.
»Ob Sie ihn gekannt haben?«
»Ja«, sagt Jakob.
Als er sich nach einer Weile umdreht, ist er alleine, die Tür haben sie zugemacht. Jakob geht zum Fenster und sieht auf die Straße, nichts mehr von Menschenansammlung, nur noch Passanten. Er will das Fenster schließen, aber es klemmt, er muss vorher die doppelt verknotete Schnur vom Rahmen lösen. Dann zieht er den Vorhang zu, das wenige Licht macht ihm Kowalskis Gesicht erträglicher. Er rückt einen Stuhl heran, auf das Bett möchte er sich nicht setzen, er nimmt Platz für ungewisse Zeit. Ich sage ungewiss, denn über die Länge seines Aufenthalts kann er später keine Angaben machen.
Der Anblick von Toten ist Jakob alles andere als ungewohnt, nicht selten muss man über irgendeinen die Füße heben, der verhungert auf dem Gehsteig liegt und vom Räumkommando noch nicht ausgemacht wurde. Aber Kowalski ist nicht irgendeiner, gütiger Gott, das ist er nicht, Kowalski ist Kowalski. Ein Geständnis hatte seinen Tod zur Folge, dazu noch eins, das er vorgab, nicht zu glauben, warum bist du Wahnsinniger nicht gestern abend geblieben? Wir hätten alles in Ruhe beredet und uns schon das bisschen Mut zum Weiterleben verschafft. Was haben wir uns nicht schon alles verschafft, reell oder unreell, wenn es gelingt, fragt keiner hinterher nach Art und Weise, warum musstest du an deinem letzten Abend den Pokerspieler spielen? Wir hätten uns gegenseitig helfen können, aber nur du hast gewusst, wie es in uns beiden aussah, du hast dich vor deinem Freund Jakob Heym verborgen, du hast mir das falsche Gesicht gezeigt, und dabei hätten wir weiterleben können, Kowalski, an uns sollte es nicht liegen.
Von Beruf Friseur, hatte etwas Geld versteckt, wie man weiß, mit der Absicht, sich später zu verändern, wäre aber vermutlich weiterhin Friseur geblieben, war ausstaffiert mit dieser und jener fragwürdigen Eigenschaft, war misstrauisch, verschroben, ungeschickt, geschwätzig, obergescheit, wenn man alles zusammenrechnet, im nachhinein, plötzlich liebenswert, hat Jakob einmal aus einer schrecklichen Lage befreit, aus einem deutschen Klosett, legte sich aus Werbegründen den »Völkischen Landboten« zu, konnte zeitweilig sieben große Kartoffelpuffer hintereinander essen, vertrug aber kein Eis, borgte lieber als er zurückgab, wollte berechnend wirken, war es aber so gar nicht, bis auf einmal.
Wie nicht anders zu erwarten, in Jakobs Kopf überstürzen sich die Selbstvorwürfe, er hätte Kowalski auf dem Gewissen, er mit seiner kleinlichen Müdigkeit wäre schuld daran, dass Kowalski zum Strick griff, was man einmal anfängt, muss man auch durchhalten, man muss seine Kräfte vorher einschätzen. Ich habe Jakob unterbrochen, ich habe ihm an dieser Stelle gesagt: »Du redest Unsinn. Du hast deine Kräfte nicht überschätzt; denn du konntest nicht wissen, dass es so lange dauert. « Und ich habe ihm gesagt: »Nicht du bist schuld an Kowalskis Tod, sondern er hatte es dir zu verdanken, dass er bis zu diesem Tag gelebt hat.« - »Ja, ja«, hat mir Jakob geantwortet, »aber das hilft alles nichts.«
Schließlich steht Jakob auf. Er zieht den Vorhang wieder zur Seite, lässt auch, als er geht, die Tür weit offen, damit einer der Nachbarn, wenn er von der Arbeit kommt, den Vorfall bemerkt und das Nötige in die Wege leitet. Für den Bahnhof ist es längst zu spät, man kann dem Posten am Tor schlecht sagen, man wäre unterwegs aufgehalten worden, das Mittagessen fällt unabänderlich aus. Jakob geht nach Hause, mit der einzigen Hoffnung, dass Kowalski seine Gründe für sich behalten hat, dass er ausnahmsweise einmal verschwiegen gewesen ist. Denn Jakob hat wieder sein Radio gefunden.

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Erwartungshorizont

Die Schüler/Schülerinnen haben sich Beckers ‘Jakob der Lügner’ - wohl angeregt durch die Nachrichten vom Tod Jurek Beckers - als letzte größere Lektüre dieses Leistungskurses gewünscht. Da der Roman - auch in Einzelheiten - bei der Abiturklausur noch gut in Erinnerung sein müsste, ist eine Überschreitung der Länge bei der Auswahl zu rechtfertigen, zumal es sich um einen Erzähltext handelt.

Die erste Aufgabe soll den Hintergrund des vorgelegten Textes erklären: Jakob Heym gibt den Menschen im Ghetto durch Nachrichten eines fiktiven Radios Hoffnung; auch soll kurz dargestellt werden, wieso er darauf kommt, den Menschen vorzumachen, er habe ein Radio:
Jakob hört im Sitz der deutschen Verwaltung, aus der normalerweise kein Ghettobewohner lebend herauskommt, zufällig aus einem Radio, dass die Russen kurz vor Bezanika stehen. Von einem gutgelaunten Wachhabenden wird Jakob unbehelligt nach Hause geschickt. Als Jakob einen Freund vor einer Verzweiflungstat, bei der dieser sein Leben aufs Spiel setzt, bewahren will und ihm diese lebenserhaltende Nachricht weitergibt, glaubt dieser Freund ihm erst, als Jakob behauptet, er habe ein Radio. Denn dass er die Nachricht aus der Verwaltung hat, ist unglaubwürdig, da angesichts der Unmenschlichkeit der Deutschen höchstens ein Spitzel das Verwaltungsgebäude lebend verlassen könne. Da der auf diese Weise gerettete Freund Jakobs Nachricht weitererzählt, muss Jakob, der erkennt, was den Menschen diese Nachricht bedeutet, immer Neues erfinden und so tun, als habe er es aus dem Radio gehört.

Bei der Zusammenfassung erwarte ich folgende Hinweise:
Kowalski besucht Jakob und findet ihn ... in schlechter Verfassung. Jakob spürt eine bislang unbekannte Schwäche; die Ursachen sind Hunger und Mutlosigkeit. Gründe der Mutlosigkeit: Man hat Elisa Kirschbaum abgeholt. Schwerer wog schon der Besuch Rosas, die voller Verzweiflung, weil ihre Eltern ins Vernichtungslager abtransportiert wurden, nicht mehr an die guten Nachrichten Jakobs glaubt, und wie Rosa glauben viele andere an kein gutes Ende mehr. Denn statt des Geschützfeuers der Russen sieht man nur diese widerliche Trostlosigkeit. Und Jakob vermutet, dass er die Russen zu weit hat kommen lassen.
Jakob erinnert sich, wie Kowalski sich früher einmal um ihn gekümmert hat, als er krank war. Als Kowalski versichert, dass er nicht gekommen sei, um weitere positive Nachrichten von Jakob zu hören, dass er nur noch mit dem einzigen alten Freund plaudern wolle, bekennt Jakob, er sei am Ende seiner Kraft.Kowalski ahnt nicht, dass Jakob die bedingungslose Kapitulation vorbereitet, aber er ist beunruhigt, weil Jakob nie so mutlos war, sondern immer ein Seelentröster (Jakob konnte eine Kleinigkeit überzeugender als andere „Kopf hoch“ sagen.). Nun aber gesteht Jakob, dass er nie ein Radio hatte, dass er auch nicht wisse, wo die Russen sind. Bei diesem Geständnis hat er Gewissensbisse, ob er es nicht hätte schonender sagen müssen oder ob Kowalski der richtige Mann war für eine solche Mitteilung. Kowalski glaubt ihm nicht oder tut so, als glaube er ihm nicht: Jakob verleugne aus Angst das Radio. Jakob denkt daran, was er mit seinem Bekenntnis Kowalski und allen anderen im Ghetto antut. Als Kowalski geht, sagt er Jakob, er sei ihm
nicht böse.
Am nächsten Morgen sieht Jakob auf dem Weg zur Arbeit eine Menschenansammlung vor Kowalskis Haus; er vermutet zunächst, Kowalski habe erzählt, dass Jakob kein Radio hat, weil er Jakob nun wirklich geglaubt hat oder weil er ihm bei dessen Rückzug von den Lügen helfen will. Aber Kowalski hat sich erhängt. Fremde haben ihn abgeschnitten, aufs Bett gelegt und lassen Jakob mit Kowalski allein. Am Bett des Toten versucht Jakob sich zu rechtfertigen, indem er Kowalski vorwirft, dass dieser vorgab, Jakobs Geständnis nicht zu glauben. Jakob hätte ihm geholfen, wenn Kowalski deutlich gemacht hätte, dass er wirklich geglaubt habe, Jakob sei ohne Radio.
Der ausgewählte Abschnitt endet mit einem Nachruf auf Kowalski, mit Selbstvorwürfen Jakobs, einem Trost durch den Erzähler (Nicht du bist schuld an Kowalskis Tod, sondern er hatte es dir zu verdanken, dass er bis zu diesem Tag gelebt hat) und dem Entschluss Jakobs, weiterhin über sein fiktives Radio Hoffnung zu verbreiten.

Bei der Aufgabe III a) könnten die Schüler/Schülerinnen ausgehen von der Bemerkung, Jakob sei immer schon ein Seelentröster gewesen, ein Mensch, der überzeugender als andere „Kopf hoch“ sagen konnte, der einzige ... der sich überhaupt die Mühe gegeben hat, einem so etwas zu sagen. In dieser Veranlagung seines Charakters ist der Grund dafür zu sehen, dass Jakob trotz aller Schwierigkeiten (Gefahr, mit dem Tod bestraft zu werden - Belästigung durch die Ghettobewohner - Problem, Lügen zu erfinden) dabei bleibt, mit Erfindungen von guten Nachrichten den Leidensgefährten Hoffnung zu geben. Auch dass er sich Linas angenommen hat, als deren Eltern abtransportiert wurden, weist auf diese besondere Menschlichkeit Jakobs hin.
Nun hat ihn nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schwäche so erfasst, dass er nicht mehr weiter anderen Trost geben kann und selber keinen hat; er hat völlig resigniert, vor allem, weil die Fakten gegen seine Erfindungen zu sprechen scheinen und weil viele zu ihm kommen und an kein gutes Ende mehr glauben.
Jakob kann den Widerspruch zwischen der Illusion, die er für die anderen schafft, und der Wirklichkeit, die er erfährt, nicht mehr ertragen: Laut Radio müsste man bald das erste Geschützfeuer in der Ferne sehen, man sieht Tag für Tag das gleiche Bild, diese widerliche Trostlosigkeit. (247)

Da - wie erwähnt, der Roman erst Ende Januar/Anfang Februar 98 gelesen wurde, darf ich genauere Kenntnisse des gesamten Romans erwarten, zumal die Beziehung der beiden Freunde immer wieder intensiv thematisiert wird.
Sie ist als eine Art Hassliebe zu charakterisieren, wobei man sagen kann, dass die Zuneigung stärker ist als die Abneigung. Zwar geht Kowalski mit seinem Verschroben-, Ungeschickt-, Geschwätzig- und Obergescheitsein Jakob auf die Nerven; ein Beispiel ist die Art, wie Kowalski mit dem Vertrag ‘Haare schneiden/freie Beköstigung in Jakobs Laden’ Jakob hereinlegen will, und die Art, wie Kowalski mit seinen Fragen Jakob quält. Er hat Jakob nur als Vehikel seiner Neugier benutzt ohne Erbarmen (89). Doch ist Kowalski auch ein treuer Freund, der als einziger bei Jakob Krankenbesuche macht, der unter Lebensgefahr Jakobs Leben rettet, wenn auch bei dieser Aktion möglicherweise etwas von dem Obergescheitsein dabeiwar: Mit dem Tod Jakobs wäre auch die Nachrichtenquelle versiegt. Mit Sicherheit kann man sagen, dass in dieser Beziehung Kowalski etwas mehr an sich als an seinen Freund denkt, während Jakobs Freundschaft zu Kowalski - bei aller Reserviertheit gegenüber dem Freund - ohne Nebengedanken ist; auch er tritt für seinen Freund ein, wenn dieser in Not ist, so als er wider besseren Wissens schwört, Kowalski habe seine Schulden bezahlt. Interessant, aber nicht unbedingt zu erwarten wäre eine Diskussion über die Frage, warum Kowalski so schnell das Zimmer Jakobs verlässt und Jakob in dem Glauben lässt, er habe noch Hoffnung. Ist er so verzweifelt, dass er nicht mehr mit Jakob reden kann? Will er vermeiden, Jakob Vorwürfe zu machen und bleibt lieber mit seiner Verzweiflung allein (spricht für die Freundschaft)? Oder ist ihm ein Vorwurf zu machen, dass er diese Freundschaft nicht für belastbar genug hält, dass er nicht glaubt, sie würde die neue Verzweiflung aushalten? Einen solchen Vorwurf macht ihm ja Jakob.

Die Kennzeichnung der Situation des Erzählers und der Eigenart der Erzählperspektive ist für diesen Roman besonders interessant. Hingewiesen werden muss darauf, dass der Erzähler nicht allwissend ist, sondern nur das weiß, was er von Jakob und Micha erzählt bekommt und was er sich ausdenken kann, weil er das Leben im Ghetto kennt. S. 255 weist der Erzähler darauf hin, dass Jakob ihm das, was er wiedergibt, erzählt hat; weitere Hinweise dieser Art im angegebenen Text: ... über die Länge seines Aufenthalts am Bett des toten Kowalski kann er (Jakob) später keine Angaben machen - Ich (der Erzähler) habe Jakob unterbrochen. Mit dieser Einschränkung, dass sich der Erzähler manches berichten lassen muss, bestimmt streckenweise auktorialer Erzählstil das Erzählen: ein (relativ) distanzierter Erzähler berichtet über Handlungen und Gedanken seiner Personen (eine Art ‘Außenperspektive’); Beispiel: Also philosophieren will er, muss Kowalski denken, er wartet auf die Erläuterung der Frage ... er weiß nicht, dass Jakob die bedingungslose Kapitulation vorbereitet (249f.) Zu diesem auktorialen Erzählstil gehört auch die szenische Darstellung, also der Dialog zwischen Jakob und Kowalski.
Die Erzählhaltung kennt auch Perspektivenwechsel (den Begriff ‘multiperspektivische Montage’ haben die Schüler/Schülerinnen durch einen Aufsatz von J. Vogt - Texte, Themen und Strukturen 107 - kennengelernt), meist in der Form der ‘personalen Erzählsituation’ (Stanzel Texte, Themen und Strukturen S. 106 ... er (der Leser) betrachtet die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt.). Der Erzähler geht in der Rolle der dargestellten Person auf, verbirgt sich hinter dieser Rolle, führt nicht mehr durch die Geschichte, sondern gibt, ohne dass er sich einschaltet (z. B. durch Anführungszeichen oder durch Redeeinleitungen: muss Kowalski denken), unmittelbar/unvermittelt die Gedanken der Person wieder: kommt er nicht zu dir, kommst du eben zu ihm; so auch bei den Gedanken, die Jakob am Totenbett Kowalskis hat oder die Überlegungen, ob Kowalski der richtige Mann war.



Klausur 12: Kowalskis Selbstmord / Klassenarbeit: Ermordung Herschels

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