Goethes ‚Hauptgeschäft’ Mit ‚Faust I’ kommt eine der größten deutschen Dichtungen nach Bergisch Gladbach
Keine Sorge, dass sich das Publikum langweilt. ‚Faust I’ ist Theater voller Saft und Kraft. In einer Fülle bühnenwirksamer Szenen wird Menschliches, allzu Menschliches auf köstlichste Weise satirisch aufs Korn genommen. Auf der Bühne agieren Gestalten wie aus dem Leben. Menschlich sind sogar der liebe Gott und der Teufel, die über den Lebensweg Fausts eine Wette abschließen; gütig der eine, geistreich-witzig der andere. Und es gibt die wunderschön herzergreifende Rolle des Gretchen, deren Leben nun wirklich eine Tragödie ist; sie spricht die anrührendsten Verse dieses Stücks, dessen Sprache in jedem Vers ein Genuss ist.
Und damit des Theaterdirektors Prinzip: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. erfüllt wird, gibt es neben Spaß und Liebestragödie durch den Charakter der Hauptgestalt, des Heinrich Faust, auch den philosophischen Tiefsinn. Denn der ist ein Mensch, der seine Grenzen sprengen, neue Wege begehen, sich neue Welten erschließen will. Er ist der Suchende und damit auch Irrende, er ist der Scheiternde und Verzweifelnde, der über seinen Weg Ungewisse, der Ruhelose, der Zerrissene. Und so ist er der Inbegriff des Menschlichen, wie es 600 Jahre früher auch im ‚Parzival’ Wolframs von Eschenbach aufgezeigt ist: Parzival, der von Gott Erwählte, ist durch Zweifel und Verzweiflung geprägt und muss in die Irre gehen, bevor er erlöst werden kann.
Diesem Menschentyp, dem Ausnahmemenschen, stellt Goethe einen anderen Typus gegenüber: den, der durch seinen Glauben, von Gott erwählt zu sein, dazu verführt wird, in schlichter Weise die Welt in Gut und Böse einzuteilen, der nicht die geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidungen hat und nicht verstehen kann, wie man verzweifelt um Entscheidungen ringt. Diese Selbstgerechtigkeit, diese Selbstzufriedenheit („Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht“) verkörpert auf der Bühne der „trockne Schleicher“ Wagner, Assistent des Gelehrten Faust. Wagner ist freilich zu intelligent, um nicht auch an Minderwertigkeitskomplexen zu kränkeln. Er weiß, dass er das Leben nur aus Büchern kennt, und will doch ständig mitreden.
Der selbstgerechte Anspruch, zu wissen, wie Gut und Böse verteilt sind, zerstört Leben. Lieschen, eine Nachbarin Gretchens, weiß genau, was sich gehört und ächtet alle, die nicht in ihr Konzept passen, z. B. eine ledige Mutter; und Gretchen, die ihre große Liebe gesucht und gefunden, dabei auch Fehler begangen hat, wird wegen der Verdammung durch die Gesellschaft, für die Lieschen steht, zur Kindmörderin.
Gott – jedenfalls wie Goethe im ‚Faust’ ihn sieht – ist da wesentlich großzügiger, geduldiger, toleranter. Geduldig ist er mit den Irrungen des Faust: „Wer immer strebend sich bemüht,/Den können wir erlösen.“ Geduldig ist er mit Gretchen; sein letztes Wort zu deren Tragödie: Sie „ist gerettet“.
Selbstgerechtigkeit und Selbstzufriedenheit auch bei den Bürgern, denen Faust auf seinem Osterspaziergang begegnet. Mit Inbrunst kritisieren sie die Politiker, kommen aber nicht aus ihrer Bequemlichkeit heraus und tun selbst nichts, die Verhältnisse zu beeinflussen. Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus, Und segnet Fried und Friedenszeiten.
Dass diese Selbstgerechten - ihnen selbst nicht bewusst – im Grunde unzufrieden sind, sich langweilen und aggressiv werden, zeigt Goethe an den Herren in Auerbachs Keller. Mephisto, der versprochen hat, Faust von seiner Verzweiflung zu heilen, und dafür nach Fausts Tod dessen Seele haben will, entführt Faust in die Ballermann-Atmosphäre von Auerbachs Keller in Leipzig. Die Saufkumpane dort langweilen sich und schieben sich gegenseitig die Schuld an dieser Langeweile zu: Das liegt an dir, du bringst ja nichts herbei, Nicht eine Dummheit, keine Sauerei.
Aber Mephisto, das muss er bald einsehen, hat sich gründlich geirrt, wenn er glaubt, hier könne Faust sich wohlfühlen. Nach solchen Freuden sehnt sich Faust nicht; er ist anders als die Menge. Zunächst lernt der Zuschauer ihn kennen als den Menschen, der tiefgründig nach den letzten Wahrheiten sucht, der alles wissen will, der erkennen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, als Naturwissenschaftler und Philosoph, eine Art Einstein und Hegel in einem, der sich sogar nicht zu schade ist, bei der Esoterik Hilfe zu suchen. Verzweifelt darüber, dass er die letzten Wahrheiten nicht finden kann, will er fort von der Theorie und will das wirkliche Leben erfahren. Dieses begegnet ihm schließlich in der Liebe; der aber ist er nicht gewachsen. Er verlässt das Mädchen, das von ihm ein Kind erwartet, und kann ihr nicht beistehen, als sie – aus Verzweiflung über ihre Situation geistig verwirrt – wegen des Mords an ihrem Kind hingerichtet wird. So scheitert er als Liebender wie als Wahrheitssuchender. Aber mag er auch von Irrtum zu Irrtum fortschreiten, durch die Unstillbarkeit seines Strebens nach Höherem wird er Erlösung erfahren – dies die Weisheit Goethes.
Aufführung des Landestheaters Detmold, 10. April 2003
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