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Protokoll einer Unterrichtsreihe, die ich in meinem ersten Referendarjahr in Remscheid-Lennep vom 10.09.1968 – 19.09.1968 durchgeführt habe. Die Protokolle wurden von den Schülern geschrieben und von mir korrigiert.

Brecht ‘Leben des Galilei’ (edition suhrkamp 8. Auflage)

2. Stunde
Konsequenzen, die das kopernikanische Weltbild für die Theologie hat
Nach einer Darstellung des Kopernikanischen Weltbildes wurde erörtert, welche Beweise Galilei in Brechts Schauspiel gegen das das Ptolemäische System vorbringt. Gegen die Lehre, dass a 1 1 e s sich um die Erde dreht, stellt Galilei das Faktum, dass Monde sich um den Jupiter drehen (32; 35). Diese Monde sind ihm auch ein Beweis gegen die Ptolemäische Auffassung, dass die Gestirne fest an die Kristallschalen geheftet seien (31f.; 44f.; 47). Die Lehre von diesen Schalen entkräften zudem die Kometen, die, wenn Ptolemäus recht hätte, alle Kugelschalen der Sphären (59) durchbrechen würden. Diese Kometen und neue Sterne (59) sind darüber hinaus ein Beweis gegen die Unveränderlichkeit des Himmels. Gegen den klaren Unterschied zwischen Himmel und Erde, wie ihn Ptolemäus lehrt, sprechen 1. die Phasen der Venus (56; die Planeten leuchten nicht selbst, sind also der Erde gleich), 2. das Leuchten der Erde (28; die Erde ist ein Stern wie andere Sterne; Stellarisierung der Erde) und 3. die Mondberge (28; was bisher glatt polierte Sterne zu sein schienen, ist wie die Erde gestaltet).
An diese Darstellung der Beweise gegen das Ptolemäische System schloss sich die Frage, welches Interesse die Kirche daran hatte, an dem Ptolemäischen System so starr festzuhalten.
Dieses System hatte für die Theologie folgende Vorteile:
1. Es macht die mythische Vorstellung wahrscheinlich, dass Gott oben im Himmel wohnt (diese mythische Vorstellung ist naiv und wird von den Theologen, für die Gott Geist ist, nicht geteilt.).
2. Es bestätigt die theologische Vorstellung vom Unterschied zwischen Himmel und Erde, d.h. zwischen dem Bereich des Vergänglichen und des Unvergänglichen. Beim Kopernikanischen Weltbild dagegen ist kein Unterschied mehr zwischen Oben und Unten, zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen. Dass wir vergehen, das wissen wir. Dass auch der Himmel vergeht, das sagen sie uns jetzt. (60f.)
3. Es bestätigt die Lehre von der Ordnung und Schönheit der Schöpfung (Das Weltbild des göttlichen Aristoteles ... ist ein Gebäude von solcher Ordnung und Schönheit, dass wir wohl zögern sollten, diese Harmonie zu stören. 46).
4. Es bestätigt die Lehre vom Menschen als dem Ebenbild Gottes, als dem Mittelpunkt der Schöpfung; es wird verständlich, dass Christus auf diese Welt kam (61f.).
5. Es steht in Übereinstimmung mit dem Weltbild der Bibel (66; 68f.; 98; 100).

Wenn Galilei nur wenige Steine aus diesem System herausbricht, fällt das ganze System zusammen. Die Theologen können nicht mehr dem Volk, das auf eine bildliche (mythische) Vorstellung von theologischen Aussagen angewiesen ist, vormachen, dass es einen Himmel gibt, wo Gott wohnt. Gott ist in keinem Raum zu suchen; wenn er ist, so ist er nur in uns (33). Die Autorität der Kirche wird zugleich mit der Autorität Gottes untergraben, wenn der Bibel astronomische Fehler nachzuweisen sind (Er will in aller Unschuld Gott die dicksten Schnitzer in der Astronomie nachweisen! 68). Die Vertreter der Kirche meinen auch, dass der Mensch an Bedeutung verliere, auch vor sich selbst, wenn die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls irgendwohin an den Rand (61) versetzt wird; der Mensch könne das nicht wollen: Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit irgendwo kreist. Ich gehe auf einer festen Erde, in sicherem Schritt, sie ruht, sie ist der Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir und auf mir allein. (62)
Als nächstes interessierten die Fragen, wie sich der historische Galilei zum katholischen Glauben verhalten habe, ob Brecht in wesentlichen Dingen historisch genau war oder ob er die Geschichte verfälscht hat und was ein Dramatiker, wenn er ein Drama über eine historische Persönlichkeit schreibt, ändern darf, ohne dass man ihm Geschichtsfälschung vorzuwerfen braucht.

3. und 4. Stunde
Vergleich mit dem historischen Galilei - Problematik, die sich dadurch ergibt, dass Brecht eine historische Gestalt zum Helden seines Schauspiels macht
Wenn Brecht sein Schauspiel ‘Leben des Galilei’ nennt, so erwartet man zunächst eine dramatisierte Biographie. Vergleicht man aber das Schauspiel mit einer Biographie Galileis, so fällt eine Reihe von Unterschieden ins Auge. Brecht zeichnet z. B. Papst Urban als einen aufgeschlossenen Menschen, dem es widerstrebt, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Galileis zu unterdrücken, der auch Galilei grundsätzlich wohlgesonnen und nur auf Drängen der Inquisition bereit ist, ihn verurteilen zu lassen, dabei aber verbietet, Galilei tatsächlich zu foltern. Der historische Urban scheint dagegen eine für Galilei gefährliche Persönlichkeit gewesen zu sein: Durchdrungen von der Überzeugung, in allen Dingen der Erste und Klügste zu sein (Gerhard Szczesny ‚Brecht, Leben des Galilei; Dichtung und Wirklichkeit’, Frankfurt 1966, S. 31, Ullstein-Buch 3905), war er geschmeichelt, solange Galilei ihm zu Diensten stand, aber empört und rachsüchtig, als die Inquisition ihm einreden konnte, in Simplicio, dem ‘Einfältigen’ aus den ‘Dialogen über die beiden Weltsysteme’, habe Galilei den Papst verspotten wollen. Bedenkt man dazu noch, dass der historische Galilei schwer krank war, als er vor dem Inquisitionsgericht stand, und dass er als treuer Sohn der katholischen Kirche nur unter Gewissensqualen dieser Kirche ungehorsam war, so wird sein Widerruf entschuldbar, vor allem entschuldbar auch deshalb, weil Galilei noch nach seiner Verurteilung sich für die Verbreitung seiner Schriften einsetzte - auch hier weicht Brecht von der historischen Wahrheit ab.
Brecht verfälscht also den Charakter Galileis, und zwar mit jeder Fassung seines Stücks entschiedener.
Weit unsympathischer als der historische Galilei wirkt der Galilei Brechts auch durch sein Verhältnis zur Tochter, auf deren Glück er nach Frau Sartis Worten mit seinen großen Füßen herumtrampelt (90). Der historische Galilei hatte drei uneheliche Kinder, zwei Töchter, die im Kloster lebten, und einen Sohn; und er hat seine Töchter, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, sehr geliebt.
Eigenwillig verringert Brecht auch den Anteil, der Galilei bei der Erfindung des Fernrohrs zukommt. Man darf dem historischen Galilei glauben, wenn er schreibt (‘Der Sternbote’), dass er von dem Fernrohr der holländischen Brillenmacher nur ein Gerücht gehört, dass er dann das Rohr selbständig konstruiert und wesentlich verbessert habe. Nach Ludovico hat Galilei nur die Farbe des Futterals geändert (25); Galileis Bemerkung, er habe ein doppelt so gutes konstruiert (31), fällt dagegen nicht ins Gewicht.
Neben solchen wesentlichen, den Charakter Galileis verfälschenden Änderungen gibt es eine Reihe von Umstellungen in der Chronologie: so wird die Pest des Jahres 1630 vorverlegt in die Zeit zwischen 1610 und 1616. Entgegen der Darstellung Brechts ist der Großherzog von Florenz ,Cosimo II., zur Zeit des Prozesses gegen Galilei schon tot (gestorben 1621), ebenso Sagredo. Die Bestätigung von Galileis Entdeckungen durch Clavius geschieht 1620; bei Brecht 1616. So kann auch Brecht die durch diese Bestätigung begründete gelöste, heitere Stimmung Galileis und das Verbot der Inquisition vom 26. Februar 1616, das Kopernikanische Weltsystem zu lehren, in zwei hintereinanderliegenden Szenen zusammenfassen. Über die Sonnenflecken, mit denen sich Galilei nach Brecht erst 1624 befasst, hat der historische Galilei schon 1613 eine Schrift verfasst.
Der Grund dieser Änderungen in der Chronologie ist leicht einzusehen: Sie dienen der Harmonie im Aufbau des Dramas. Die biographischen Gegebenheiten werden nicht chronologisch, sondern so dargestellt, dass die einzelnen Teile im Ganzen des Dramas in einer harmonischen Ordnung stehen, dass das Ganze im rechten Gleichgewicht gehalten wird und ein guter Spannungsbogen entsteht. Das Auftreten einer neuen Gestalt (des Nachfolgers von Cosimo) würde z. B. das Gewicht ungleich verlagern. Der letzte Teil des Dramas würde ebenfalls allzu gewichtig und die 13. und 14. Szene kämen nicht genügend zur Geltung, wenn auch noch die Pest, wie es historisch richtig ist, in die Zeit kurz vor dem Prozess gelegt würde; in der 5. Szene bringt sie einen ersten dramatischen Höhepunkt. Dass die Freude über die Bestätigung der Forschungen Galileis und das Verbot, die neuen Erkenntnisse zu lehren, in der 6. und 7. Szene zusammengefasst werden, ist von äußerster dramatischer Wirksamkeit. Wenn Brecht die für das Kopernikanische System wichtigen Untersuchungen über die Sonnenflecken in die Zeit des Amtsantritts von Urban verlegt, so deshalb, weil er für diese Szene noch einmal eine wissenschaftlich gewichtige Entdeckung braucht. Dass die wesentlichen Entdeckungen am Himmel sofort nach der Erfindung des Fernrohrs geschahen, ist für den Dramatiker ein recht ungünstiges Faktum.
Dass der Dichter des Dramas die historischen Fakten aufgrund solcher dramaturgischen Gesichtspunkte ordnet, mag berechtigt, ja sogar notwendig sein, wenn er ein bühnenwirksames Drama über eine historische Gestalt schreiben will. Problematisch aber sind die w e s e n t 1 i c h e n Änderungen, etwa die Verfälschung von Galileis Charakter. Ob der Dichter sich einer Geschichtsfälschung schuldig machen darf, ob er, wenn er schon sein Stück ,Leben des Galilei’ nennt, sich nicht auch in den wesentlichen Dingen an die historische Wahrheit zu halten hat, diese Frage ist auch dann nicht eindeutig zu beantworten, wenn man überlegt, warum er so vorgegangen ist.
Offensichtlich geht es Brecht nicht darum, Vergangenheit auf die Bühne zu bringen und diese noch zu verfälschen, sondern es geht ihm um die Gegenwart: Die Entdeckung der Kernspaltung und die Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis brachten ihn dazu, das Verhalten der Wissenschaftler seiner Zeit zu kritisieren: dass sie ihr Wissen unbedenklich den Machthabern ausgeliefert haben. Um diese Wissenschaftler zu kritisieren, um sie aufzufordern, sich verantwortungsbewusster zu verhalten, schreibt er den ,Galilei’, stempelt er Galilei zum Verbrecher, ohne sich darum zu kümmern, ob ein solcher Vorwurf den historischen Galilei zu Recht trifft.Die Frage, warum Brecht nicht einen zeitgenössischen Wissenschaftler auf die Bühne brachte, beispielsweise einen Fall Oppenheimer, führt zur Eigenart der Dramaturgie Brechts: Durch die Historisierung einer gegenwärtigen Situation will er erreichen, dass der Zuschauer Distanz zu dem Geschehen auf der Bühne bekommt und so die Gelegenheit hat, das Problem zu überdenken. Stünde ein Wissenschaftler der Gegenwart auf der Bühne, so würde er dem Zuschauer näherstehen, und der Zuschauer würde sich eher mit dem Helden identifizieren, er würde mit ihm leiden und mit ihm fürchten, und es bestünde die Gefahr, dass er, weil er zu sehr den Vorgängen auf der Bühne verhaftet sei, den Gang der Ereignisse nicht ganz durchschaue, nicht erkenne, wo man es hätte besser machen können. So wird das gegenwärtige Problem dadurch, dass Brecht es in die Geschichte zurückprojiziert (darum die geschichtlichen Angaben zum Eingang jeder Szene), dem Zuschauer entfremdet, und durch diese Verfremdung wird der Zuschauer zur Überlegung, zur Kritik geführt. Damit der Zuschauer nicht ergriffen und somit kritiklos das Theater verlässt, hat Brecht auch noch die 15. Szene angehängt, die ebenfalls dazu dient, den Zuschauer zur Distanz zu zwingen. Eine ähnliche Funktion haben die Lieder der Sängerknaben zum Eingang jeder Szene.
Nun wird auch deutlich, warum Brecht Galilei zum Verbrecher stempeln musste: denn wäre Brecht dem historischen Galilei gerecht geworden, so hätte er einen Mann geschildert, der ein Opfer der Umstände wurde. Ein solcher Mensch aber wäre vom Zuschauer bemitleidet worden, eben wegen dieser Umstände, nicht aber wäre er zum Anlass geworden, sich kritisch mit sich selbst und seiner Zeit auseinanderzusetzen.

5. und 6. Stunde
Kennzeichnung des neuen Lebensstils, wie er sich durch die Befreiung aus der alten Ordnung ergibt - Der Mensch und die Vernunft - Das Einstehen für die Wahrheit - Die gesellschaftlichen Umwälzungen und ihre Beurteilung
Thema dieser Stunden waren die neue Zeit und die neue Haltung der Menschen, die diese Zeit herbeiführen, indem sie sich aus der alten Ordnung lösen. Diese alte Ordnung war bestimmt durch den Glauben an Autoritäten, deren Aussagen als absolut verbindlich galten. So hatte z. B. der Satz ,Aristoteles hat es gesagt’ volle Beweiskraft. Die neue Zeit nun stellt an den Anfang jeden wissenschaftlichen Fragens den Zweifel, Zweifel nicht als ein Schwankendwerden in zuvor Geglaubtem, sondern als ein prinzipielles In-Frage-Stellen jeder unbewiesenen Behauptung (93); sich zunächst jeden Urteils zu enthalten, wird zur wissenschaftlichen Methode (Ich bin natürlich sehr misstrauisch gegen jede vorschnelle Folgerung; 25).
Der Glaube konnte sich auf die Autorität berufen, der Zweifelnde hat nichts, worauf er sich berufen könnte, außer der Vernunft. Vernunft ist nach den Worten Galileis das im Menschen, was Gründe und Beweise gelten lässt (34f.), was nur urteilt, wenn etwas zureichend begründet und bewiesen ist, und zwar - und das ist das Besondere - durch Fakten bewiesen. So ist nicht mehr ein Mensch die letzte Autorität oder seine Meinung, sondern die Autorität wird ,von Meinungen auf Fakten übertragen (‚Leben des Galilei’ 1. Fassung 13. Szene). Die herkömmliche Meinung behauptet z. B., dass es die Jupitertrabanten nicht geben kann; sie würden die Harmonie des Alls stören – so behaupten die Autoritäten. Da Galilei grundsätzlich solche Spekulationen in Frage stellt und die Fakten ihm die einzige Autorität sind, hat er den Blick frei für die Sachen selbst; und so bekommen für ihn die Tatsachen in der Beweisführung eine Vorrangstellung vor spekulativen philosophischen oder theologischen Überlegungen, während die Autoritäten zum Teil bewusst die Tatsachen übersehen, damit sie ja nur ihre Vorurteile sich bewahren können. Bei dieser Auseinandersetzung Galileis mit den Autoritäten trifft Brecht recht genau die historische Wahrheit; so schreibt Galilei am 19. Aug. 1610 an Kepler: ...Was sagst Du zu den ersten Philosophen der hiesigen Fakultät, denen ich tausendmal aus freien Stücken meine Arbeit zu zeigen anbot und die mit der trägen Hartnäckigkeit einer vollgefressenen Schlange niemals weder Planeten noch Mond noch Fernrohr sehen wollten! ... man müsse die Wahrheit nicht im Weltraume suchen, sondern (ich gebrauche ihre eigenen Worte) in der ,Vergleichung der Texte, d.h. bei den Meinungen der Autoritäten. Doch der Gegensatz zwischen einer an ihren Dogmen starr festhaltenden Autorität und dem vorurteilsfreien, sich auf die Tatsachen berufenden Denken ist nicht ein vergangenes Problem, sondern geht auch die heutige Gesellschaft an - nur darum stellt Brecht dieses Problem dar.
Glaube oder Wunschdenken Brechts ist auch die Überzeugung Galileis, dass diese seine Denkungsart sich durchsetzen werde (Ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen; 34), denn die Vernunft sei das Wesentliche des Menschen: Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft! (34) Doch Skeptiker wie Sagredo und Bellarmin halten ihm entgegen: Die Vernunft reicht nicht sehr weit. (68) Sie meinen, dass die Emotionen den Menschen mehr bestimmen als die Vernunft: Zeige ihnen einen roten Kometenschweif, jage ihnen eine dumpfe Angst ein, und sie werden aus ihren Häusern laufen und sich die Beine brechen. Aber sage ihnen einen vernünftigen Satz und beweise ihn mit sieben Gründen, und sie werden dich einfach auslachen.(34) Wer also wie Galilei auf der Vernunft aufbauen will, dürfe die Emotionen der Menschen (z. B. die Angst, die ewige Seligkeit zu verlieren (60) oder die Machtgier) nicht unberücksichtigt lassen. Galilei läst solche Argumente außer acht und muss darum scheitern.
Die Vernunft dringt auf Wahrheit; die Wahrheit, mit der die Naturwissenschaft sich befasst, aber ist die Wahrheit der Fakten; diese Fakten bleiben, was sie sind, auch wenn der Mensch sich nicht ihrer annimmt. Darum stellt sich die Frage, warum der Mensch sich für eine solche objektive, immer beweisbare Wahrheit einsetzen soll. Dass jemand für Glaubenswahrheiten einsteht, ist eher einsichtig, weil dieses Einstehen als Zeugnis für die nicht exakt zu beweisenden Wahrheiten genommen wird. Nun verlangt aber Galilei, dass man auch die naturwissenschaftlichen Wahrheiten nicht nur nicht verleugnen, sondern für sie einstehen soll, andernfalls sei man ein Verbrecher (81); und auf die Frage des kleinen Mönchs, ob diese Wahrheit sich nicht auch ohne uns durchsetze, antwortet er mit einem entschiedenen Nein (78). Es geht also Galilei an dieser Stelle nicht um die Tatsachen, etwa um die Wahrheit, dass sich Monde um den Jupiter drehen, sondern darum, dass die Vernunft, die Vernünftigkeit siegt, dass die Menschen endlich vernünftig denken lernen (79), dass sie, angeführt von den Vernünftigen, sich einüben in selbständiges Denken, grundsätzliches Zweifeln. Ihr als Lehrer solltet das Erschüttern besorgen (49), damit die Menschen sich fragen, ob nicht Zweifel gut sei und ob nicht verfochten werden sollte, was Gründe und Beweise für sich hat (‚Leben des Galilei’ 1. Fassung, 13. Szene), sie sollen kämpfen nicht ... nur für irgendwelche Gedanken, sondern für das Recht zu denken überhaupt (a.a.O.), das keine Ausnahme dulden kann, wenn es sich nicht selber aufheben will. Darum: Die Wissenschaft kann Menschen, die es versäumen, für die Vernunft einzutreten, nicht brauchen. Sie muss sie mit Schande davonjagen. Denn sie mag so viele Wahrheiten wie immer wissen, in einer Welt der Lüge hätte sie keinen Bestand. (a.a.O.)
Sind die Menschen zur Vernünftigkeit erzogen, haben sie die kritische Haltung gelernt und ist der blinde Glaube an die Dogmen der Autorität geschwunden, so werden die Menschen glücklicher leben, denn es liegt Glückseligkeit im Zweifeln (84); sie werden ungehindert ihrem Wissensdurst nachgeben können; sie sind nicht mehr beengt - die Kristallschalen der Planeten sind verschwunden aus ihrer Vorstellung -, sie sind befreit aus einer alten, starren Ordnung, in der sie nicht ihr eigner Herr sein konnten. Der neu entdeckten Weite des Himmels (72) entspricht die neue Weite ihres Denkens und ihres Lebensgefühls.
Doch wenn die alte Ordnung verlorengeht, jeder sein eigener Mittelpunkt ist, ohne Halt (10) durch eine scheinbar wohlgefügte Ordnung, so besteht - meint der Kardinal Inquisitor - die Gefahr der Haltlosigkeit. Wo das Zweifeln zum Prinzip wird, wo keine Autorität mehr gilt, da müsse jede Ordnung zerstört werden: Sollen wir die menschliche Gesellschaft auf den Zweifel begründen und nicht mehr auf den Glauben? ,Du bist mein Herr, aber ich zweifle, ob das gut ist’. ,Das ist dein Haus und deine Frau, aber ich zweifle, ob sie nicht mein sein sollen.’ (105) Der Kardinal Inquisitor unterschlägt, dass an die Stelle der Ordnung des Autoritätsglaubens die Ordnung der Vernunft treten kann: Wenn ich erkannt habe, dass es vernünftig ist, wenn dieser mein Herr und diese seine Frau und nicht die meine ist, dann werde ich diese Ordnung respektieren; wenn es unvernünftig ist, gibt es nichts zu respektieren.
Ähnlich wie der Großinquisitor scheint in der l0. Szene der Balladensänger zu argumentieren. Zunächst stellt er die alte Gesellschaftsordnung dar: Gott habe seit Ewigkeit und für alle Ewigkeit diese Ordnung geschaffen (regula aeternis; 95): die religiöse Ideologie zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bis ins 18. Jh.. Dann singt er von einer durch Galilei umgekehrten Welt: die Herrin dreht sich um die Dienstmagd, der Maurer zieht selber in das Haus ein, das er für den Bauherrn baut usw.: Wer wär nicht auch mal gern sein eigner Herr und Meister? (95ff.) Und er fordert Galilei auf, mit dieser Verkehrung der Verhältnisse Schluss zu machen; wie der Kardinal Inquisitor scheint also auch er die gesellschaftlichen Umwälzungen zu verurteilen. Doch hört man genau hin, bekommt man einen anderen Eindruck. Nach dem Satz Nehmt einem tollen Hund den Maulkorb ab, dann beißt er’ folgt sogleich die Einschränkung: Freilich, ‘s ist wahr: Spaß ist halt rar und muss ist muss (97); der Gehorsam wird ein Kreuz genannt, die alte Ordnung mit einem dicken Strick ums Genick verglichen, und schließlich heißt es: Und lernt vom guten Doktor Galuleh/Des Erdenglückes großes ABC. (97)Der Balladensänger spricht also so verschlüsselt, dass man nicht genau weiß, wie er es meint: eine gute Methode, die Obrigkeit zu hintergehen. Doch dieses verschlüsselte Sprechen hat auch einen dramaturgischen Sinn: Indem Brecht Unstimmiges, Widersprüchliches, Unvereinbares in dieser Szene zusammenstellt (Dialektik), indem er die Rede unbestimmt und offen lässt, zwingt er den Zuschauer, sich über das Gesagte seine eigenen Gedanken zu machen; er verfolgt also mit der Dialektik der Rede die gleiche Absicht wie mit dem Verfremdungseffekt.

7. Stunde
Über die Möglichkeit der neuen Wissenschaft, in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen
Während es dem Kardinal Inquisitor bei der Verteidigung der alten Ordnung im Grunde um die Verteidigung der Machtverhältnisse geht (l05f.) und er dabei den Adel ganz auf seiner Seite hat (89-91), sind einige Vertreter der Kirche, wenn sie sich gegen Galilei wenden, obwohl sie wissen, dass er die Wahrheit sagt, in ehrlicher Weise bemüht, durch die Aufrechterhaltung der alten Ordnung der Menschheit zu helfen. So argumentiert der kleine Mönch in der 8. Szene: Die Masse des Volks lebt in bedrängtesten Verhältnissen, und der einzige Trost dieser Armen ist das Bewusstsein, dass das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, forschend, ja beinahe angstvoll, dass das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können,(76) Das Leid erhält einen Sinn, wenn es, wie in der Bibel (z. B. Paulusbriefe, Bergpredigt) geschrieben ist, verstanden wird als Möglichkeit zur Bewährung und zum Verdienst: das Leid ist dazu da, dazu von Gott gegeben, dass sich der Mensch in ihm bewährt (Theodizee; Rechtfertigung Gottes in Bezug auf das Leid). Die Zeit dieses Erdenwandels ist die Zeit der Geduld und der Hoffnung, nicht der Hoffnung auf eine schnelle Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern der auf die Wiederkunft Christi. Würden sich aber die Menschen an den Rand des Weltalls gedrängt sehen, schaue Gott demnach nicht mehr auf sie, und wäre die Bibel als fehlerhaft erwiesen, so wüssten die Leidenden nicht mehr, wozu sie sich bewähren, sie fänden keinen Sinn mehr in ihrem Leid: Kein Sinn liegt in unserm Elend, Hunger ist eben Nichtgegessenhaben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst. (76) Ähnlich wie der Mönch argumentiert Bellarmin: Wir haben die Verantwortung für den Sinn solcher Vorgänge (das Leben besteht daraus), die wir nicht begreifen können, einem höheren Wesen zugeschoben, davon gesprochen, dass mit derlei gewisse Absichten verfolgt werden, dass dies alles einem großen Plan zufolge geschieht. Nicht als ob dadurch absolute Beruhigung eingetreten wäre, aber jetzt beschuldigen Sie dieses höchste Wesen, es sei sich im unklaren darüber, wie die Welt der Gestirne sich bewegt, worüber Sie sich im klaren sind. Ist das weise? (68)
Galilei nun hat eine andere Weisheit; auch ihm geht es um das soziale Problem: Es handelt sich nicht um die Planeten, sondern um die Campagnabauern.;77). Die Argumente, die der Mönch vorträgt, sind ihm nur ideologische Verbrämung einer rücksichtslosen Unterdrückung der Armen durch die herrschende Klasse ist, einer Klasse, die ihre Macht immer mehr erweitern will und darum sich sozial völlig fehlverhält: Ihre Campagnabauern bezahlen die Kriege, die der Stellvertreter des milden Jesus in Spanien und Deutschland führt. Warum stellt er die Erde in den Mittelpunkt des Universums? Damit der Stuhl Petri im Mittelpunkt der Erde stehen kann! (76f.) Wären die Argumentationen der Vertreter der Macht vernünftig, so brauchten sie Galilei nicht zu bestechen, damit dieser nicht durch seine Forschungen den Seelenfrieden (77) des Volks aufstört. Die Tugenden, die der kleine Mönch preist, die göttliche Geduld (79) der Unterdrückten, der Wille zur Unterwerfung, Fleiß, Sparsamkeit usw. lehnt Galilei als die Tugenden Erschöpfter (77) ab. Ihm wäre lieber, die Menschen hätten solche Tugenden nicht nötig, denn dann wäre ihre soziale Lage verbessert; und sie könnten die Tugenden der Wohlhabenden und des Glücks entwickeln (77). Und er will auf seine Weise beitragen, die Armen zu Wohlhabenden zu machen, indem er die Menschen in der Vernunft und im Zweifeln unterweist, so dass sie gegen die alte Ordnung aufstehen, indem er diese alte Ordnung als falsch entlarvt (der Himmel ist abgeschafft; 28 vgl.106) und indem er den Armen Maschinen baut, die ihre Lebensbedingungen verbessern.
Aber Galilei erreicht durch die Erfindung seiner Maschinen das Gegenteil von dem, was er erreichen möchte: Nicht wird das Herr-Knecht-Verhältnis abgeschafft, indem die Maschine den Knecht ersetzt und indem jeder, der früher Knecht war, nun seine eigenen Maschinen hat: ,sein eigner Herr und Meister’, sondern die Maschinen werden Eigentum nur der reichen Klasse, die mit Hilfe dieser Maschinen Kriege führen (24), ihren Reichtum vermehren (30f.) und die Armen noch mehr von sich abhängig machen kann. Hier trifft Brecht ein Stück historischer Wahrheit, da die Technik die Entwicklung des kapitalistischen Systems erheblich förderte. Wenn Brecht aber in Galilei Anlagen zum sozialen Revolutionär sehen will, so führt dies wieder vom Bild des historischen Galileis fort: Brecht projiziert seine eigenen Vorstellungen in Galilei hinein.
Doch Brechts Galilei betreibt dennoch nicht seine Wissenschaft nur aus einem sozialen Antrieb heraus; der eigentliche Antrieb seines Forschens ist die Neugierde, das Wissenmüssen (93), dann auch die Freude an der Klarheit und Geschlossenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Für ihn ist die Wissenschaft schön wie ein Gedicht, in dem Jedes genau an seiner ihm gemäßen Stelle steht und so zur Harmonie des Ganzen beiträgt. Wird nur eine Stelle verändert, so ist die Harmonie des Ganzen gestört (78; 110).
Galilei scheint also beides zu kennen: das Interesse an der Wissenschaft und das Interesse am Menschen, das soziale Interesse. Doch manchmal scheint das Interesse an der Wissenschaft das soziale Interesse zu überspielen. Zu einem ,guten Leben’ aber gehört nach B. Russel die Einheit beider Interessen: ,,Das gute Leben ist von Liebe beseelt und von Wissen geleitet.... Weder Liebe ohne Wissen noch Wissen ohne Liebe können ein gutes Leben bewirken. Wenn im Mittelalter in einem Land die Pest ausbrach, rieten heilige Männer dem Volke, sich in den Kirchen zu versammeln und um Rettung zu beten; das Ergebnis war, dass sich die Seuche unter den zusammengedrängten Massen der Beter mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitete. Das war ein Beispiel für Liebe ohne Wissen. Der letzte Krieg bot und ein Beispiel für Wissen ohne Liebe. In beiden Fällen war das Ergebnis der Tod ungezählter Menschen. Obwohl Liebe und Wissen notwendig sind, ist die Liebe in gewissem Sinne wesentlicher, da sie intelligente Menschen veranlassen wird, nach Wissen zu suchen, um zu erfahren, wie sie denen nützen können, die sie lieben. Unintelligente Menschen jedoch werden sich damit zufriedengeben, das zu glauben, was ihnen gesagt wurde, und so können sie trotz der reinsten Güte Schaden anrichten. Die Medizin bietet uns vielleicht das beste Beispiel für das, was ich meine. Ein tüchtiger Arzt ist für einen Kranken nützlicher als der beste Freund, und Fortschritte im medizinischem Wissen leisten mehr für die Gesundheit der Gemeinschaft als unwissende Philanthropie. Trotzdem ist sogar hier eine Spur von Güte nötig, wenn außer den Reichen auch noch andere von den wissenschaftlichen Entdeckungen Nutzen ziehen sollen.“

8. Stunde
Charakterisierung einzelner Personen und Personengruppen
Galilei, einmal durch wissenschaftliches, dann wieder durch soziales Interesse mehr bestimmt, so dass er als ein uneinheitlicher, widersprüchlicher Charakter erscheint, wirkt eben wegen dieser Widersprüchlichkeit seiner Haltung auf den Zuschauer wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und auch die übrigen Personen des Stücks sind ein Beweis, dass Brecht trotz des lehrhaften Charakters auch des ‘Galilei’ durchaus lebendige Gestalten auf die Bühne zu bringen vermag.
Lebendig erscheinen die Gestalten um Galilei vor allem dadurch, dass jede auf ihre eigene Weise Galilei zugetan ist: Andrea als Kind, das Galilei wie einen Vater verehrt, Virginia als Tochter, Frau Sarti als Frau, Sagredo als Freund, der kleine Mönch als der Lernende, Federzoni als der, der von Galilei erst eigentlich wahrhaft gewürdigt wird.
Für Andrea ist Galilei das große Vorbild, das ganz seinen Idealvorstellungen entspricht, denn wie Galilei ist er von der Wissenschaft besessen und bringt dieser Wissenschaft schon als kleiner Junge Opfer: er isst den Apfel nicht, weil er ihn als Demonstrationsstück braucht (20); er lässt seinen Rock als Pfand zurück, damit Galilei seine Linsen bekommt (21). Todunglücklich, weil seine Mutter so krank (56) ist, kann er doch ein wenig getröstet werden durch die Nachricht von den Phasen der Venus: so viel bedeutet ihm die Wissenschaft. Wie Galilei sieht er seine Aufgabe darin, seine Mitmenschen denken zu lehren, sie zur Vernünftigkeit, zur Kritikfähigkeit zu erziehen, sie zu befreien von Aberglaube und Vorurteilen (15. Szene); schon als Kind kommt er dieser Aufgabe nach. Weil aber Andrea Galilei so liebt, in ihm den Vater sieht, sich mit ihm so identifiziert, dass er ihn sogar äußerlich nachahmt (41), ist er auch furchtbar enttäuscht, als Galilei versagt; und ist er schließlich sogar bereit, eine neue Ethik zu finden, von der er glaubt, sie sei im Sinne Galileis, und nach der Galilei ihm wieder Vorbild wäre. So wird Andrea, weil er nach einer Rechtfertigung für Galileis Verhalten sucht, zum Vetter im Verrat (124).
Virginia, die Tochter, ist, wie Frau Sarti, fest verhaftet in den alten Bindungen; Galilei hat sich auch keine Mühe gegeben, sie zum vernünftigen Denken zu führen. Und so kann sie ihrem Vater nicht folgen. Doch sie liebt ihn und will ihn gerettet sehen, auf dem einzigen Weg, der für sie denkbar ist: Galilei soll wieder in die Reihen der Gläubigen (126) aufgenommen werden.Bedingungsloser als die Liebe der Tochter ist die Frau Sartis. Das Verhältnis zwischen ihr und Galilei ist von Brecht sehr verhalten dargestellt: als sie Galilei während der Pestgefahr nicht verlässt; als in ihrer großen Sorge um den Mann das ,Du’ aus ihr herausbricht (5. Szene); vor allem wenn sie, obwohl Galileis Wissenschaft für sie Torheit ist, doch zu ihm steht, ihn so nimmt, wie er ist, selbst wenn sie dafür ihre Seligkeit verliert (90): immer liebt sie Galilei mehr als ihr zeitliches und ewiges Heil.
Für Sagredo ist der Mensch Galilei von größerem Interesse als dessen Wissenschaft (39), und zwar der Mensch auch in seiner Schwäche. Andrea liebte in Galilei das Ideal, und so musste diese Liebe in Hass umschlagen, als Galilei ihm sein Ideal zerstörte. Die Liebe des Freundes ist verlässlicher: In Sagredos ,Ich liebe ... dich’ ist mit dem ‚dich’ der ganze Mensch gemeint. So stört sich Sagredo nicht an dem heuchlerischen Brief, den Galilei an den Großherzog von Florenz schreibt; ihn, der – wie der historische Sagredo - die machtpolitischen Verhältnisse klar durchschaut und mit großer Klugheit die Konsequenzen der Galileischen Lehre für die Kirche überschaut, treibt allein die Sorge um das Leben des Freundes.
Für die menschliche Schwäche Galileis, die Brecht Verbrechen nennt, hat der kleine Mönch das meiste Verständnis, denn auch er kennt diese Schwäche: Es sind nicht vornehmlich ethische Überlegungen, die ihn auf die Seite Galileis führen, nicht die Überlegungen, dass Galileis Ethik, die auf Veränderung der bisherigen Herrschaftsverhältnisse und Verbesserung der Lebensbedingungen durch die Wissenschaft zielt, besser sei als seine eigene, die die gegenwärtigen Zustände erhalten will, damit den Armen der Seelenfriede bewahrt bleibe; ihn treibt seine Leidenschaft für die Wissenschaft zu Galilei, auch er ist ein unglücklicher Fresser des Apfels vom Baum der Erkenntnis (79). Er ist es auch, der schließlich wieder in den Schoß der Kirche zurückkehrt (120). Und weil er solche Schwäche kennt, ist er als einziger nicht sicher, dass Galilei nicht widerruft: ,Ich sagte es nicht, aber ich war voll Sorge (112).
Wie Andrea hatte auch Federzoni sich ein Idealbild von Galilei gemacht und ist, als die Wirklichkeit sich anders zeigt als das Bild, das er sich gemacht hat, doppelt enttäuscht und darum verbittert. Wie Andrea hatte Federzoni allen Grund, Galilei zu vergöttern: Er, dem nicht die Chance gegeben war zu studieren, eben weil er ,nur’ Handwerker ist, der nicht mitreden darf, obwohl er wahrscheinlich ein klügerer Kopf ist als die halsstarrigen Philosophen und Theologen, wird von Galilei endlich in sein Recht eingesetzt: Die neue Wissenschaft braucht Leute wie ihn. Und wenn er sich zurückgesetzt fühlt, weil er nicht die Bildung seiner gelehrten Zeitgenossen besitzt, behandelt Galilei ihn mit einer ungemein taktvollen Rücksicht (45; 49f.; 83).
Geradezu taktlos ist Galilei oft im Umgang mit seinen Gegnern, und umso taktloser je törichter oder auch bösartiger sie ihm entgegentreten. Doch Brecht malt nicht undifferenziert schwarz-weiß, auch Galileis Gegner erscheinen, wie die Freunde, als lebendige Gestalten, d. h. sie sind nicht Vertreter des Bösen selbst, sind nicht willentlich, mit böser Absicht böse, sondern unaufgeklärt, töricht, ängstlich besorgt um ihr Ansehen und ihre Stellung. Böse freilich sind die Folgen, die sich für die menschliche Gemeinschaft aus ihrer Haltung ergeben. Der kleine Mönch ist ein extremes Beispiel dafür, wie man das Gute wollen und das Schlechte bewirken kann. Und auch die Kardinäle Bellarmin und Barberini, ebenso der ,Sehr alte Kardinal’ meinen es gut mit den Menschen; die Klügeren reden darum sogar vieles, von dem sie nicht überzeugt sind - und werden darüber zu Heuchlern, müssen Masken tragen (70). Andere meinen es vor allem gut mit sich selbst und kümmern sich nicht um das Wohl der anderen. Sie sind um ihre Autorität besorgt, und je ängstlicher, um so energischer: die Aristoteliker und die Machtpolitiker der Kirche (der Kardinal Inquisitor). Sehr wenig souverän, sehr ängstlich klammert sich auch der Adel an seine Machtposition und scheut kein Mittel, diese Stellung zu halten: weil die Vernunftgründe nicht auf seiner Seite sind, versucht er mit Brutalität, sich durchzusetzen. Hier siegt nicht die Vernunft, sondern die Gewalt. Ludovico ist der Vertreter solcher Gewalt, und da er nicht böswillig ist, sondern ,nur’ zur Macht erzogen, an sie gewöhnt (vgl. den Einfluss seiner Mutter) und zu töricht, zu oberflächlich, um die Egozentrik, die Beschränktheit seiner ihm angeborenen und anerzogenen Haltung sich bewusst zu machen, wirkt er nicht einmal unsympathisch. Die Menschen sind nun einmal - so sieht es Brecht - Produkt ihrer Umwelt, und wenn man sie geändert haben will, müssen zuerst die Verhältnisse, in denen sie leben, geändert werden.

9. Stunde
Charakterisierung Galileis
Galileis Eigenart wird am prägnantesten in einer Formulierung des Papstes gefasst: Er kennt mehr Genüsse als irgendein Mann, den ich getroffen habe. Er denkt aus Sinnlichkeit. Zu einem alten Wein oder einem neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen. (108) Merkwürdig an diesen Worten ist, dass das Denken auf einer Ebene steht mit den leiblichen Genüssen, dass jenes die gleiche Ursache hat wie diese: die Genusssucht, die Sucht, einen Trieb zu befriedigen, und zwar auf eine sehr kultivierte Weise: es muss der beste Wein sein (87; 102), und die Gegenstände seines Denkens müssen die gleiche schöne Klarheit, Geschlossenheit haben wie ein Gedicht des Horaz; Denken gehört dann zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse (35).
Eine solche Haltung wird von Brecht zunächst voll bejaht, denn der Mensch lebt gesund und glücklich, wenn er seinen Vergnügungen nachgehen kann; auch wird seine Aktivität erheblich gesteigert, wenn er mit dem gleichen Vergnügen forscht, mit dem er sich den ,Tröstungen des Fleisches (88) hingibt. Und die Worte, dass Wissen eine Leidenschaft sei und die Forschung eine Wollust (88), sind in keiner Weise negativ zu werten: Genießen ist eine Leistung (88), ist ein Wert.
Ein Wert ist auch das Zartgefühl, mit dem Galilei denen, die ihm lieb sind, begegnet. Wie taktvoll er Federzoni behandelt, ist oben dargestellt. Mit großer Sorge drängt er darauf, dass die Seinen die von der Pest befallene Stadt verlassen. Und als Andrea wieder in die Stadt zurückgelaufen ist und nicht zu seiner Mutter kann, die pestkrank ist, da wird Galilei von Mitgefühl gepeinigt und findet mit einer Sicherheit, die nur aus Herzensgüte kommen kann, die einzigen Worte, die ein wenig trösten könnten.
Doch dieses Zartgefühl ist eben ein G e f ü h 1, das dann vollkommen versagt, wenn es nicht vom Gegenüber angeregt wird. Und so kann ein solch sensibler Mensch auch so taktlos, grob und rücksichtslos sein wie Galilei zu seiner Tochter.
Es ergibt sich also, dass zum Menschen mehr gehört, als dass er seinen Trieben und Gefühlen folgt: Damit die menschliche Gesellschaft intakt bleibt, bedarf es des moralischen Imperativs, auf Grund dessen der Einzelne sein Tun den Erfordernissen der Gemeinschaft anpasst, der ihm befiehlt, seine Leidenschaften, seine Triebe zu zügeln dann, wenn sie der Gesellschaft schädlich werden können, bzw. so zu lenken, damit sie der Gesellschaft nützlich werden. Zur Leistung des Genießens muss die Leistung kommen, auf einen Genuss zu verzichten, wenn er schädlich zu werden droht. Wird diese Zügelung nicht geleistet, so wird die Leidenschaft zum Laster (79), der Mensch wird zum Sklave der Leidenschaften (92).
Hier nun versagt Galilei. Seine Genusssucht, die ihn eingangs so sympathisch macht, wo er prustend und fröhlich sich wäscht, fröhlich nicht nur, weil er die Morgenwäsche genießt, sondern auch, weil er es genießt, belehren zu können, diese Genusssucht macht ihn am Ende zum unglücklichen Fresser (79), der gleich gierig die Gans und das Wissen in sich hineinfrisst. Sie ist stärker als der moralische Imperativ, der verlangt, nicht nur für sein eigenes Wohl und das seiner Freunde zu sorgen, sondern auch für das der Gesellschaft, auch wenn sie ihm fernsteht.
Eine Frage, die bei Brecht wesentlich wird, schließt sich an diese Überlegung an: Wo liegt die Grenze zwischen dem Recht auf Genuss und den Forderungen der Moral. Denn Brecht scheint diese Forderungen nicht absolut zu setzen, er scheint nicht zu verurteilen, dass man gegen moralische Gesetze verstößt, wenn durch diesen Verstoß das Glück des Einzelnen gefördert und das der übrigen nicht geschädigt wird. Die Forderungen der Moral sind also für ihn nicht kategorisch, d. h. unbedingt gültig, allgemein verpflichtend. So auch im ‚Galilei’: Indem Galilei fälschlich das Fernrohr als seine Erfindung ausgibt, verdoppelt er sein Gehalt; der Republik Venedig nützt dies mehr als es ihr schadet: sie wird auf diese Weise angehalten, den großen Gelehrten gerecht zu bezahlen; und obwohl das Sittengesetz verletzt ist, entsteht in Brechts Stück der Eindruck, als sei dies eine vernünftige Tat gewesen. Diese ,Rückgratlosigkeit’, dieser Mangel an strenger moralischer Konsequenz erscheint auch dann noch gerechtfertigt, wenn er den Großherzog betrügt, indem er ihm einen unterwürfigen Brief schreibt. Ob die Grenze des Erlaubten nach Brechts Meinung schon überschritten ist, wenn Galilei den Wein trinkt, den ihm die Obrigkeit als Bestechung zugeschickt hat (77), und wenn er acht Jahre lang schweigt, also die Unterdrückung der Wahrheit duldet, wenn auch nicht direkt fördert, bleibt fraglich. Nicht mehr fraglich ist die Entscheidung Brechts, jedenfalls in der dritten Fassung des ,Galilei’, wenn Galilei aus Lebensgier die Wahrheit widerruft und so zum ‘sozialen Schädling’ wird: hier ist auch für Brecht die Grenze dessen, was ein einzelner für sein persönliches Glück tun darf, erreicht.

10. Stunde
Das Versagen Galileis
Das Fazit: Es genügt nicht, theoretisch Ideen zur Verbesserung der Welt darzulegen, sondern der Einzelne muss sich mit aller Entschiedenheit für die Verwirklichung solcher Ideen einsetzen.
Die moralische Forderung, der Galilei hätte folgen müssen, wird in der 14. Szene von ihm selbst in aller Klarheit herausgestellt. Galilei weiß also sehr genau, was er hätte tun sollen, und er hat es immer gewusst (vgl. oben). So gründet Andrea seine Überzeugung, Galilei werde nicht widerrufen, eben auf Worte Galileis, die er zitiert: Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher. (110) Denn wer die Wahrheit - so hat Galilei immer wieder gelehrt - eine Lüge nennt, der verwirrt die Köpfe der Leute, der gibt ihnen nicht, was ihnen zukommt: die Möglichkeit, richtig zu denken und somit überlieferte Machtansprüche auf ihre Verlogenheit hin zu durchschauen. Wer die Wahrheit eine Lüge nennt, ist somit ein sozialer Verbrecher, weil er dazu beiträgt, die bestehenden Verhältnisse, in denen das Volk beherrscht, ausgebeutet, gepeinigt wird, zu verfestigen. Wenn aber einer aufsteht und mit einem ,Nein’ diese Verlogenheit entlarvt, so hebt der Mensch den Kopf, der Gepeinigte, und sagt: ich kann leben. (112) Über die Wissenschaft sagt darum Galilei in seiner Selbstverurteilung: Wissen verschaffend über alles für alle, trachtet sie, Zweifler zu machen aus allen. (124) und: die Peiniger des Volks fühlten ... das kalte Auge der Wissenschaft auf ein tausendjähriges, aber künstliches Elend gerichtet, das deutlich beseitigt werden konnte, indem sie beseitigt wurden. (125)Nun glaubt aber Andrea, nachdem er erfahren hat, dass Galilei in der Gefangenschaft noch die Discorsi geschrieben hat, den Widerruf Galileis rechtfertigen zu können: Indem Galilei überlebt habe, habe er für die Wissenschaft und damit für die Gesellschaft weit mehr tun können, als wenn er als Märtyrer gestorben sei. Gerade er, der für den wissenschaftlichen Fortschritt viel tun kann, müsse überleben. Zwar sei Galilei schuldig geworden, weil er die Wahrheit eine Lüge genannt habe, aber er habe die Mechanik begründet und so den Bau der Maschinen ermöglicht, die allein die Erde so bewohnbar machen werden, dass der Himmel abgetragen werden kann. (123) Andrea fasst seine neue Ethik in dem Schlagwort zusammen: Besser befleckt als leer.(122) Galilei selbst ja habe gesagt: Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein.(123)
Doch Galilei kann eine solche Deutung seines Tuns nicht billigen; er hat lediglich aus Furcht vor körperlichen Schmerzen widerrufen. Wäre er seiner Einsicht gefolgt, so hätte er nicht widerrufen, denn er sieht die Aufgabe des Wissenschaftlers nicht darin erfüllt, dass er das Wissen, mit dessen Hilfe die Erde bewohnbar gemacht wird, bereitstellt. Auf diese Weise kann der Wissenschaftler sein einziges Ziel, das ,darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern (125), nicht erreichen, denn wenn er sein Wissen nur bereitstellt, muss er damit rechnen, dass es für die unterdrückten, armen und darum unwissenden Menschen verlorengeht und dass die Machthaber es ergreifen, um es zur Verfestigung ihrer Macht zu missbrauchen solange, bis die Machtkämpfe der Machthaber untereinander die Welt mit Hilfe der Erfindungen der Wissenschaft völlig zerstört haben. Die Wissenschaftler, die ihr Wissen nur bereitstellen und sich nicht darum kümmern, wer es braucht, werden, selbst wenn sie den Missbrauch nicht wollen, zu einem Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können (126). Der Wissenschaftler, dem es um das Wohl der Menschen geht, muss auch darauf achten, wozu sein Wissen verwendet wird, und da die Machthaber ohne sein Wissen nichts vermögen, ist er als einziger mächtig genug, den Machthabern entgegenzutreten, dafür einzustehen, dass sein Wissen einzig zum Wohle der Menschheit angewendet (126) wird. Wenn er zudem so populär ist, wie Galilei es war, so sei es aufgrund seiner Macht und seiner Einsicht seine Pflicht, das Volk zu einer Revolution zu führen. (Ob die Zeit Galileis zu einer Revolution reif war - was sehr zu bezweifeln ist - und ob Brecht tatsächlich an die Möglichkeit einer solchen Revolution geglaubt oder ob er die Geschichte umgedeutet hat, solche Fragen sind in diesem Zusammenhang zweitrangig, da es im Stück primär um die Verhältnisse u n s e r e s Jahrhunderts geht.)
Nach Galileis eigener Ansicht war ihm eine echte Chance gegeben, die Welt zu verändern; und er hat diese Chance vergeben, weil er kein Held war, weil er nicht den Mut hatte, etwas zu tun, das der menschlichen Gesellschaft genützt, das ihn aber gefährdet hätte. Kein Held zu sein in einer Zeit, die Helden dringend nötig hat, ist aber nach Ansicht Galileis u n d Brechts ein Verbrechen. Wie wenig Galilei ein Held war, wie wenig er sich selbst überwinden konnte und wie sehr er darum sich den Machthabern auslieferte, zeigt der Brief über den Aufstand der Seiler, in dem er gegen bessere Einsicht zum Sprachrohr der Obrigkeit wird (117).
Brecht hat sein Stück für unsere Zeit geschrieben als Appell an die geistige Elite, wie Helden für die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse einzustehen solange, bis diese Welt so bewohnbar geworden ist, dass sie keine Helden mehr nötig hat. Die Physiker des 2o. Jahrhunderts z. B. sollen nicht nur die Atomenergie erforschen, sondern mutig dafür einstehen, dass ihre Forschungen zu friedlichen und nicht zu kriegerischen Zwecken gebraucht werden.
Was für die Wissenschaft gilt, gilt auch für die Dichtung: Der Dichter darf nicht lediglich aus Freude am Kunstwerk schaffen, verlangt Brecht, sondern er muss mit seiner Dichtung Einfluss nehmen wollen auf die Welt, muss sie verändern, verbessern wollen. Der Dichter heute muss ein politisch engagierter Dichter sein.



Vortrag Galilei/Brecht "Von der Verantwortung ... / Leben des Galilei

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